Innereien-Lust

Alles nur eine Frage der Einstellung, findet Der Autor und überwindet erst sich selbst und danach seine Abneigung gegen Innereien.

Text von Thomas Glavinic Fotos von Ingo Pertramer

7. Oktober 2013
Ich stehe mit schwerem Kopf in der Küche des Gut Purbach und schneide einen Hoden auf. Ich habe Derartiges noch nie zuvor getan, und dass ich es jetzt tue, vom Hohngelächter meines Freundes Ingo Pertramer begleitet, liegt einzig an Thomas Maurer. Maurer ist schuld. Maurer war schon oft schuld, aber so schuld wie diesmal war er noch nie. Es ist zehn Uhr vormittags, und ich hole den Wildsauhoden aus seinem Beutel und stelle mir vor, es sei nicht der Hoden der Wildsau, sondern der von Thomas Maurer.

Irgendwann im Jahr 2009:
Ich bin bei Thomas Maurer zum Essen geladen. In Erwartung eines gigantischen Festessens hungere ich vorher tagelang, denn seine Kochkünste werden gerühmt. Seine Weinkennerschaft wird ebenfalls gerühmt, er tischt sagenhafte Weine auf, weshalb ich über seine Kochkünste nicht viel sagen kann. Ich weiß, das Essen war immer gut, doch währenddessen wurde mein Gehirn, speziell jener Bereich, in dem das Erinnerungsvermögen beheimatet ist, mit schweren Rotweinen attackiert, und so bin ich sehr neugierig, wie das Essen heute wohl sein wird.

Zunächst gibt es mal gar nichts, denn der Mann ist ein totaler Chaot. Mit nur mehrstündiger Verspätung bittet Maurer seine Gäste zu Tisch, und ich stelle fest: Der Unhold hat uns eine Kalbsbrieslasagne mit Stein-pilzen vorgesetzt.

Jetzt werden die meisten von Ihnen mit der Zunge schnalzen, oh, ah, eine Kalbsbrieslasagne, mhm, wie wunderbar, und dazu Steinpilze, ein Gaumenschmaus, doch mir kommen diese Worte nicht über die Lippen, denn: Ich hasse Überbackenes. Ich verabscheue Pilze. Und. Ich. Esse. Keine. Innereien.

Ein Dreifachtreffer, ich nicke fassungslos über meinem Teller, betrachte mit Entsetzen, was darauf geschaufelt wird, und esse sogar aus Höflichkeit ein wenig davon, doch als sich in mir das totale Grauen regt (bald), lege ich die Gabel zur Seite, mache die nächste Flasche Wein auf und bestelle mir eine Pizza.

Anfang September 2013:
Thomas Maurer ruft an. Er könne seine November-Geschichte für das A la Carte-Magazin aus Termingründen nicht fertig stellen, ob ich für ihn einspringe. Ja, sicher, sage ich, worum geht’s denn? Scheinheilig erklärt er mir, ich würde daran meine helle Freude haben, es handle sich um die Verkostung bei einem Spezialitätenrestaurant. Um welche Spezialitäten es sich handelt, verschweigt er. Ich sage zu.

6. Oktober 2013:
Mit einem Freund, dem Fotografen Ingo Pertramer, der mich sogar schon in den Wallfahrtsort Medjugorje begleitet hat und den nichts erschüttern kann außer dauerbetende Fundamentalisten, mache ich bei den Eselböcks in Schützen Halt. Der Taubenkobel, respektive die Greißlerei, ist neben Sepp Schellhorns Seehof für mich das, was meinem Lebenstraum, einem Haus am Meer mit angeschlossener Fischkneipe, am nächsten kommt, obwohl kein Meer weit und breit zu sehen ist. Ingo war gerade bei einem lukullischen Kinderfest und kann nichts essen. Ich kann, ich esse viel, ich esse auf Vorrat, denn mittlerweile weiß ich, worauf ich mich eingelassen habe. Das Gut Purbach ist ein Innereienspezialitätenrestaurant, und Ingo Pertramer wiehert vor Lachen, er knipst mich sogar in dem Moment, in dem er mir die Nachricht überbringt. Ich sitze blass in der Greißlerei, stopfe Torte um Torte in mich hinein und höre Walter Eselböck und Ingo zu, die über Fleischkonsum fachsimpeln. Ingo vertritt mit Nachdruck die Meinung, dass man, wenn man schon ein Tier schlachtet, auch das ganze Tier essen soll, nicht nur das Filet. Ich denke darüber nach, dass man, wenn man Thomas Maurer schlachtet, ebenfalls den ganzen Thomas Maurer verwenden sollte, und male mir aus, wie es wäre, in den internationalen Organhandel einzusteigen und den genialen österreichischen Kabarettisten stückweise in alle Welt zu verschicken.

