Im Anfang war kein Wasserstoff
Kosmologisch unterspickter Abriss über die Küche unserer Zeit unter besonderer Berücksichtigung des orangen Planeten
Im Anfang war kein Wasserstoff
Text von Werner Meisinger Fotos: Manfred Klimek, beigestellt
Es war finster auf der Erde, und wir wissen auch warum. Der Himmel hing voller Schnitzel, Schweinskoteletts und doppelt gefüllter Schinkentoasts mit Ananasscheiben darin und Kompottkirschen darauf, und aus unzähligen Fonduetöpfen und Fritteusen stiegen Schwaden Richtung Stratosphäre, wo sie naturgemäß recht milchig hängen blieben. Da fiel kein Sonnenstrahl mehr durch, um Mutter Erde zu erhellen. Himmelstrübung à la Kometeneinschlag anno 65 Millionen vor unserer Zeit.
Den Sauriern war es dieses Mal schon egal. Auch stimmte der schnitzelverhangene Himmel keinen Menschen traurig. Mangels weiter reichender Perspektive vermissten die Menschen nichts. Bauernschmaus war Bauernschmaus und hatte groß zu sein. An ein "Potpourri-vom-Huberbauern-seinem-Prachtschwein" und souffliertes Sauerkraut war noch nicht zu denken. So finster war es damals.
In diese Zeit, die von einer seltsam widersprüchlichen Lebenshaltung aus Konsumfreudigkeit und posttraumatischer Sparsamkeit, aus Weltinteresse und Fremdenangst geprägt war, wurde das "Tantris" nicht hineingeboren, sondern hinein-gestellt. Es existierte kein Millieu, aus dem es sich natürlich herausentwickeln hätte können. Im Kosmos der Ernährungsmöglichkeiten schwebte kein Staub aus kulinarischen Fantasien, aus dem es sich verdichten hätte können. Auch wollte sich mit dem "Tantris" kein visionärer Koch eine Werk-statt oder Bühne schaffen. Der Urheber des "Tantris" war Ingenieur und Unternehmer, allerdings mit Gedankenüber-schuss und anspruchsvollem Appetit.
Das neue Restaurant war schon fertig gedacht und fertig gezeichnet (auf der Prioritätenliste ganz weit oben: ausreichend Parkplätze), bevor man sich der Personalie widmete. Gesucht wurde ein erstklassiger Koch, was im Deutschland dieser Zeit ein spannendes Projekt war. Fritz Eichbauer, der Unternehmer, besprach den Fall mit den klügsten Köpfen seiner Zeit und reiste nach Amerika, um einen gut beleumundeten, aber unbekannten Eckart Witzigmann einzufangen, der über den großen Teich zu entkommen drohte.
Dass er mit Witzigmann keinen Koch, sondern – zusätzlich zu dem geflügelten Löwen, Nashorn und Stier, die aus Beton gegossen schon vor dem "Tantris" hockten – ein viertes Fabeltier an Land gezogen hatte, sollte erst die Zukunft weisen. Es erwies sich ein paar Jahre später, als man endlich empfänglich wurde für den Zauber, den Witzigmann verbreitete, in und über dem Objekt sowie urbi et orbi. Es wurde Licht, nicht nur im "Tantris".
Mit Witzigmann begann eine gloriose Geschichte. Mit ihm entwickelte sich München zu einer Welthauptstadt der großen Küche. Mit Witzigmann und dem "Tantris" kam ein Prozess in Gang, der auf die Erneuerung der kulinarischen Kultur auch in Österreich den größten Einfluss hatte. Bei Witzigmann waren sie praktisch alle. Die, die zu jung sind, um bei Witzigmann gewesen zu sein, waren jedenfalls im "Tantris". Dort kochten auch nach Witzigmann keine Leichtgewichte, nämlich Michelin-Sterne-Weltmeister Heinz Winkler und Hans Haas.
