Kaiseki

oder die Kunst, mit den Augen zu essen.

Kaiseki

Text von Sonja Stummerer & Martin Hablesreiter Fotos: Corbis, Stockfood



Gerade in Japan gilt das Sprichwort „das Auge isst mit“ wie nirgendwo sonst. Egal ob im Toprestaurant oder an der Imbissbude um die Ecke: Der Komposition und der Präsentation des Essens wird immer besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Allein schon die mehrstöckigen Lebensmittelabteilungen der Großkaufhäuser in Tokios Stadtteilen Shinjuku, Ikebukuro oder der Ginza lassen keinen Zweifel daran, dass Kochen und Essen in Japan eine eigene Kunstrichtung ist. Nichts scheint hier dem Zufall überlassen, Zeit- und Materialaufwand scheinen keine Rolle zu spielen. Die optischen Wow-Effekte dienen jedoch keineswegs nur dem reinen Selbstzweck, sondern verleihen historisch gewachsenen Lebenskonzepten und jahrhundertealten Philosophien Ausdruck.

Die vornehmste Art japanisch zu speisen, ist das so genannte Kaiseki. Die Tradition, kleine, kunstvoll arrangierte Gerichte auf Tatamimatten sitzend einzunehmen, blickt auf eine fast tausendjährige Geschichte zurück. Das Konzept stammt von buddhistischen Mönchen und hatte ursprünglich gar nichts mit Essen, sondern vielmehr mit Fasten zu tun: Um die Konzentration während religiöser Zeremonien zu stärken, nahmen die Ordensbrüder nur minimalste Mengen vegetarischer Speisen zu sich und legten sich anschließend heiße Steine auf den Bauch, die das Hungergefühl unterdrücken sollten („kai“ bedeutet Bauch und „seki“ Stein).

Mittlerweile wurde die Menüfolge von ehemals drei auf neun Gänge erweitert, auch werden heute anstelle von Steinen Fisch und Fleisch serviert. Dennoch gilt die Kaiseki-Küche nach wie vor als eine der kalorienärmsten und gesündesten der Welt – und das, obwohl sie in punkto Opulenz und Kochfertigkeit der westlichen Sterneküche in nichts nachsteht. Ganz im Gegenteil: Nach japanischer Vorstellung sollte, da das Leben ohnehin kurz ist, jedes menschliche Aufeinandertreffen und damit auch jede gemeinsame Mahlzeit einmalig und perfekt sein. Deshalb verfolgt ein gutes Kaiseki-Lokal jedes noch so kleine Detail, das den Gast erfreuen könnte, mit höchster Aufmerksamkeit, wobei dem Erhalt traditioneller Rituale große Bedeutung zukommt. Wie überall in Japan ist auch hier das Aufeinandertreffen von Fortschritt und Tradition kein Widerspruch. Genauso wie Zen-Tempel und Computer perfekt nebeneinander existieren, so bilden auch die wenigen traditionellen Kaiseki-Restaurants in Tokio und Kyoto Oasen von Langsamkeit und Anmut inmitten des hektischen Großstadtdschungels.

Zauber des Augenblicks

So darf sich der westliche Reisende denn auch nicht wundern, wenn er das international bekannteste Kaiseki-Restaurant – hier speisten schon die Teilnehmer des G8-Gipfels – in der obersten Etage eines Wolkenkratzers im Zentrum des Tokioter Finanzdistriktes findet. Hat man jedoch den verchromten Hochgeschwindigkeitslift erst einmal verlassen, eröffnet sich schlagartig eine völlig neue Welt. Eine Gruppe freundlich lächelnder Damen mit schwarzen Hochsteckfrisuren fordert zum Ausziehen der Schuhe auf und trippelt leise raschelnd über die weichen Tatamimatten zu einem vorreservierten Speise-Séparée. Lautlos verschieben sie Wände aus handgeschöpftem Papier und Zedernholz, wobei ihre flinken Gesten keinen Zweifel daran lassen, dass hier ein anderes Japan beginnt. Mühelos rücken sie das rastlose Treiben der Großstadt für einige Stunden in weite Ferne. Nur der atemberaubende Ausblick auf die gläsernen Hochhäuser ringsum, deren Fassaden die blinkenden Leuchtreklamen zigfach widerspiegeln, erinnert noch an die pulsierende Weltmetropole draußen vor den Fenstern.