6. Oktober 2013, abends:
Wir treffen in Purbach ein und werden von Max Stiegl, dem Chef des Restaurants, mit angenehm gelassener Freundlichkeit empfangen. Die Innereienverkostung ist erst für den nächsten Tag angesetzt, heute Abend sollen offenbar Weine verkostet werden, denn er setzt sich zu uns und lässt drei Flaschen Wein bringen. Ich wollte eigentlich nichts trinken, doch die Weine sind sensationell gut, und dementsprechend entwickelt sich der Abend. Wir kommen ins Reden. Ingo und ich erfahren, dass in den nächsten Wochen im Ort ein Sautanz stattfinden wird, und ich freue mich, weil ich dieses wunderschöne Wort noch nie gehört habe. Ein Sautanz! Vor meinem geistigen Auge erscheinen große tanzende Säue, im Hintergrund sieht man Lagerfeuer und Menschen mit Sensen und Bierflaschen.

Wir zählen bereits Flasche Nummer vier, als wir uns, warum auch immer, mit vier Grazien am Nebentisch in angeregter Plauderei wiederfinden, und bei Flasche Nummer fünf sitzen zumindest zwei von ihnen an unserem Tisch. Noch ist die sechste Flasche nicht geöffnet, da beginnt eine von ihnen zu singen. Ich glaube, sie singt Ave Maria. Ich versuche sie anzuzünden, aber entweder brennt die Frau einfach nicht, oder Ingo bläst immer die Flamme aus. Dazwischen klärt mich Max über die Feinheiten der Innereienküche auf, und mein Widerwille weicht allmählich einer gewissen interessierten Skepsis. Ich halte es für möglich, den kommenden Tag zu überleben. Der Mensch scheint tatsächlich zu wissen, was er tut, er wirft nicht einfach Innereien in einen Topf und rührt um, der denkt wirklich dabei.

7. Oktober 2013, morgens:
Ich stehe da, Hoden und Messer in der Hand, und frage mich, ob das alles real ist. Der ruhig erläuternde Max neben mir, der feixend fotografierende Ingo vor mir, das, was ich in der Hand habe. Der aus dem Sack quellende Hoden Thomas Mau der Wildsau. Die Tür zum Innenhof steht offen, es ist kühl, und bei dem Hoden handelt es sich nicht um das erste Stück Innerei des Tages, das ich essen werde. Vor wenigen Minuten habe ich rohes Herz gegessen, rohes Herz in Chiliöl, und sonderbarerweise hat es hervorragend geschmeckt. Ich bin überrascht. Die Innerei tut mir gar nichts. Sie ist nicht böse. Wobei dieses Herz für mich ideal geeignet war: Ich mag kein Fett. Als Kind wurde mir von meinen Eltern erzählt, Elvis Presley sei an Herzverfettung gestorben, und das hier verzehrte Herz war eindeutig nicht das von Elvis Presley. Jedenfalls: Das Herz schmeckte, natürlich vor allem wegen der sensationellen Marinade.

Mit Marinade geht es weiter. Während ein Kuheuter in einem großen Topf mit Wasser kocht und ein Rehhirn in Milch gart, brät Max Hühnermägen und -herzen an und fügt die nächste sensationelle Marinade hinzu. Wenn mir jemand vor ein paar Tagen gesagt hätte, ich würde bald Hühnermägen und Hühnerherzen essen, hätte ich ihn für verrückt erklärt, schließlich bin ich kein Klingone, doch inzwischen ist mein Misstrauen gesunken. Und tatsächlich: Das schmeckt auch. Also die Marinade. Dass ich einen Magen esse, merke ich gar nicht. Ich darf nur nicht daran denken.

In der Zwischenzeit ist das Hirn zu einer hellen Paste zerkocht, die wir uns auf Schwarzbrotscheiben streichen. Ein wenig komme ich mir vor wie ein Kannibale. Ein Hirn zerkochen und aufs Brot streichen! Barbarei! Interessante Barbarei allerdings. Max würzt die Paste nach, und ich stelle fest, dass ich keinen großen Unterschied zu einem gewöhnlichen Schmalzaufstrich erkennen kann. Wäre nicht die Erinnerung an das Hirn, wie es noch vor einer Stunde ausgesehen hat, würde ich bedenkenlos weiteressen. Ingo sowieso, der ist von jedem einzelnen Gericht begeistert, parallel zur Verkostung hält er den sadistischen Thomas Maurer per SMS über meine Fortschritte auf dem Laufenden. Aber wenn der Kerl meint, diese Sache wäre mir zu viel, hat er sich geschnitten, ganz im Gegenteil, ich bin bislang außerordentlich angetan von dem, was mir vorgesetzt wird.