Am 2. Dezember werden es 35 Jahre, dass das "Tantris" erstmals seine Pforten öffnete, es heißt in diesem Fall, die Drehtür angeworfen wurde. Im losen Zusammenhang damit wurde Ende des letzten Jahres eine kunstgeschichtlich wertvolle Generalrestaurierung abgeschlossen. Die Wand- und Deckenteppiche erstrahlen in alter Farbenpracht, die Kugelleuchten und Kunststoffteile glänzen speckschwartengleich wie in ihrer ersten Stunde. Stilistisch geändert hat man so gut wie nichts an einem puren Seventies-Ambiente, und das ist gut so auf einem sicheren Weg zum Denkmalschutz.
Man kann sagen, das "Tantris" stand am Anfang der Küche unserer Zeit. Witzigmann hatte sich in Frankreich gebildet und war von Paul Haeberlin in der "Auberge de l’Ill" maßgeblich geprägt worden. Er französelte naturgemäß und reproduzierte, wie das nach ihm so viele so genannte Spitzenköche taten. Er fand im Gegensatz zur großen Herde bald zu einer eigenen, regionsbezogenen Linie, wie es nur noch wenigen anderen wahren Meistern glückte. Witzigmann war der erste Popstar unter den Köchen im deutschsprachigen Raum und zeigte augenfällig einen Weg, wie man als Koch aus einer trüben Anonymität ins warme Licht des Startums wechseln und einen Beitrag zur Entwicklung der kulinarischen Kultur Europas leisten konnte.
Blättert man in der Dokumentation "25 Jahre Tantris", wird der französische Einfluss auf die frühen Jahre augenfällig. Als Spezialitäten der Cuisine wurden "Lammtopf aus der Provence mit jungem frischen Gemüse" oder "Poulet sautiert mit Paprikacremesauce Maxim’s" ausgelobt. Das war nicht weniger als gewagt! Lamm hatte noch den Gout des Exotischen, Gemüse war verdächtig wegen des geringen Nährwerts, das Huhn war ohne Grillspieß fast nicht denkbar und das Maxim’s im Gefühl des gemeinen Münchners fast so weit entfernt wie Pluto, der gewesene Planet.
Der Start des "Tantris" gestaltete sich demgemäß verhalten. Erst als sich nach Jahren des dürftigen Geschäftsgangs ein paar Grundbotschaften im Bewusstsein einer Klientel aus Suchenden und Liebenden gefestigt hatten (in Phase 2 der Missionierung waren es mehrheitlich Jagende und Inhaber von Spesenkonten), verdichtete sich der Gästezuspruch. Man liest es heute gern, weil es unserer Bildung schmeichelt: In den Jahren der Aufklärung mussten viele Gäste erst zu der Erkenntnis geleitet werden, dass Wein die potenziell günstigere Begleitung zum Essen ist als Bier und/oder Cola. Es durfte sich auch der Koch nicht schrecken, wenn sein Bries als ein zu weiches Fleisch zurückgewiesen wurde. Wenn damals einer wusste, wie man unfallfrei ein Glas dreht, war er Chef im Ring. Das Tutorium gelang vorzüglich, und mit dem "Tantris" gelangte Deutschland auf die Landkarte für Gourmets.
Genug der Reminiszenzen. Witzigmann kocht heute in der Zeitschrift Feinschmecker und fungiert als Berater, woran wir uns nur indirekt
delektieren können. Winkler residiert in Aschau, worüber hierorts bereits berichtet wurde (A la Carte, Nr. 1/2006). Das "Tantris" wird kulinarisch seit 15 Jahren von Hans Haas geprägt. Er verwaltet das große Erbe, wie im Folgenden geschrieben steht, sehr gut. Wenn ich ausführlicher werden soll, kann ich von einer Séance zu drei Menüs berichten. Meiner kleinen Würdigung eines runden Fünfzigers (35 Jahre "Tantris" plus 15 Jahre Haas im "Tantris"; dem Marketinghecht des Hauses taxfrei zugeeignet).
