Mein Essen im Retrogang

Entgegen allen Rankings zwei Essen in Baiersbronn.

Mein Essen im Retrogang

Text von Alexander Rabl Fotos: iStockphoto, beigestellt
Frage: Was machst du, wenn du und dein guter Stern um die Kurve biegen und es steht ein Elch auf der Straße und schaut dir in die Augen? Zweite Frage: Wie reagierst du, wenn sie dir bei "Wohlfart" die Schnecken versalzen? In beiden Fällen kann man kräftig aus der Kurve fliegen. Das sind echte Proben der eigenen Persönlichkeit, der Fähigkeit zur Gleichmut und des blitzschnellen Reagierens. Machst du einen Tanz und schickst den Teller an den Start und damit zurück? Oder essen wir geduldig und beweisen vor Gott und der Küche unsere heilige Gelassenheit? Instinktiv entscheiden wir uns für die Ruhe im Sturm und essen. Aufs Salzen des Frühstückseis am nächsten Morgen wird verzichtet werden.
In den Ingenieursküchen der deutschen Spitzenrestaurants ist das so, als würden die Automacher im nahen Stuttgart auf den Zylinderkopf oder das Lenkrad vergessen. Legen wir den Rückwärtsgang ein. Der Service in den "Schwarzwaldstuben" ist wie im gesamten Hotel Traube Tonbach in Baiersbronn von ausgesuchter Liebenswürdigkeit. Und vor allem: Er besitzt Witz, Schlagfertigkeit und Würde. Muss man sämtliche deutsche Restaurants besucht haben, um zu behaupten, dass wir es hier mit der besten Brigade des Landes zu tun haben? Wahrscheinlich nicht. Ach was, Rankings! Lächerlich. Gerade hat die Zeitschrift The Restaurant Harald Wohlfart um einige Plätze zurückgestuft. Isst man in der Traube Tonbach auf einmal schlechter? Wohlfart weigert sich einfach, die Moden und Torheiten der Branche mitzumachen. Er startet den Motor mit der immer gleichen Amuse-Gueule-Methode: Viermal eine Variation eines Produktes, das er in den Mittelpunkt des Anfangs stellt. Diesmal ist es Kaninchen. Bei Kaninchen hüpft nicht jedes Essers Herz vor Freude. Das weiß man. Doch dieses Kaninchen! Viermal Matchboxkaninchen: Mousse, Roulade, ein Röllchen, etwas Gebackenes. Sie haben einen eigenen Koch für die Amuse Gueules. Und ich stelle ihn mir mit einer liebenswerten Missbildung vor. Er hat ganz winzige Babyhände mit Babyfingern. Und das allein schon befähigt ihn, diese Speiseminiaturen anzufertigen, die Salatblätter, nicht viel größer als ein paar Milimeter, die Kräuselpetersilie und die Blattpetersilie, den winzigen grünen Saucenklecks, all das mit dieser unglaublichen Präzision hinzukriegen. Weil er so kleine Hände hat. (Seine einzige Aufstiegsmöglichkeit wegen seiner kleinen Hände – Beilagenkoch. Davon später mehr.) Wir sind jetzt schön in Fahrt, bewegen uns ruhig und entspannt entlang der Menüstrecke. Zweierlei von marinierter Gänseleber mit Mandelmilch-Gelée, Aprikosen und Mandel-Splittern. Hier schmeckt man die Nähe zum Elsass. Fahrer und Beifahrer sowie die Passagiere am Rücksitz sagen: perfekt. Und der Gewürztraminer von Laible: Er ist dieser Gänseleber so etwas von gewachsen, als gäbe es diese Rebsorte nur aus diesem Grund. Routiniert und herzlich läuft der Service, in beruhigender Anzahl dümpeln die bestellten Weinflaschen in diversen Eiskübeln vor sich hin. Das gezackte Licht der Lüster spiegelt sich in den großen Fensterscheiben mit dem Blick auf Wiesen und Felder, wo sie keinen Tau haben von der Präzision und Würde der Hochküche. Den Wiesenblumen, den Tieren des Waldes ist das auch egal. Sie würden nie auf die Idee kommen, für einen Tisch bei Harald Wohlfart sechs Monate Reservierungszeit in Kauf zu nehmen. Das Interieur der "Schwarzwaldstube" bereitet manchen Kopfzerbrechen. Schwer wie Gewitterwolken in den Bergen hängt die hölzerne Decke über den Gästen, die sich an ihren filigranen Weingläsern festhalten aus Angst, diese Decke könnte heruntergefahren werden und sie unter ihrer Ehrwürdigkeit zermahlen zu einem Mousse vom Schwarzwaldstubengast, das am nächsten Tag zum Champagner serviert wird. Ich mag das Interieur der "Schwarzwaldstuben". Es stemmt sich genauso gegen die Moden und Riten einer Copy-Paste-Kultur wie der Küchenchef. Hinter der nächsten Kurve wartet das Langustinen-Raviolo auf Gewürztomaten-Kompott, begleitet von Bottarga-Pesto und Escabeche-Sud. Diese Komponenten gehen eine Harmonie ein in der Art, als gäbe es auf der Welt irgendwo ein perfektes Lebewesen, das Langustinen-Raviolo-auf-Gewürztomaten-Kompott-mit-Bottarga-Pesto-und-Escabeche-Sud-Wesen, und man bräuchte es nur fischen oder pflücken und warm machen zum Servieren. Die Süße (und leichte Säure) der Tomate, die Süße (und leichte Meeresfrische) der Langustine. Was soll man noch sagen? Essen wir und schweigen wir. Der Salzgang kommt. Wir schön wäre dieses Entrée gewesen: Schneckenragout mit Knoblauchcroûtons, krossem Speck und Petersilien-Emulsion.