Während ich kaue, stellt sich bei mir unwillkürlich der Gedanke ein, dass ich jetzt Gedanken kaue. Wir wissen ja nicht viel über Rehgedanken, aber sie haben bestimmt welche, sonst wäre das Hirn nicht so groß, woraus folgt, dass das, was ich kaue, irgendwann ein Gedanke gewesen sein muss. Vielleicht ein liebliches Erinnern an die mütterliche Zitze? Vielleicht die Erinnerung an den Geruch der blühenden Sommerwiese? Vielleicht der Impuls, mit dem Brüderchen zu spielen? Was auch immer es war, ich kaue es gerade und schlucke es hinunter. Eine merkwürdige Vorstellung, von der Ingo in seiner besessenen Mampferei nichts zu ahnen scheint.
Nun ist der Hoden an der Reihe, und das ist wirklich eine prägende Erfahrung.

Es mag sich albern anhören, aber für jemanden, der selbst Hoden hat, ist der Gedanke, in einen solchen hineinzuschneiden, respektive in den Sack hineinzuschneiden und den Hoden herauszuholen, kein reines Vergnügen. Gut, vielleicht finden Frauen das ebenfalls problematisch, aber Hodenbesitzer haben es bei dieser Arbeit definitiv schwerer. Ich helfe mir, indem ich mir vorstelle, Thomas Maurer die Kalbsbrieslasagne auf diese drastische Weise heimzuzahlen, dann geht es.

Was tut man mit einem Hoden? Max schneidet ihn in kleine Stücke und paniert ihn. Panierter Wildsauhoden. Das habe ich noch selten um zehn Uhr vormittags gegessen, schon gar nicht mit einem schweren Kater. Aber – seien wir nicht skeptisch, geben wir der Sache eine Chance.

Nach ein paar Minuten liegen goldbraune Stücke auf einem Teller, es sieht auch nicht viel anders aus als ein Wiener Schnitzel, schmeckt es anders? Ich koste. Ja, es schmeckt anders. Leicht, luftig, und wenn ich nicht wüsste, dass ich Hoden esse, was mich tatsächlich etwas belastet, wäre ich hellauf begeistert. Es geht wirklich nur um die Einstellung, um das, was in meinem Kopf falsch tickt. Ich meine, in Bezug auf Innereien falsch tickt, in meinem Kopf tickt ja so manches falsch, und nicht alles davon ist reparabel, doch meine Einstellung gegenüber Innereien beginnt sich langsam zu ändern.

Der nächste Gang: Kalbskuttelsalat. Über die Optik kann man Verschiedenes sagen. Im Rohzustand erinnert mich der Euter sehr an etwas, das in der Autoreifenindustrie Verwendung findet, aber nachdem er in Streifen geschnitten und wieder einmal mit Marinade versetzt wurde, könnte das alles sein. Es wiederholt sich auch das Erlebnis von vorhin: Die Marinade – irgendwas mit Linsen, ich bin zu verwirrt, um nachzufragen – ist so raffiniert, dass ich damit vermutlich wirklich Autoreifen oder auch Wettex-Lappen essen würde.

Der letzte Gang: die gegarte Rehzunge. Hier scheitere ich – doch einzig hier. Was ich sehe, sieht mir persönlich zu sehr nach einem bekannten Sprechorgan aus und zu wenig nach etwas, das man bedenkenlos essen kann, und als ich das Stück schlucke, sind meine Assoziationen zu unangenehm, um mich auf das Geschmackserlebnis konzentrieren zu können.

Das Fazit: Ich kann sagen, ich habe Thomas Maurer den Spaß verdorben. Ich möchte nicht behaupten, dass ich von nun an täglich Hoden und Gehirne essen werde, aber Maurer kann mir vorsetzen, was er will, er kann mich nicht mehr erschüttern. Obwohl, na ja, ich sollte aufpassen, was ich sage. Pilze mag ich noch immer nicht. Und Meeresfrüchte auch nicht. Der sadistische Kabarettist empfängt mich das nächste Mal bestimmt mit gratinierten Champignonscampi.

Vielen Dank an Ingo dafür, dass er in diesen 24 Stunden nicht alle Fotos geschossen hat, die er hätte schießen können. Und vielen Dank an Max Stiegl, für seine Geduld und seinen Humor, und vor allem dafür, dass er mir ermöglicht hat, für mich Neues verstehen zu lernen.
Adresse

Gut Purbach
Hauptgasse 64, 7083 Purbach am Neusiedler See
Tel.: 02683/560 86
www.gutpurbach.at