Im Zeichen der Schlange

Die Hawker-Kultur, Singapurs Streetfood, wurde kürzlich zum UNESCO-Welterbe ernannt. Eine junge Generation „Hawkerpreneurs“ versucht, die traditionellen Essstände in die neue Zeit zu führen.

Text von Christian Grünwald/Foto © Singapore Tourism Board

Schlangen sind allgegenwärtig im südostasiatischen Stadtstaat. Die Schlange gibt Auskunft über die Beliebtheit und Qualität des jeweiligen Angebots. Bei den besten Hawker-Ständen stand man ­immer schon Schlange, geduldig und ohne Drängeln und Schubsen. Man ist ja nicht bei einer österreichischen Liftstation.

Schlange steht man in den Hawker-Centres, das sind große Hallen mit aneinander aufgefädelten Essständen, den Stalls. Einige sind ­überdacht, manche sind zum Teil auch open-air. Es ist Streetfood in bestens organisierter Form. Je nach Tageszeit isst hier ganz Singapur: Familien, Manager, Arbeiter und Touristen. Selbstbedienung ist obligat, die Preise sind, verglichen mit jenen in Restaurants, sehr niedrig.

Jeder Stand hat eine Handvoll besonderer Spezialitäten, etwa gebratene Reisnudeln, scharfe Chili-Krabben, einen Innereieneintopf oder Huhn mit Reis. Das Angebot ist multikulturell wie der Stadtstaat.

Manche Anbieter sind für das eine oder andere Gericht so populär, dass die Warteschlange vor ihrem Stand besonders viel Geduld erfordert. Eine bis eineinhalb Stunden wartet man etwa bei Tian Tian im Maxwell Food Centre auf eine Portion Hainanese Chicken Rice. Das Gericht ist ein Everybody’s Darling in Singapur, vermag aber euro­päische Gaumen nicht auf Anhieb zu faszinieren. Das pochierte Hühnerfleisch ist zart, saftig, weich und im Geschmack eher langweilig. Das soll aber so sein. Kenner meinen, dass der mit Hühnerfett und Suppe angereicherte Reis die eigentliche Attraktion ist. Ohne Chili- und dunkle Sojasauce geht es jedenfalls nicht.

Die Singapurer behaupten, dass man die Qualität des Essens an der Länge der Warteschlangen ablesen kann. Manchmal ist die Schlange an den Hawker-Ständen so lang, dass es recht unterhaltsam wird. Man lernt die Leute vor und hinter sich kennen. Und man hofft, dass die Smartphone-Batterie nicht aufgibt.

Auch Hawker haben Sterne. Singapurs Hawker-Kultur reicht bis in die 1800er-Jahre zurück, als in der florierenden Handelsmetropole Zuwanderer aus China, Indien und Malaysia ihre Esstraditionen in Form von günstigem Streetfood weiter pflegten. Ursprünglich geschah das mittels Karren am Straßenrand. Jeder mobile Küchenstand suchte sich auf der Straße den besten Ort für sein Geschäft.

In den frühen 1970er-Jahren versuchte man, den über die Jahrzehnte entstandenen Wildwuchs der Straßenstände neu zu organisieren. Die Hawker-Zentren umfassen fünfzig bis oft sogar knapp ­dreihundert fixe Essensstände. Gemeinsame Tische und Sitzgelegenheiten sollen sie nicht nur angebotsmäßig besser präsentieren, sondern auch für gute hygienische Bedingungen sorgen. Die Stände sind in der kleinsten Form drei mal drei Meter groß und mit Wasser, Abflüssen, Gas, Strom, Fettabscheidern und Belüftung ausgestattet.

Die wilde Straßen-Romantik früherer Zeiten ist also behördlich unterbunden, sie hat mittlerweile selbst in Städten wie Bangkok ein schweres Leben.

Etwa 6.000 Hawkers gibt es heute in ­Singapur, die Zentren sind all-gegen­wärtig und im ganzen Stadtstaat verstreut. Beinahe schon Ikonen sind das Old Airport Road Food Centre, der Tiong Bahru Market und das Newton Food Centre.

