Letztens im Lokal

Letztens im Lokal

Ein Dramolett. Alle Szenen behutsam aus dem Leben gegriffen, aber grob montiert.
Text von Werner Meisinger Foto: Photonica
Küche
Maître: Windet sich gegen den Servicestrom in die Küche und heftet einen neuen Bon an die Metallleiste. Vermeidet jeden Blickkontakt und verschwindet mit kurzem Hals.
Chef (ahnt Scherereien und schüttet prophylaktisch Aggressionshormone aus, liest und bellt zur Brigade): Zwei Menü "Koch des Universums", ein Artischockensalat, ein Hummer Pot au feu, eine Wachtel, kein Trüffelschaum, aber Hopfensprossensalat, ein Mi…
Stockt. Liest "Michelin, 3 Rufzeichen" und setzt in einem nun voll entfachten Grimm die Annoncierung fort:
Tester!!! Nach der Nage zweimal Quittengänseleber klein extra, für die Dame gespickter Saibling klein extra, nach dem Fisch extra drei Champagner-Dirndl-Sorbet, nach dem Rotî dreimal kleine Hirschzunge extra, vor dem Dessert kleine Trebern-Schupfnudeln extra. (knurrt) Kann kommen, der Tester. (brüllt) Service! Service!!! Der Sommelier soll bei Tisch 14 aufpassen, dass er ja nix von den Tagesempfehlungen verkauft.
Sommelier (reckt den Kopf in die Küche): Chef, auf Tisch 14 …
Chef (zischt): Wiss ma schon.
Sommelier (devot): Soll ich …
Chef: Erzeugt das gurgelnde Röhren hochbrünftiger Nilpferdbullen. Sommelier und neugieriges Servicepersonal flüchten aus der Küche.
Im Speisesaal, Departement für Raucher von Zigarren bis Ringmaß 35; es sind auch Abteilungen für Nichtraucher, schwere Nichtraucher, Pfeifenraucher, Zigarettenraucher und Zigarrenraucher größerer Kaliber vorgesehen.
Der Raum wird akustisch erwärmt von einer dezenten Hintergrundstrahlung psychedelischer Klänge. Die überwiegend jugendlichen Servicekräfte sind in Taupe-farbene Uniformen mit kurzem Stehkragen gewandet, geradlinig geschnitten in der Art frühgeschichtlicher Arbeitsanzüge aus dem Fernen Osten. Die Directrice trägt einen Sari aus purpurroter Wildseide und zeichnet sich durch asymmetrischen Kurzhaarschnitt aus. Auf den Tischen botanischer Schmuck aus gerebelten Sanddornstängeln und Gänsedisteln. An den Wänden kontemporäre Werke des führenden Regionskünstlers, spannungsreich gefertigt aus Glasbruch, Stahlwolle und Sargnägeln.
Drei Gäste sitzen bei Tisch.
Doktor (Typus altgediente Führungskraft einer Sozialversicherungsanstalt oder Beamtengewerkschaft; nimmt die mit 46 Brüchen in Form eines Pfaus gefaltete Serviette vom Tisch): Na schau’n wir mal. Dank Dir übrigens Ferry für diese schöne Einladung. Ich bin ja so gespannt.
Ferry (Typus Reisender): Keine Ursache, ich muss da ja ein Konto …
Vier Servicekräfte treten hinzu, nehmen 15 Stück Kleinporzellanware von Ebenholztabletts und verteilen sie symmetrisch vor den Gästen.
Kraft 1 (weiblich, Konfektionsgröße 32, piepst): Als Erstes dürfen wir den Herrschaften einen kleinen Gruß von unserer Küche übermitteln. Da hätten wir für sie (zeigt mit spitzem Finger und gerecktem Hals auf einzelne kulinarische Miniaturen) ein gefülltes Oktopusschenkerl, ein Wildlachshapperl im Zitronenblatt, dreierlei Hausgeräuchertes vom Babysaibling, ein kleines Taubensulzerl am Traubencarpaccio und ein Gupferl vom bretonischen Erbspüree. Wohl bekomm’s.
Servicekräfte treten vom Tisch zurück.
Ferry: Ich muss da ein Konto einrichten, weil …
Sommelier (tritt schwungvoll hinzu): Darf die Herrschaften sehr herzlich begrüßen und wegen dem Wein fragen. Darf ich die Weinkarte bringen oder mach ma für Sie was Glasweises, da hätt‘ ich beispielsweise für Sie zum Einstieg einen schönen Gelben Muskateller vom Schmolz oder einen Sauvignon blanc vom Klement, oder vielleicht was Prickelndes für Sie, Schilcher-Frizzante, Veltliner-Prosecco, Neuburger-Sekt mit Birnenmus, Eiermeier brut, Champagne rosé …
Dame (Typus Lebensabschnittspartnerin eines erfolgreichen Reisenden mit Tagesfreizeit): Champagner, aber ohne Farb‘.
