Grenzenlos

Gastronomie ist seit jeher gelebte Integration, ein Kommen und Gehen, grenzüberschreitend, inspirierend – und wird es auch bleiben. Aus praktischen Gründen.

Text von Eva Rossmann · Illustration von André Sanchez

Vor Kurzem hatte ich einen Traum. Ich stand an unserem Herd, in der Pfanne ein Schnitzel. Es wurde immer kleiner und kleiner.

Der Traum hatte nichts mit dem Schrumpfungsprozess wässriger Industriefleischteile zu tun. Ich wurde auch nicht von einer Reaktion auf meinen neuen Roman über sozusagen eingefleischte Veganer heimgesucht. Es ging um uns. Um Österreich. Um Europa und um immer engere Grenzen. Alles scheint sich zusammenzuziehen. Nationales hat Aufwind und wenn das noch nicht klein genug ist, gibt es Regionales, Lokales und Wir-sind-Wir gegen den Rest der Welt.
Jetzt ist gegen regionale Küche natürlich nichts einzuwenden und ebenso wenig gegen Regionalstolz. Ich bin Weinviertlerin. Aber ich bin auch Österreicherin und Europäerin und eine auf dieser Welt. Die übrigens im universellen Zusammenhang ein absolut unbedeutender, kleiner, blaugrüner Planet ist. Zumindest wenn man Douglas Adams glaubt, der nicht nur Per Anhalter durch die Galaxis geschrieben hat, sondern auch Das Restaurant am Ende des Universums. Er sollte es also wissen. Und wir sind wieder beim Thema.

Auch ohne intergalaktischen Weitblick hat man in der Gastronomie schon immer grenzüberschreitend agiert. Aus praktischen Gründen. Die einen kommen von Anderswo und bringen ihre Küche mit. Die anderen brauchen Arbeitskräfte und sind froh, dass es welche gibt. Und wieder andere wollen mehr erleben, mehr sehen, mehr lernen, mehr verdienen und wandern daher in neue Länder aus.

Es war Anfang der Achtzigerjahre. Das erste China-Restaurant in Graz eröffnete zum Glück gleich um die Ecke bei meiner besten Freundin. Wir waren begeistert von dieser fremden Küche. Es dauerte nicht lange und ich durfte ein wenig mithelfen. Und zusehen. Ein Wok.

Damals aufregend. Die Gewürze. Der Duft Asiens. Hauchdünner Teig, natürlich handgemacht, tiefgefrorene Exotik gab es damals noch nicht. Und die Geschichte des Betreiber-Paares: Sie waren einige Jahre zuvor nach Österreich gekommen, um Musik zu studieren. Sie Geige, er Klavier. Sie schlossen ihr Studium ab und wollten nicht mehr zurück in eine Stadt in Südchina, deren Namen ich vergessen habe. Es soll eine Millionenstadt sein. Aber mit der Karriere als Profi-Musiker hat es auch nicht geklappt. Also haben sie ein Lokal eröffnet, wie weitläufige Verwandte, die schon länger eines in Salzburg hatten. Die Küche, so hat mir Tian gestanden, sei gar nicht so original. Man passe sich in gewissem Sinn an, entwickle sich weiter. Aber mehr noch: Wenn sie jetzt heimfahren, hätten sie Probleme mit gewissen traditionellen Speisen und Gewürzen. Mir war es exotisch genug und mein erster Einstieg in den Geschmack der Welt.

Fünfunddreißig Jahre später ist die Anzahl der Ethno-Lokale unüberschaubar, Chinesisches gilt als nahezu peinlich gewöhnlich. Und Migrationsgeschichten sind Alltag in der Küche. Sie waren es, lange bevor „Ausländisches“ auf der Speisekarte stand. Weil um Teller zu waschen, braucht man noch nicht einmal fließend die Landessprache zu können. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Geschichten von Auswanderern, die an der Abwasch begonnen haben, sind legendär. Was die USA betrifft, so geht in jüngerer Zeit allerdings auch das Gerücht um, man könne es leichter vom Millionär zum Tellerwäscher bringen als umgekehrt.
Unsere Jolanda wird wohl kaum Millionärin werden.