Als der Guide Michelin 2016 zum ersten Mal eine Singapur-Ausgabe präsentierte, machte dies weltweit Schlagzeilen, weil zwei Streetfood-Adressen mit einem Stern auszeichnet wurden: Hawker Chan (damals hieß der Stand noch recht sperrig Liao Fan Hong Kong Soya Sauce Chicken Rice & Noodle) und Hill Street Tai Hwa Pork Noodle. Die beiden Stände besitzen ihren Stern auch noch heute. Wie wichtig die Hawker für Singapurs Alltagskulinarik sind, zeigt die Tatsache, dass etwa die Hälfte der Einträge in der Bib Gourmand-Liste kostengünstige Hawker-Stände sind.

Angeblich bildete sich kurz nach der ersten Sternvergabe bei Hawker Chan eine Schlange mit sechs Stunden Wartezeit. Alle wollten eine Portion Soya Sauce Chicken Rice für drei Singapur-Dollar (etwa zwei Euro). Im Wesentlichen handelt es sich um ein ganzes Huhn, das in einem Fond aus reichlich Sojasauce (helle und dunkle Sorten), Zucker, Rosenwein, Stern­anis und anderen Gewürzen geschmort wird. Der Umami-Kick der am Ende betörend glänzenden süß-salzigen Sauce ist so gewaltig, dass der Gaumen nach einer Portion reflex­artig „bitte mehr“ sagt.

Spitzenküche ab 1,50 Euro. Ende 2020 wurde die singapurische Hawker-Kultur in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit der UNESCO aufgenommen.

Die Hawker-Kultur ist nun also vom Status gleichauf mit dem Yoga in Indien und dem Tango in Argentinien. In Österreich sind unter anderen der Montafoner Dialekt, der Ausseer Fasching, die Wiener Heurigenkultur sowie die Lipizzanerzucht Kulturerbe. Alle sechs Jahre muss ein Bericht über Zustand und Entwicklung der Hawker-Kultur bei der UNESCO abgegeben werden, sonst droht der Kulturerbestatus wieder verloren zu gehen.

Die größte Sorge gilt dem Hawker-Nachwuchs. Die meisten Stände werden von älteren Eigen­tümerfamilien, oft schon in der zweiten oder dritten Generation, geführt. Der Arbeitsalltag ist hart, zwölf Stunden und mehr lang und verspricht nicht immer ein Vermögen. Nine to five funktioniert nicht, und viele junge Nachfolger versuchen es daher lieber mit einer anderen Branche oder gleich mit einem Bürojob.

Im Konkurrenzkampf der einzelnen Stände ist die Kalkulation beinhart. Die meisten Gerichte kosten ab zwei Singapur-Dollar (knapp 1,50 Euro) aufwärts. Im Schnitt haben die Rohstoffkosten mit 59 Prozent den größten Kostenanteil bei einem Gericht. Er­höhte Lebensmittelpreise schlagen da direkt durch und führen bei den kostenbewussten Singapurer Essern gleich zur Abwanderung zu einem anderen Anbieter. So verdient ein Standbetreiber pro Gericht oft nur zehn bis zwanzig Cent.

Gelebtes kulturelles Küchenerbe. Speziell in den älteren Food-Centern ohne Klimatisierung steht die von ­Küchendampf, Gewürzen und anderen Rohstoffen geschwängerte Luft. Das betäubend scharfe Chiliöl aus den Woks mancher Stände hängt wie Reizgas in den Gängen.

Jeder Stand hat seine eigene Geschichte, seine ganz speziellen Rezepte. Im Ganzen gebratene Enten und Hühner sind allgegenwärtig, Sandwiches mit selbst gemachten Würsten, Kutteln oder Schweinsfüßen als Einlage. Ein quirliger Food-Porn mit einer Vielzahl von Currys, Satay-Sticks, Nudeln oder Froschschenkel-Congee.

Da gibt es Austernomeletts mit geheimer Gewürzmischung und unvergleichlichem Finish beim Braten für die besondere Fluffigkeit. Da werden Fischbällchen noch ohne Mehl, dafür ausschließlich aus dem Fleisch von Gelbschwanzmakrelen und selbst gemachten Sambal-Pasten geformt und dann frittiert. Aus pürierten Rüben und Bambussprossen entstehen die bunten Kueh, süße Straßensnacks früherer Generationen, die nun wieder an manchen Ständen in Mode kommen.