Für das Raumerlebnis ist es im "Tantris" ein wenig ungünstig, wenn man sich in einem quäkerartig nüchternen Zustand befindet und nach Details Ausschau hält, deren Beschreibung einen Text verlängern könnten. Man glotzt dann unwürdig herum und sieht eine Vielzahl an Besonderheiten, die hier – weil wir ja irgendwann zu den Speisen und Getränken kommen wollen und den Text nicht auf billige Weise verlängern wollen – nicht beschrieben werden sollen. Der bunte Zierrat und die zitronengelben Orchideen, das vielgestaltige, aber immer gewölbte Leuchtenwerk, die bemerkenswerte Anatomie der Ebenen, aus denen seltsam dimensionierte Säulen wachsen – jedes Detail für sich gesehen liefert keine nennenswerte Information. Es geht ums Ganze wie bei der Betrachtung des Sternenhimmels. Im Verlauf der Weinkulturpflege entwickelt sich das Verhalten des zuvor noch zu nüchternen und zu eifrigen Besuchers vorteilhaft.
Seine Rezeption wird an den Klingelberger Spätlesen, den Blauen Silvaner Kabinetten und den Frühburgundern menschenadäquater, denn es widerspricht der Bestimmung des sapiens gastronomicus, in Restaurants herumzublicken wie ein Sperber. Um im zoologischen Vergleich zu bleiben: Er soll sich mehr verhalten wie die Seekuh, die ihre Unterwasserwiesen in einem Zustand von robuster Leichtigkeit beweidet und sich dabei (vermutlich, es ist ja noch nicht genau erforscht) wenig Gedanken macht. Im Zustand solcher Seekuh verbindet sich das Steile und Grelle des "Tantris", die Farbenkraft unter Lichtreflexen, die voluminösen Formen und filigranen Accessoirs zu einem animierenden Eindrucksteppich, auf die Art der kosmischen Hintergrundstrahlung, nur nicht als Rauschen, sondern optisch und ein wenig jünger vom Entstehungszeitraum.
Klingelberger Spätlese kam zu einem ersten Amuse-Gueule aus Forellenterrine und Tatar mit Meerrettichgelee und Kartoffelchip. Man könnte es als bayrische Ouvertüre verstehen, jedoch hat "das Bayrische" einen festen Unterton, der diesem Häppchen völlig abging. Ich habe mir schon früher erlaubt, über "Idealkonsistenz" am Beispiel einer gebratenen Gänseleber zu referieren und dabei angemerkt, dass es nur die Meister mit großem Sensorium und mindestens tausend Kilo Gänseleberbraterfahrung so hinkriegen, dass der Stoff homogen gar gezogen ist und schmelzend-weich, keinesfalls aber geschmolzen oder patzig im Kern oder krustig an der Peripherie. Diese Forderung nach formhaltender Flaumigkeit gilt auch für Gelee und Mus. Im "Tantris" ist zu besichtigen, wie es sich gehört.
Es folgte eine weitere Lockerungsübung in Form eines sanft gar gezogenen Fragments vom Rotbarbenfilet auf gelber Tomate ohne besondere Behandlung. Eine solche war für die Tomate insofern entbehrlich, als auch Bayern einen hat wie unseren Dr. Stekovics, der von Natur aus herzergreifenden Paradeisern auf die Welt hilft. (Ochsenherz-Paradeiser macht er auch, die kamen aber später.).
Mit dem ersten regulären Gang geriet ich in die engere Obhut von Frau Paula Bosch. Sie gilt als bedeutende Sommelière und verschaffte mir die Bekanntschaft überwiegend deutscher Weine. Nicht weitschweifig, wie es in Häusern mit redseligen Kellnern und wenig Gästen sehr gern gehandhabt wird, dafür fürsorglich im Stil einer routinierten Amme, die sie in gewisser Hinsicht ja auch ist. Über den 99er-Schaumwein vom Mo¨et geleitete sie mich zum Klingelberger vulgo Riesling, womit auch ein Zweierlei an Kalbskopf in Verbindung stand. Der eine Teil war in ein hauchdünnes Ciabattablatt eingeschlagen und ohne Konsistenzverlust gebraten, der andere als dünne Scheiben angerichtet, lauwarm gemacht und mit einer Melange aus weichen Tomatenstücken, Olivenöl und Basilikum begossen. Das war ein Saft von köstlich balanciertem Süße-Säure-Spiel, haftend auf den Lippen und am Gaumen, kongenial die Labbrigkeit und Morbidität des Kalbskopfs ergänzend. Natürlich lässt sich einwenden, dass die Kombination von Tomaten, Basilikum und Olivenöl schon anderswo gesehen wurde und auch die tropfenweise Gabe eines leuchtendgrünen Basilikumöls keine Erfindung des Hans Haas sein dürften, was aber die Güte des Geschmacks in keiner Weise mindert.