Grundsatz eines Kaiseki-Dinners ist es, mit sich und der Umgebung in Einklang zu kommen, sich auf den Rhythmus der Jahreszeiten zu besinnen und die eigene Harmonie mit der Natur zu spüren. In der exquisiten Atmosphäre der kleinen, mit Reisstrohmatten und Holz ausgestatteten Extrazimmer knien die Gäste auf Sitzpölstern rund um einen niedrigen Tisch. Eine junge Frau in einem bunten Seidenkimono betritt den Raum durch eine bislang verborgene Papierschiebetüre und serviert bedächtig nach und nach die kunstvoll arrangierten Gerichte: Fisch, Muscheln, Seeigel, Schnecken, Tofu sowie Rettich, Pilze und anderes Gemüse. Die Abfolge der Speisen entspricht strengen Regeln, nach einer Auswahl an Vorspeisen folgen eine klare Suppe, dann jeweils ein rohes, ein gekochtes, ein gegrilltes und ein frittiertes Gericht. Als Zwischengerichte dienen in Essig eingelegte Gemüsestücke und gesalzene Pflaumen.

Natur pur

Die aufwendig drapierten, essbaren Kunstwerke lassen uns das Wasser im Mund zusammenlaufen, beim Zubeißen erfolgt für den westlichen Gaumen allerdings eine gewissse Ernüchterung. Die überaus sanften Geschmacks­nuancen folgen dem puren Eigenaroma der einzelnen Zutaten wie Fisch, Algen oder Seetang, welche kaum gewürzt und nicht miteinander kombiniert sind. Nach japanischer Vorstellung sollen die einzelnen Tiere und Pflanzen nämlich möglichst naturbelassen genossen werden, ihr mildes Aroma den Esser nicht überwältigen, sondern zurückhaltend, ja sogar neutral sein und sich im Mund quasi „im Unendlichen verlieren“. Die große Kunst eines Kaiseki-Küchenmeisters, dessen Lehre mehr als 10 Jahre dauert, besteht also darin, den Eigengeschmack der Zutaten bestmöglich zur Geltung zu bringen und Gewürze oder Garungszeiten so sparsam wie möglich einzusetzen.

Der Grundsatz des unverfälschten Aromas – vieles wird roh serviert – setzt natürlich auch die absolute Frische der Zutaten voraus, sodass die Menüs entsprechend der Jahreszeiten ständig wechseln. In jedem Monat werden andere Fische und Meeresfrüchte, anderes Obst und Gemüse angeboten. Zudem bilden die Formen und die Farbzusammenstellung der Speisen die Schönheit der Natur ab, wobei der Gedanke an die Vergänglichkeit des Lebens ständig mitschwingt.

So sind die Speisen etwa im Frühjahr gerne mit Gemüsestückchen verziert, die die Form eines Schmetterlings haben, auch das Motiv der Kirschblüte – Japans wichtigstem Naturschauspiel – ist dann allgegenwärtig. Die Farbe des Sommers ist Rot, roher Fisch wird in spektakulären Schalen aus echtem Eis serviert, um den Fisch zu kühlen, aber auch um den Gast optisch zu erfrischen. Im Herbst dekoriert man gerne mit verfärbten Blättern – echt oder aus Gemüse geschnitzt, im Winter finden sich künstliche Schneeflocken oder abstrahierte Blüten des Zwetschkenbaumes, der in Japan bereits gegen Ende des Winters blüht, auf dem Teller. Aber auch Raum- und Tischdekoration werden auf die jeweilige Jahreszeit abgestimmt, wobei die Auswahl des Geschirrs mit entsprechenden Motiven, Schriftzügen oder Gedichten ihr Übriges tut, um den saisonalen Bezug herzustellen. In Japan gilt das Sprichwort „das Auge isst mit“ mehr als irgendwo sonst und die Qualität eines Restaurants wird nicht zuletzt an der Kunst des Kochs gemessen, die Speisen auf den Tellern und Schalen in Szene zu setzen.