Weltberühmt ist Singapur für die Chilikraben. Die in reichlich würziger Sauce servierten Krustentiere sind wegen der mittlerweile hohen Preise für Krabben ein Gericht für bessere Tage, das man wegen der großen Gefahr von Flecken auf der Kleidung mit Schürze oder Umhang zelebriert.

Mit einem Gericht allein reüssieren nur noch die wenigsten Standbesitzer. Der Trend geht zu sogenannten Bento-Sets, also kleinen Menüs mit Reis und Fisch oder Fleisch, den allgegenwärtigen weich gekochten Eiern sowie etwas Gemüse und Obst.

Viele Rezepturen werden von Generation zu ­Generation weitergegeben. Die besten Hawker sind keine ausgebildeten Köche, aber die Gerichte, die sie jeden Tag zubereiten, beherrschen sie wie niemand sonst auf der Welt. Jeder besitzt ein enormes Detail-Know-how für seine althergebrachte Spe­zialität. Gelebtes Handwerk als kulturelles Erbe. Es braucht aber auch neue Kreationen, um im Hawker-Angebot erfolgreich hervorzustechen. So wie etwa Debbie Yam, die gemeinsam mit ihrem Cousin Kamen Tang als vierte Generation im Tang Kay Kee Fish Head Bee Hoon am Hong Lim Market die Nachfolge ihrer Großeltern antritt. Die beiden gelten als junges Vorzeigepaar für zeitgemäße Hawker-Küche. Die hier immer schon servierten Hor Fun-­Nudeln erhalten neuerdings mit ­Enoki-Pilzen oder Onsen-Eiern einen frischen Pep, der die tägliche Warteschlange deutlich verlängert hat. ­Besonders populär ist das moderne Tze Char-Bowl-Konzept mit starker Salat-Gemüse-Orientierung.

Ob die studierte Betriebswissenschafterin tatsächlich für den Rest ­ihres Lebens den Familienstand ­betreibt, weiß sie selbst noch nicht mit Sicherheit: „Der Alltag ist brutal, wir kochen nicht vor, machen alles frisch im Wok, jede andere Methode würden die Großeltern ablehnen. Das bedeutet Stress pur und jede Menge kleine Verbrennungen an den Händen.“

Corona killt die Streetfood-Romantik. Covid-19 hat das Hawker-Business nicht einfacher gemacht. Immer wieder blieb die Stammklientel in partiellen Lockdowns gezwungenermaßen daheim. Die für das Geschäft so wichtigen ausländischen Besucher sind seit dem Pandemiebeginn selten geworden.

Zwar verordnete die Regierung den Händlern eine einmonatige Mietbefreiung, Geschäftseinbrüche um bis zu fünfzig Prozent konnten aber auch damit nicht abgefedert werden.

Während jüngere Unternehmer mit Delivery-Plattformen wie GrabFood und Foodpanda kooperieren, hat die Mehrheit der älteren und weniger technikaffinen Hawkers Schwierigkeiten mit den neuen Geschäftsformen. Um Onlineverkäufe und E-Payment-Lösungen zu forcieren, riefen Singapurs Behörden sogar das „Hawkers Go Digital“-Programm samt eigenen Prämienanreizen und Zuzahlungen ins Leben – tatkräftige Denkmalpflege für ein kulinarisches Denkmal.

Der Insel-Stadtstaat hat die Pandemie vergleichsweise gut bewältigt. Ende Jänner 2021 verbuchte die Statistik rund 60.000 Infektionen und 29 Todesfälle bei rund 5,7 Millionen Einwohnern. Dafür ist man hier auch an der digitalen Leine. Jeder hat im Smartphone die Safe-Entry- und Trace-Together-Apps der Regierung oder alternativ einen Trace-Together-Token für die Registrierung an den Eingängen zu Geschäften, Food Halls und anderen öffentlichen Gebäuden. Masken trägt man in der Öffentlichkeit überall und ohne Ausnahme. Seit Covid-19 ist in Restaurants nach 22.30 Uhr kein Alkohol mehr erhältlich.