Ihre Wurzeln sind in Ecuador und immer, wenn wir im ­Februar Pause machen, fährt sie zu ihrer Familie. Sie hätte sicher auch andernorts einen Job bekommen, aber Buchinger hatte Glück und so kümmerte sie sich von Anbeginn der ­Alten Schule ums Geschirr. Und um vieles mehr. Weil sie ist auch zur Stelle, wenn es heiß hergeht und Julia nicht nur Vorspeisen anrichten, sondern auch unseren legendären Weinviertler Gupf in der Pfanne backen sollte. Jolanda weiß, wie das geht. Und sie macht Chips. Und sie paniert. Sie macht Apfel­kren und sie hat Gäste auf die Zimmer gebracht, und wenn es sein soll, dann wischt sie auch den Boden und kontrolliert die WCs. Ab und zu erzählt sie Geschichten aus ihrer Heimat. Etwa dass man dort Meerschweinchen mag. Als Delikatesse. Ihre Mutter hat ihr zu einem Geburtstag getrocknetes Meerschweinchen geschickt. Ihre Kinder haben es ausgepackt und das ekelhafte Ding sofort weggeworfen. Sie sind hier geboren, Meerschweinchen sind für sie zum Streicheln, nicht zum Essen da.

Sicher hat sie auch Leo gezeigt, wo welche Teller stehen und wie Kartoffel, hauchdünn heruntergeschnitten, im Fett knusprig werden. Leo war Jungkoch bei uns. Jetzt ist er in Arosa und leitet das À-la-carte-Restaurant eines Fünf-Sterne-Hotels. Neugierig und fleißig war er damals schon, aber ansonsten eben noch … sehr jung. So stolz war er auf das Cabrio, so zerstört (wenn auch nicht derart wie sein Auto) war er, nachdem er sich damit überschlagen hatte. In der Schweiz, hat er mir vor Kurzem erzählt, sei ihm der Knopf aufgegangen. Jetzt kreiert er im La Vetta Menüserien, die doch weit über unser Weinviertel hinausgehen. Unter der Überschrift „Kräuter“ ist da zu lesen: „Bretonischer Hummer – Ananas auf Salz gebacken – Bergminze – Passe Pierre – Aroser Jogurt – Quinoa“. UNSER Leo. Naja, eben auch unser Leo. Schade, dass er nicht zurückkommen möchte. Wir könnten ihn brauchen.

Aber dass Köche (seltener Köchinnen, das hat mit den immer noch vorhandenen Rollenzuschreibungen zu tun und ändert sich hoffentlich bald) durch die Welt ziehen, ist schon gut. Buchinger erzählt, dass Anfang der Siebzigerjahre eine ganze Partie Inder ins neue Wiener Luxushotel InterContinental gekommen ist, lustige Burschen im Service, an denen ihn als Jungkoch am meisten verblüffte, dass sie keine Unterhosen anhatten. Dafür konnten sie Englisch, was damals die wenigsten österreichischen Kellner konnten. Sing war in der Küche, ein exzellenter Koch, mit elegantem Bärtchen und Gehabe. Irgendwann sind sie weitergezogen, einer nach dem anderen. Nach Kanada, in indische Lokale. Aber dann kamen ohnehin schon die Perser. Im Iran war Revolution und von InterConti zu InterConti wurden Arbeitskräfte geschickt. Viele Perser hätten leitende Positionen übernommen, sie waren bestens ausgebildet, konnten mehrere Sprachen. Einen von ihnen hat er zehn Jahre später in New York getroffen, zufällig. Er war Zuckerbäcker im legendären Steakhouse Smith  &  Wollensky. Nicht weit von dort, im InterContinental, arbeitete Dagmar Woodward als Resident-Managerin. Und sie hat wiederum gemeinsam mit Liesl Wagner-Bacher in Bad Reichenhall die Hotel­fachschule besucht. Begonnen hatte sie nach einem abgebrochenen Schauspielstudium in London als Hostess. Dann war sie F&B-Direktorin im Pariser Meurice und schließlich hat sie es bis zum ersten weiblichen General Manager der Hotelgruppe gebracht.

Buchingers eigene Erlebnisse bei der Hoteleröffnung in Taschkent oder seine Österreich-Wochen im Privatklub des damals reichsten Mannes der Welt in Japan sind legendär. In Jokohama hatte er es mit einer Kochtruppe zu tun, die, anders als angenommen, weder Englisch noch Französisch sprach. Aber offenbar kommen klassische kulinarische Befehlsstrukturen auch ohne Worte aus. Nur ergänzt durch ein bissl einheimischen Schmäh. Jeden Tag in der Früh hat er ihnen „Servaas“ zugerufen. Das klingt verblüffend ähnlich wie ihr eigener Gruß. Und es hat gute Stimmung gemacht.

Segi-San hat der Koch geheißen, der Jahre davor in Wien gestrandet ist. Staunend haben die Einheimischen seine Stäbchen bewundert. Er war Judoka und auch sonst bereit, bis zum Umfallen zu kämpfen. Hatte sein besonderer Einsatz wirklich damit zu tun, dass „die Japaner“ eben so sind? Handelt es sich also um einen generellen Kulturunterschied? Buchinger glaubt daran, ich bezweifle es eher. Natürlich prägen Erziehung und Umgebung. Aber letztlich meine ich, dass Menschen höchst verschieden sind. Nicht nur hier in Österreich, sondern auch anderswo. Ansonsten wäre auch er nicht als junger Weinviertler aufs Schiff gegangen. Wo doch bei uns erzählt wird, dass alle aus Obersdorf am liebsten so sehr daheim bleiben, dass sie wieder Obersdorferinnen heiraten. Buchinger hat seine Holländerin Renske geheiratet. Und er hat auf der Royal Caribbean angeheuert.