Diese Beurteilung betrifft allerdings nicht nur das Arrangement selbst, sondern zum Beispiel auch die Kunstfertigkeit des Schneidens. Während in Europa dem Gast die Ehre zuteil wird, sein Fleischstück am Teller selbst zu zerlegen, ermisst ein japanischer Gourmet das Können seines Kochs auch an den Schnittkanten der ihm gereichten Fleisch- und Fischstücke. Ein perfektes Sashimi – und auch diese werden beim Kaiseki serviert – erkennt man nämlich nicht nur an seiner Frische, sondern auch an seiner Geometrie. Erst wenn die Kanten tatsächlich vollständig gerade und messerscharf geschnitten sind, darf sich der Koch als Meister bezeichnen. So beginnt die Lehre zu diesem ehrwürdigen Beruf denn auch mit dem stundenlangen Schnitzen von Karotten und Sellerie zu kleinen Ahornblättern oder Chrysanthemenblüten. Und die handgeschmiedeten Küchenmesser eines fertigen Kaiseki-Meisters dienen nicht nur als Kochwerkzeug, sondern genießen den Status von Ritualgegenständen, wobei auf jeder einzelnen Klinge fein säuberlich der Name des Besitzers und die damit zu verarbeitenden Lebensmittel eingraviert sind.

Essbare Poesie

Die Schönheit des Essens erfährt wohl in keinem Land der Welt eine derart intensive Zuwendung wie in Japan. Tatsächlich dient die optische Darbietung jedoch nicht nur dazu, um das Auge zu erfreuen, sondern verfolgt einen größeren Zweck. Denn die einzelnen Speisen sollen nicht nur sinnlichen, sondern auch geistigen Genuss bereiten. Die detailreichen Designs der Gerichte tragen dazu bei, die Besonderheit des Augenblicks einzufangen und die Teilnehmer in Harmonie mit ihrem Leben zu versetzen. Kaiseki ist nämlich auch Nahrung für die Seele, ähnlich wie ein Gedicht, das den Leser oder die Leserin für eine bestimmte Zeit in eine ferne Welt entführt. Die Arrangements auf den Tellern und in den Schalen rufen im Kopf des Gastes Bilder und Assoziationen hervor und bereiten ihm dadurch – im besten Fall – ein Vergnügen, ähnlich wie Musik oder Poesie.

So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass sich japanische Köche für ihre Künste entsprechend entlohnen lassen, auch wenn der Gast das Restaurant – zumindest nach europäischen Maßstäben – nicht unbedingt in gesättigtem Zustand verlässt. Denn die extrem kleinen Portionen frischester Zutaten, welche in langsamer Abfolge über mehrere Stunden hinweg genossen werden, gehören gemeinsam mit einem hervorragenden Service und einem luxuriösen Ambiente zum teuersten, was Japan kulinarisch so zu bieten hat.

„… wenn es sich nur um den Akt des Essens handelte, dann könnten wir ebenso gut von Blättern leben, wie es unsere Urahnen taten“. Mit diesen Worten wird der japanische Gelehrte Kitaoji Rozanjin, Ästhet und Meister der traditionellen Künste, gern zitiert. Wenn Reis und Misosuppe als letzter Gang gereicht werden und Grüntee-Eis und rote Bohnenmasse den süßen Abschluss bilden, durchflutet auch westliche Besucher das Gefühl von Einklang zwischen allem Dargebotenen. Diese spürbare Harmonie ermöglicht uns einen kleinen Einblick in die asiatische Lebensweise, doch hauptsächlich hinterlässt sie den Eindruck, einen mehr als außergewöhnlichen Abend verbracht zu haben.