Hin und wieder finde ich es ganz passend, bei Gipfelexpeditionen wie diesem "Tantris"-Ausflug irgend etwas nicht ganz so toll zu finden. Es hebt mein Selbstbewusstsein in dem Sinn, dass ich mich nicht als Fan betrachten muss, sondern mit der Würde des kritikfähigen Reporters in den Spiegel schauen kann. Ich sehe vor mir (auf dem Teller, nicht im Spiegel) den Kalbskopf in seinem Ciabattahauch und denke mir: Wozu Ciabatta, wo es doch die Panier ("das Bröselkleid" auf gut Gourmetisch) gibt? Derart geringschätzig gestimmt, verdrückte ich den falschen Hasen von einem gebackenen Kalbskopf mit Vorbehalten und blieb noch mehrere Sekunden bei der Meinung, dass sich Kalbskopf nicht so gehört. Erst beim letzten Rest des fälschlich als Klingelberger benannten Rieslings einigte ich mich auf das Urteil, dass Kalbskopf auch auf diese Weise zu den größeren Leckereien zählt, und widmete mich kritikbereit dem nächsten Gang. Es wäre daran eventuell zu kritisieren gewesen, dass der Lachs mit Nussbutter und Lauchpüree im Verhältnis zu seinem Delikatessgehalt ein wenig klein war. Von dem mit ein paar krossen Bröseln garnierten und auf ein saftiges Natur-geschmackspüree gebetteten, nicht nur im Kern glasigen, sondern viel mehr durch und durch glasigen Lachs meinte ich, durchaus mehr vertragen zu können, ganz vergessend, dass in manchen Häusern der gehobenen Gastronomie noch der schöne Brauch der Steigerung gepflegt wird. Steigerung in der mehrfachen Hinsicht auf: Geschmacksintensität und Temperaturen, Festigkeit der Genussmittel, Nachhaltigkeit der Geschmäcker, nicht zuletzt der Starkweintauglichkeit. Folgerichtig folgte auf den lauwarmen Weichlachs und sein beruhigendes Püree ein mittelwarmer, fester Langustinenschwanz auf kühlen Avocados und vitaler Chili-Koriander-Marinade. Dazu hatte Frau Bosch einen Silvaner eingepflegt, der als Blauer oder Roter bezeichnet wurde, aber definitiv ein Gelber war. Er steckte in einer verdächtig anmutenden Bocksbeutelflasche und diese steckte Frau Bosch in einen Silbertopf mit Eis für gestoppte zehn Minuten Marinierzeit. Dann war er gut, der Silvaner, und recht mollig, wie man es zu Langustinen mit Avocados und zu einem Steinbutt mit Spinat und Curry mag. Der Steinbutt kam nämlich als nächstes und zwar mit geschmacklicher Präsenz von hohen Graden. Curry am Spinat kann man empfehlen, wenn er so wie bei Haas als Hauch von einem leicht geschäumten Fond und somit homöopathisch appliziert ist.