Wo man ihm gleich zu Beginn zu verstehen gab: „You know, on this ship is black beautiful.“ Die meisten der Besatzung waren schwarz. Der junge Mann aus Österreich war Ausländer. Minderheit. Er hat gearbeitet und Freunde gefunden, von denen er bis heute erzählt.

Wer selbst nicht wegmöchte oder -kann, der erlebt Grenzüberschreitendes eben anders. Zum Beispiel an der Spülmaschine. Wo Türken und ehemalige Jugoslawen darum stritten, die besseren Österreicher zu sein.

Lukas Resetarits und sein Tschuschen-Sketch lassen grüßen. Jedenfalls waren sie keine Domestiken der Kochbrigarde. Das sollte einer probieren.
Im Enzian in Zürs haben in den letzten Jahren Männer aus dem ehemaligen Ostdeutschland den Abwasch übernommen. Auch in den Küchen und im Service der Hotels und Restaurants am Arlberg gibt es zahlreiche Deutsche, die meist nur aus gewissen Bundesländern kommen. „Wir sind die neuen Jugos“, hat einer zu mir gesagt und gegrinst. Sein Kollege hat an der Bar gerne „Bierchen“ und „Weinchen“ ausgeschenkt und wurde dafür gefrotzelt.
Bei uns sind Maria und Karel im Service. Er ein tschechischer Routinier mit mehr als fünfundzwanzig Jahren Berufserfahrung in Österreich. Sie eine Slowakin mit höherer Tourismus­ausbildung und angefangenem Deutschstudium. In einem Tatort hat sie außerdem eine Leiche gespielt. Ein Glücksfall, und gar nicht deswegen.

Bei allen Reibereien: In unseren Hotels und Gasthäusern, in den Restaurants und Schnellimbissbuden wird Internationalität gelebt. Ob aus Begeisterung oder aus Notwendigkeit ist zweitrangig. Wichtig ist, dass die Welt offen bleibt, für uns und für andere. In letzter Zeit sind einige wunderbare syrische Lokale entstanden, Köche und Hilfskräfte aus Syrien, dem Irak, aus Afghanistan bekommen bei uns hoffentlich neue Chancen. Und wir haben die Chance, von ihnen Neues zu lernen. Küchen haben gesellschaftspolitische Einflüsse, davon sind Food-Experten überzeugt. Die arabische Tradition im Umgang mit Kräutern und Gemüsen kann uns nur guttun. Und sie passt auch noch bestens zum Trend, weniger Fleisch zu essen. Wer jetzt sagt, „Jessas! So ausländisches Zeug brauch ma wirklich net!“, den werde ich einfach in einigen Jahren danach fragen. Da hält er neue Gerichte wahrscheinlich für echt einheimisch. So wie es dem Wiener Schnitzel ergangen sein soll, das der Legende nach von der Cotoletta Milanese abstammt. Was übrigens inzwischen widerlegt ist. Aus Österreich dürfte es trotzdem nicht sein. Man vermutet byzan­tinische Wurzeln. Es gibt Belege aus dem 12.  Jahrhundert, nach denen es in Konstantinopel in Teig gehülltes und anschließend in Fett ausgebackenes Fleisch gegeben hat. Wem die Erklärung nicht passt, dass ausgerechnet Istanbul die Wiege unseres Nationalgerichtes sein soll, der kann ja selbst eine erfinden. Letztlich ist es egal.

Oder wir nehmen darauf einen Pangalaktischen Donnergurgler, den Drink, der Per Anhalter durch die Galaxis zufolge alle irdischen Grenzen sprengt: „Die Wirkung ist so, als werde einem mit einem riesigen Goldbarren, der in Zitronenscheiben gehüllt ist, das Gehirn aus dem Kopf gedroschen.“ Na gut. Da trinke ich vielleicht doch lieber einen Weinviertel DAC. Darf auch sein.

Eva Rossmann
Gut, aber tot
Gebunden, 271 S., € 22,–
ISBN 978-3-85256-698-6
Eva Rossmann war Journalistin, ehe sie mit den Mira-Valensky-Krimis zur Bestsellerautorin wurde. Daneben arbeitet sie als Köchin in Manfred Buchingers Gasthaus
Zur Alten Schule.