Wir nehmen einen großen Schluck (wegen dem Salz) von einem großen Wein und stellen es uns einfach vor. Denn die Küche hat es nicht leicht mit uns. Kleine Eingriffe in die intelligent abgestimmte Mechanik des großen Menüs führen zu Konsequenzen.
Statt eines Steinbutts steht da auf einmal eine Languste auf dem Tisch. Was will sie hier? Sie will uns schmecken. Ein Safran-Risotto mit Chili-Fäden macht das Ganze richtig spannend. Eine Winzigkeit vom grünen Spargel zeigt, dass auch beim Gemüse die Köche mit den kleinen Händen beschäftigt werden. Und dann tritt der Ober an den Tisch und serviert aus der silbernen Sauciere die aufgeschlagene Estragonsauce. Ein Gericht wie aus dem Museum. Doch wer da nicht leise jubelt und beseelt den Blick gegen Himmel, also zur schweren Holzdecke der "Schwarzwaldstube" mit ihren gezackten Lüstern hebt, weil das so unheimlich gut schmeckt, dem sage ich: "Ich verstehe dich nicht." Vielleicht die Languste mit dieser aufgeschlagenen Estragonsauce das beste Gericht des Abends? Keine Rankings, keine Vergleiche! Die Damen und Herren in Schwarz karren das Karree vom Limousin-Lamm an den Tisch. Der Geschmack, die Zartheit, der Fettrand! Salzalarm? Vielleicht ein bisschen. Das gegrillte Gemüse und Spitzmorchel wieder vom Koch mit den kleinen Händen zubereitet.
Darüber entspinnt sich eine zarte Diskussion am Tisch. Darf man die Beilage so winzigklein gestalten? Dem Fleisch eine derartige Hegemonie am Teller zugestehen? Es wäre ein Widerspruch gegen alle Usancen der modernen Küche, wo das Fleisch selbst immer weniger wird und in einer Art von Tellergleichberechtigung mit der Emanzipation der Beilagen konfrontiert wird. Harald Wohlfart also ein Nonkonformist? Oder doch ein Beharrer? Möglicherweise ist er beides. Wir können ihn an diesem Abend unseres Besuches nicht befragen, denn er weilt, was er selten genug tut, außer Haus. Die Küche gibt jetzt Gas. Wir sind schon etwas spät. Taube aus dem Elsass, gegrillt, mit kross gebackenen Keulchen und Innereiensauce wird herangeflogen. Auch dieses Gericht ist nichts anderes als superb. Das Fleisch ist von der blutigen Ernsthaftigkeit einer Taube, die aus den Vogesen kommt, wo die Bedingungen nicht immer freundlich sind. Das Fleisch der Keule wurde klein gehackt und in die Haut eingewickelt. Dann knusprig gebraten. Geniales Handwerk. Aufregend. Die Sauce als dunkler Spiegel der Seele des Schwarzwaldes ist nicht so kräftig und würzig wie Franck Cerrutis Jus Gouteux aux Abats, der im "Louis XV" zur Taube gereicht wird. Der Gast im Schwarzwald hat es offensichtlich nicht gerne so wild wie der Gast in Monaco. Gute Weine mögen sie beide, weshalb es zum Lamm den Gevrey Chambertin 1er Cru Clos St.Jacques von der Domaine Armane Rousseau gibt und zur Taube einen aufgeweckten Herren aus Bordeaux, mit dessen näherer Beschreibung ich Sie jetzt nicht ärgern will. Jedenfalls haben wir nach dem Moelleux von Manjari-Schokolade auf glasierten Erdbeeren in Balsamico-Karamell mit Erdbeersorbet und Champagnerschnee, also einem ziemlich kompletten Dessert, das wie ein Dreimaster mit geblähten Segeln vor unseren Mündern vor Anker geht. Woraus sind diese Minisegel gemacht? Wir