Ich empfehle auch gern, die Gänselebern wieder mehr zu sieden. Es ist diese Zubereitung ein wenig unmodern geworden, denn der gemeine Koch von heute neigt ja zur Vereinfachung seiner Produktion. Er würde die Gerätschaft seiner Küche am liebsten auf 1 Stück Schere (zum Aufschneiden von Vakuumverpackungen, in denen bratfertige Filets sind) und 1 Stück Pfanne (in der man alles "auf der Haut" brät) reduzieren und alles nur noch braten, weil das nach gewisser Eingewöhnungszeit ein jeder halbwegs hinkriegt. Das gilt natürlich nicht für solche Häuser wie das "Tantris", doch schon im gastronomischen Mittelstand ist die Tendenz evident. Gedämpftes? Seltenheitswert. Pochiertes? Rarität. Poëliertes? Ausgestorben. Also hier pochierte Gänseleber. Zuletzt hatte ich sie bei Rudolf Kellner selig im "Altwienerhof" selig angetroffen. Es war nur prinzipiell das Gleiche. Bei Kellner – im Rahmen eines seiner berühmten (heute darf man auch sagen: berüchtigten) Escoffier-Menüs – ward ein monströses Geschwür von Gänseleber in den Saal gewuchtet und in daumendicken Scheiben den Gästen zugeteilt (die zuvor ein im Ganzen gebratenes Steinbuttmonster zu vernichten hatten).
Im "Tantris" gibt man sich zeitgemäßer, indem die Scheibchen zwar auch fingerdick, aber doch viel kleiner sind; man kriegt auch zwei davon, wenn man bis dahin so anstellig gegessen hat wie ich an diesem Abend. Paula Bosch fiel zur pochierten Leber eine Laumersheimer Mandelberg Riesling Spätlese trocken vom Knipser-Johannishof in der Pfalz ein, was insofern viel klüger war als die zur Gänseleber üblichen süßen Lesen, als sich diese Leber mittels der Zwetschken und trotz der Honig-Banyuls-Sauce als durchaus pikant erwies.
Nach diesen stimmungsvollen Präludien waren wir auch schon beim Hauptgang, einem Rehfilet mit Perlpilz und Spitzkraut und viel Wacholder nebst einem Frühburgunder aus dem Frankenland. Das kann man unkommentiert so stehen lassen, wie
zumeist die Hauptgerichte wenig kommentierbar sind. Fleischkonsistenz: weich & saftig.
Saucendichte: hoch. Beilagengarpunkt: perfekt. Geschmacksharmonie: bewährt. Die Begegnung mit Neuigkeiten aus dem unerschöpflichen Reservoir der kulinarischen Fantasie wird dem Gast in großen Häusern gern mit den Vorspeisen und Fischgerichten geboten, das Hauptgericht ist
zumeist als sicherer Rastplatz konzipiert, auf dem sich der Rotwein gut verdrücken lässt. So war es auch an diesem Abend.
Der Abend klang aus mit einer evolutionär gelungenen Mutation von Cremeschnitte, die man als Kakaohippe mit weißer Schokolade-Amaretto-Mousse bezeichnete, wozu es Cappuccino-Eis gab. Frau Bosch hätte mir gern Süßwein appliziert, wovon wir aber sehr diszipliniert Abstand nahmen. Wegen der Nachtzeit und dem, was noch kommen sollte.
Die Küche im "Tantris" ist übrigens in Maxim’s-Paprikasaucen-Orange gefliest, vom Boden bis zur Decke. Das wirkt belebend, zumal auf einen, der so etwas nicht gewohnt ist. Die 14 Köche des "Tantris" und Hans Haas sehen es nicht mehr. Im Steuerstand eines Raumschiffs für 120 Reisende gilt ihre Aufmerksamkeit anderen Fragen als der Ästhetik ihres Umfelds. Zum Beispiel, wie sie gleichzeitig 50 Gerichte plus ein wenig Fingerfood für die Bar über den Tresen schupfen können und an einem guten Abend ein wenig mehr als tausend Teller. Bei aller Logik, von der die Küche des Hans Haas geprägt ist, sind seine Gerichte doch komplex. Am Pass stehen gut 15 Säfte, Saucen und Essenzen für die Endfertigung der Teller, beschriftet als "Kruste", "Pernod", "Räucher" oder erkennbar an ihren Farben wie "Tomate" oder "Kräuteröl". Es wird hier auch in die Tiefe hineingekocht, indem ganze Tiere im Kühlhaus hängen, womit auch aufwändige Gerichte aus anderen als den so genannten Edelteilen auf der Agenda stehen. Marmeladen und Säfte werden selbst eingekocht und angesetzt, und gewisse Reserven liegen stets bereit für Gäste, die mit speziellen Vorstellungen ins "Tantris" kommen und sich recht wenig um das Angebot der Karte kümmern. Einmal Rundumschlag von den Innereien? Dem Herrn kann mit Kalbsnieren, Gänseleber auf drei Arten, Beuschel und einem Stück Taubenbrust geholfen werden (Letztere, weil sie farblich so gut passt). Vom Schwein? Hat man stets was eingebraten.