Sommelier: Sehr wohl für die Dame. Und für die Herren vielleicht ein Schluckerl von einem trockenen Muskat-Ottonel 84, einem ganz leichten Veltliner von den Reben …
Doktor: Nur nix zu Leichtes. Vielleicht einen Muskateller.
Ferry: Für mich auch.
Sommelier: Sehr gerne für die Herren. Und für die Weinbegleitung im Menü könnten wir für Sie gern‘ was Glasweises machen, oder wenn die Herrschaften die Weinkarte …
Doktor: Glasweises wäre gut.
Sommelier: Dann darf ich für Sie sehr gerne eine glasweise Weinbegleitung zusammenstellen. (tritt zurück).
Ferry: Also ich muss da ja ein Konto einrichten. Aus der Zweidreier-Abrechnung …
Sommelier (legt einen Folianten mit altägyptischem Papyruseinband auf den Tisch): Unsere Weinkarte darf ich für Sie trotzdem herlegen, zum Schauen vielleicht und Gustieren.
Ferry (hebt den Prachtband beidhändig vom Tisch und wuchtet ihn auf ein nahes Fensterbrett): … was übrig geblieben …
Zwei Servicekräfte treffen mit einem bastgeflochtenen Korb voll Kleingebäck am Tisch ein.
Kraft 2 (männlich, jugendlich, mit einem goldfarbenen Metallanstecker in Form eines Brezels am Stehkragen holt tief Luft): Ich darf den Herrschaften ein wenig Brot aus unserer Backstube anbieten. Da hätten wir Spitzerln aus einer Leinsamen-Cuvée für Sie, Roggenkrusteln, Stangerln vom ukrainischen Vollweizen, unser frisch gebähtes Knäckebrot, Mazzes, Hostien aus unserer Waldviertler Klosterbäckerei …
Dame: Von dem Linken.
Doktor: Bitte auch.
Ferry: Vollweizen.
Kraft 2 (legt vor): Sehr gerne. Dann darf ich für Sie noch einen guten Appetit wünschen.
Dame, Doktor und Ferry wischen mit raschen Gabelstrichen die kulinarischen Miniaturen von den Tellern.
Ferry: Also, wie schon gesagt …
Zwei Servicekräfte treten an den Tisch: Schönen guten Abend die Herrschaften.
Stellen drei Tassen aus gekühltem Carrara-Marmor auf den Tisch.
Kraft 3: Wir haben hier für Sie ein bisserl Butter vorbereitet. Rückwärts hätten wir für Sie (zeigt mit spitzem Finger und gerecktem Hals auf eine französische Freilandbutter) französische Freilandbutter, daneben Frischbutter vom schottischen Hochlandrind, nepalesische Himalayasalzbutter, steirische Fasslbutter vom Fass 4, eine Jahrgangsbutter vom Seewinkler Steppenrind, Frühlingsbutter, Sommerbutter, Herbstbutter und unsere Hausgartenkräuterbutter. Wohl bekomm’s.
Dame, Doktor und Ferry betrachten die Butters.
Dame: Schmiert Hochlandrinderbutter auf das Leinsamenspitzerl und beißt ab.
Ferry: …
Kraft 2 (hat im Hintergrund gelauert und ist mit zwei raschen Schritten bei Tisch): Darf’s für die Dame noch ein bisserl Brot sein?
Dame: Danke.
Ferry: also …
Directrice (schwebt an den Tisch, gefolgt von sechs Servicekräften, ein junger Mann mit zu derbem Schuhwerk ein wenig polternd): Einen wundervollen schönen guten Abend wünsch‘ ich den Herrschaften, mein Name ist Jaqueline Novak und ich darf Sie durch den Abend begleiten. Mein Küchenchef hat sich noch erlaubt, für Sie vorneweg zur Belebung des Gaumens ein kleines Amüs-Busch zu kreieren (weist mit leichter Geste auf die Teller): Hausmarinierte Aprikosen mit einem leichten Dorschleberflan.
Die Dorschleberaprikosen werden eingestellt. Das Septett entfernt sich.
Doktor und Ferry schnüffeln am Dorschleberflan und fingern nach ihren Broten. Die Dame indessen lehnt sich in ihren Stuhl und betrachtet ihre ebenholzfarben lackierten Fingernägel. Ferry und Doktor verspeisen die Dorschleberaprikosen in kleinen Bissen und knabbern Brot dazu.
Kraft 2: Darf’s für die Herren noch ein wenig Brot sein.
Doktor und Ferry blicken auf.
Kraft 2: Da hätten wir für Sie unseren Brotwagen. Anisscharten-Krustling, Misch-Laiberl, provaunzalisches Tschabatta, Vorarlberger Sennbunkerl …
Doktor: Vom Krustigen bitte.