Derzeit ist noch fraglich, ob sich die unvergleichliche betriebsame Atmosphäre mit Unmengen von Gerüchen, Farben und Lärm eines klassischen Hawker Stall in den nächsten Jahren wieder so einstellt – oder ob Abstandhalten und Masketragen alles verändern.

Chinatown Complex Food Centre
Das alte Marktgebäude am Rande von Chinatown beherbergt im Erdgeschoß ­einen Wet Market und jede Menge Kitsch-Stände. Die rund 260 Essstände sind im Obergeschoß untergebracht. Im unübersichtlichen Labyrinth aus Gängen und ­Verbindungsräumen findet man auch Liao Fan (auch als Hawker Chan bekannt). Der Stand wurde als erster Hawker überhaupt mit einem Michelin-Stern für sein Soya Sauce Chicken ausgezeichnet. Ab drei Singapur-Dollar für eine Portion ist man dabei. Bis zu einer Stunde Wartezeit muss man auch bei Lian He Ben Ji Claypot rechnen. Dafür bekommt man großartige im Tontopf gegarte Reisgerichte. Perfekte Nudelgerichte und Dim Sum gibt es bei Zhong Guo La Mian Xiao Long Bao.
335 Smith Street

Newton Food Centre
In diesem kitschig-bunten wie chaotischen Hawker-Center landet man als ­Tourist allein schon wegen der zentralen Lage fast unweigerlich. Die Preise sind ­einen Tick höher als anderswo, und auch die Anzahl der für ein Lokal werbenden Schlepper ist hier deutlich höher. Wer im Flieger nach Singapur vielleicht den Film Crazy Rich Asians gesehen hat, hat dann hier ein Aha-Erlebnis.
500 Clemenceau Avenue North

Old Airport Road Food Centre
Das zweistöckige Gebäude auf dem ­Gelände des früheren Flughafens ist das älteste und größte Hawker-Center. Bei den Einheimischen sehr beliebt wegen niedriger Preise und enormer Angebotsvielfalt. Wer beispielsweise Froschschenkel mit Congee sucht, ist hier absolut richtig. Wo die Warteschlangen am längsten sind, gibt es das beste Essen.
51 Old Airport Road

Maxwell Food Centre
Viele kommen wegen dem Hainan Chicken Rice von Ah Tai oder Tian Tian hierher. Das Huhn wird pochiert, bis es gerade gar ist, dann in ein Eisbad gelegt, um den Saft des Huhns einzuschließen, während der Reis in Hühnersuppe mit Hühnerfett und Pandanblatt gekocht wird. Wo der Chicken Rice, eines der Nationalgerichte Singapurs, besser ist, kann man im direkten Vergleich entscheiden. Hawker Wong Liang Tai hat über 20 Jahre lang als Koch im berühmten Tian Tian Chicken Rice (nur ein paar Stände weiter) gearbeitet, ehe er sein Ah Tai ­eröffnete.
1 Kadayanallur Street

Yishun Park Hawker Centre
Ein modernes Hawker-Center. Entbehrt zwar jeder Wildromantik, offeriert dafür jede Menge toller Essstände. Ganz oben auf der Beliebtheitsskala ist Ah Tah Wings mit den wohl besten Har Cheong Gai in Singapur – megaknusprigen Hühnerflügeln mit einem Teig aus fermentierter Shrimps­paste.
51 Yishun Avenue 11

Changi Village Hawker Centre
Ziemlich weit vom Stadtzentrum entfernt, schon am Weg Richtung Flughafen, gibt es hier neben dem üblichen Angebot die besten Stände für Nasi Lemak (Kokosnussreis mit Gurken, Eiern, Erdnüssen und frittiertem Fisch oder Huhn).
2 Changi Village Road

East Coast Lagoon Food Village
Das im East Coast Park gelegene Hawker-Center liegt direkt am Strand und ist allein schon deswegen ungemein beliebt. Besondere Anspieltipps sind hier die Satay-Spieße von den Open-Air-Grillstationen.
1220 East Coast Park