Ich nahm davon im Rahmen einer kleinen Mittagskräftigung, und zwar in Form von Ferkelschulter, -keule und -kotelett. Das Kotelett kam souffliert mit einem würzigen Schäumchen, dessen Basis nicht etwa Käse war, sondern Schweinsschwarte in pulverisiertem Zustand. Die Schulter war mürb wie feinster Tafelspitz, nur viel saftiger. Die Keule mit einer Krustel versehen, das allein für sich schon den Status einer großen Küche begründen könnte. (Es wird daran auch aktiv gearbeitet, wechselweise im Backofen und unter dem Salamander, bis es so feinsplitternd ist und kross, wie man sich das in Bayerns sehr wahrscheinlich bestem Gasthaus vorstellt.) Zur Dreifaltigkeit vom Schwein gab es zwei kleine Blunzenknödel mit reichlich Majoran und einen leichten Saft mit reichlich Petersilie sowie reichlich Spitzkraut. Ein paar Dalken mit Heidelbeerragout und Sauerrahmeis verstärkten gegen halb vier einen Anklang von einem Gefühl des Sattseins, zumal vor dem Schwein die Flusskrebse (aus Bayern, daher große Krebse) und die Forelle aus Bayern (daher Forelle mit keinen schlankeren als daumendicken Filets) meinen Zuspruch hatten; die Forelle war gedämpft und mit einem sommerfrischen Apfel-Selleriegemüse und Holunderblütenfond aromatisch aufgeladen, die Krebse mit Kopfsalat und Melonenmarinade sinnvoll kombiniert.
Übrigens ist Beuschel mit Räucheraal eine gute Idee, wenn man, wie Hans Haas, Premium-Aal aus Bayern hat – ganz fein geräuchert, saftig und zart von der Struktur; man macht ihn lauwarm und legt ihn statt des Knödels auf ein vital-säuerlich abgeschmecktes Beuschel.
So spachtelte ich mich durch diesen Mittag, freudvoll, doch nicht ganz fehlerfrei. Frau Bosch wies darauf hin. Es war nicht so, dass ich den Rebholz-Riesling aus der Pfalz ausgeschlagen oder den vollgrasigen Sauvignon aus Südafrika ausgelassen oder gar den schönen Crozes-Hermitage als unwürdig dem Schwein erachtet hätte – ich war nur ein wenig versonnen und daher langsam. Da trat Frau Bosch an meinen Tisch und spendete mir ein neues Wort, für das ich herzlich danke. Sie sagte angesichts eines zur indizierten Zeit noch nicht geleerten Glases: "Entweder bin ich zu schnell, oder sie sind in TRINKVERZUG." Weil aber Frau Bosch nach 15 Jahren "Tantris" die Bewegungen in diesem kleinen Universum nebst allen Epizyklen verinnerlicht hat wie Kopernikus den Lauf der Sterne, ist sie niemals zu schnell, ganz selten zu langsam und mit ihren Säften fast immer punktgenau zur Stelle. Ich hatte also Trinkverzug, was ich fortan vermeiden wollte.