Ferry: Mir auch.
Kraft 2 schneidet mit einem Damaszenerschwert aus der führenden Schmiede von Scarperia sechs Miniaturen vom Krustling, legt sie mit Hilfe eines breitflächigen Brotgreifers geometrisch exakt auf zwei Silberschalen und stellt diese den beiden Herren neben die Brotteller: Wohl bekomm’s.
Ferry: Wegen dem Konto …
Vier Servicekräfte treten an den Tisch, drei davon im Chor: War’s recht so?
Ferry: Wundervoll!
Drei Kräfte räumen das Porzellan auf das Tablett der vierten Kraft und entfernen sich vom Tisch.
Ferry: …
Directrice zur Dame: Unser Herr Küchenchef lässt höflichst fragen, ob die Aprikosen …
Dame: Tut leid, aber Fischmarillen sind nicht so meins. Aber ich darf eh nicht so viel.
Sommelier tritt hinzu, eine Karaffe mit Weißwein zart schwenkend: Darf mir erlauben, für die Herrschaften den ersten Wein einzugießen.
Gießt ein, bei jedem Glas mit einer akkuraten Drehbewegung den letzten Tropfen vom Karaffenhals schüttelnd.
Doktor dreht sein Glas und riecht: Wasisses?
Sommelier (grinst schelmisch): Eine kleine Surprise. Das sollen Sie erraten.
Ferry: Weißwein.
Doktor: Südlich von Hamburg.
Dame: Lehnt sich zurück und inspiziert den Lack ihrer Fingernägel.
Sommelier: Hahaha, ja, sehr gut. Ich darf aufdecken: ein kleiner Chasselas aus dem Vully, Nulldrei, geerntet am
24. September bei Halbmond, händisch selektiertes Traubengut, bei 24 Atü gepresst. 134 Tage im Edelstahl ausgebaut, im 3.200-Liter-Fass sechzehn Wochen gereift. Sehr schön lebendig und vielschichtig am Gaumen und in der Nase. Leichter Duft nach Tennisplatz. Gerade recht zu unserem ersten Gericht. (zieht sich zurück).
Doktor und Ferry trinken besinnlich. Dame trinkt profan in einem großen Schluck.
Ferry schreibt in sein Moleskine-Notizbuch, in dem er kulinarische Gedanken für ein Buch in der Pension sammelt: Ein Dorschleberflan äußert sich nicht. Ein Oktopusschenkel schweigt wie das Innerste eines still gelegten Salzbergwerks.
Directrice und drei Servicekräfte treten an den Tisch.
Directrice: Als ersten Gang hätten wir hier für die Dame den Artischockensalat und für die Herren das Jakobsmuschel-Carpaccio mit schwarzen Trüffeln und Olivenöl von Molavi.
Eine Porzellan-Wanne in Form einer venezianischen Sportgondel mit einem Löffel Salatgemisch darin und zwei darin fixierten, hochragenden Käsehippenfragmenten sowie zwei Drahtglasteller mit jeweils einem kleinen Fächer aus hauchdünnen Muschel- und Trüffelscheibchen darauf werden eingestellt.
Directrice: Wohl bekomm’s.
Kraft 2: Darf es noch ein wenig Brot sein. Wir hätten hier unsere ofenwarmen Kirchtagsbrezerln …
Sommelier gießt nach: Hoffe, der Chasselas konveniert.
Directrice (schlendert an den Tisch): Geht’s noch?
Chef: Service! Was macht 14?
Servicekraft: Schauen komisch, einer schreibt was.
Chef: Auf 14 vor der Hirschzunge extra dreimal Goldammerragout am Löffel klein.

Weiter mit wechselnden Gerichten, Weinen und Broten. Nach drei Stunden und mindestens 113 Tellern:
Dame, Doktor und Ferry erheben sich. Ferry schaut suchend um sich.
Directrice: Haben uns erlaubt, ihre Literatur inzwischen aufzubewahren.
Ferry nimmt einen Guide Michelin Italien sowie zwei Piemont-Führer
an sich. Die Gesellschaft verlässt das
Lokal.
Chef: Und?
Directrice: Was und?
20 Minuten später an einem Würstelstand.
Ferry: Also mir sind da aus der Zweidreier-Abrechnung noch Spesen über geblieben. Die leg ich bei ein paar von die Wirten gegen rückdatierte Rechnungen an, damit sie mir das Spesenkonto nicht kürzen. Die Barolo-Expedition ist also fix?
Standbetreiber: Darf’s sein für die Herrschaften? Vielleicht Zwarerlei von der Lammwurst im Kartoffelstanitzerl oder das Beste von Frankfurt an einem …
Ferry: Drei Gambrinus, bitte.