Abends bot sich Gelegenheit zur Übung. Riesling, Riesling, Weißer Burgunder, Lerner, Lemberger, Syrah; Mosel-Saar-Ruwer, Rheingau, Baden, Südtirol, Württemberg, Toledo. Sämtliche ohne Trinkverzug. Zur überwiegend deutschen Tour de Vin leistete Hans Haas eine kontrastierende Speisenbegleitung und brachte das Diner mit einem kleinen Beef Tatar auf butterweich und blondbraun geschmorten großen Zwiebelringen auf den Weg. Das war nicht weniger delikat als die folgende Gänselebermousse in einer Espressotasse mit einem fein-herben Gelee von sehr vermutlich Zwetschken. Und es war das mit Radieschen angereicherte Tatar nicht weniger hübsch anzusehen als die Garnelenschwänze mit marinierten Artischocken und Auberginen. Wie, Haas, bringt er solchen Geschmack in die Auberginen? So mollig und dicht und ein wenig nach Senf schmeckend und süß und säuerlich von einem unbekannten Essig oder Fond, mit einem Nachhall wie, na ja, man soll sich nicht versteigen, wie eben perfekt marinierte Auberginen.
Die Frage blieb ungeklärt, weil eine Ablenkung in Form von Sepioline mit lauwarmem Eidotter und Sauce Mignonette aufgetragen wurde. Man kann sich vorstellen, wie ein wabbelweicher Eidotter in einem Stück von einer Sepiatube sitzt und wie das schmeckt. Man stellt sich dann vor, es müsste noch etwas Feinwürziges ran, das die Geschmackspapillen animiert und ein wenig aufregt, wie ein Hauch von weißem Pfeffer oder ein feiner Spray von Champagneressig. Das ist die Sauce Mignonette, die aus Schalotten, Essig und weißem Pfeffer gefertigt wird und, à la Hans Haas, als feinstes Würzgewebe auch so robuste Ingredienzen wie fast rohes Ei und Sepia gut verträglich macht.
Ich vertrug dann auch den lauwarmen Thunfisch mit Couscous und Rucolafond ganz tadellos. "Meisterlich" steht bei diesem Gericht in meinem Notizblock. Und zwar in Großbuchstaben, weil ich schon wieder kritisch war sowie bei Frau Bosch in besten Händen (vielleicht auch zu ambitioniert am Wein in Sorge vor erneutem Trinkverzug). "Meisterlich" ist natürlich albern. "Zu Ende gedacht" wäre besser gewesen. So, sehr geehrtes Publikum, muss nämlich Thunfisch tatsächlich zubereitet werden: Nicht links und rechts anbraten, sodass er im Kern noch glasig bleibt. Denn dann ist jedenfalls alles andere als der Kern durchgebraten, was den Thunfisch beschädigt. Hans Haas legt den hitzeunverträglichen Fisch mit jeder Seite nur nicht mehr als einen Augenblick in die heiße Pfanne und schiebt ihn sodann in ein auf 70 °C aufgeheiztes Backrohr. Das Filet wird warm bei gleichzeitiger Bewahrung einer optimalen Saftigkeit, es behält seine frische Farbe und wäre allein für sich ein Leckerbissen. Man kann es freilich noch am schmalen Rand in Schnittlauch wälzen und auf buttrigen Couscous mit Zitronen- und/oder Orangenschalen legen und mit einem Hauch von Marinade versehen, damit es noch mehr Freude macht.
Ochsenschwanz-Ravioli wurden sodann zum Beweis dafür serviert, dass Neapel die südlichste Stadt Bayerns ist (die Ravioli kamen mit einem Jus mit elegantem Räucherselchton und knackig gebratenem Steinpilz). Geräucherte Taubenbrust mit gebratener Gänseleber und Trüffelsaft wurde sodann als Beleg dafür gegeben, dass dem "Tantris" bei aller Freude an seinen Ochsenschwänzen, Aalen, Schweinen und Forellen kein Luxus fremd ist. "Groß" steht in Großbuchstaben in meinen Notizen, die auch danach nicht mehr besser wurden.
Mascarponesoufflé mit Himbeeren und Nektarinen und Schluss mit köstlich.
Warum das "Tantris" um einen Michelin-Stern zu wenig hat? Nicht ausreichend italienisch, sagt einer, der es wissen könnte. Was sagt man dazu?