beschließen, die Antworten auf diese und andere Fragen am nächsten Tag zu erkunden. Geeistes Pampelmusen-Süppchen mit Litchis, Guavensorbet und Ingwerlikör-Knusperbonbons unter einem fein gesponnenen Netz des Dr. Mabuse unter den Zuckermeistern verleiht dem Abend die Leichtigkeit, die es braucht, um nach einem doch fundamentalen Menü überhaupt aufstehen zu können. Jetzt sind die "Schwarzwaldstuben", die vor einer Stunde noch brummten wie ein Zwölfzylinder, leer bis auf einen Tisch. Unseren Tisch. Man verneigt sich. Der nächste Morgen soll der Rekreation dienen. Auf diesem Gebiet bietet die Familie Finkbeiner Außerordentliches und Beständiges. Mit modernem Design, gegen das wir nichts einzuwenden haben, wird der Gast der Traube Tonbach nur in geringen Dosierungen konfrontiert, dafür haben wir eine Menge Holz, schöne Stoffe, Messing und räumliche Großherzigkeit. Am Frühstücksbuffet, zu dessen Umrundung man Walkingausrüstung benötigt, beobachte ich einen kleinen Koch um die Siebzig. Sein einziger Job ist es,zwischen Müsli und Schwarzwaldschinken auf den Tellern für das appetitliche Arrangement zu sorgen.
Er richtet da ein Radieschen, dort rückt er eine Schale. Mehr nicht. Er macht seinen Job mit Akribie und Ernst. Woanders wäre er längst ausgemustert. Die Familie Finkbeiner hat ihm, dem alten Koch, diese Aufgabe übertragen. Eine kleine Geste, die ein großes Haus liebenswert macht. Ebenso wie der italienische Eiswagen, der neben dem Pool geparkt ist, über dem die Sonne nie unterzugehen scheint. Oder eben auch der große Wagen, mit dem wir am Abend ins benachbarte Hotel Bareiss eskortiert werden, wo es auch etwas Gutes zu essen geben soll. Der Limousinenverkehr, so unser Fahrer, zwischen der Traube und dem Bareis sei auf die Leistungen der Prestigerestaurants beider Häuser zurückzuführen. Wer im Bareiss wohnt, möchte einmal in der "Schwarzwaldstube" essen, wer in der Traube wohnt, möchte einmal im "Bareiss". Die Menschen haben einfache Bedürfnisse und in Baiersbronn freuen sich ein paar besternte Küchenchefs, sie ihnen zu erfüllen. Der Küchenchef des "Bareiss", Claus Peter Lumpp, hat im Wettbewerb um den besten Koch in Baiersbronn fast gleichgezogen. Und was er im Restaurant servieren lässt, das mit seinen hellen Stoffen, den opulenten Vorhängen, Blumenschmuck, dem altem Mobiliar und Christoffle-Utensilien den Gast feierlich umfängt und selbstverständlich bis auf den letzten Platz ausgebucht ist, ist große Klassik und Klasse. Auch hier werken Mechaniker mit winzigkleinen Händen und fertigen gebackene Hummerravioli an, nicht größer als einen halben Zentimeter oder so und hochexplosiv im Aroma. Wir bekommen ein paar Amuse Gueules. Und hier erweist sich bereits der Charakter dieser Küche.
Über die Perfektion der Zubereitung besteht kein Zweifel. Manches Gericht aber verblasst rascher in der Erinnerung als es aufgegessen ist, manches beeindruckt durch die Wucht und Klasse der Exekution und des Produktes. Caviar aufmachen kann jeder. Doch dieser kommt auf einem Kartoffelpüree brauner Butter, und beides ist so, wie es auf jeden Fall nur wenige können. Kaviar noch einmal: auf Lachs auf einem silbernen Löffel. Eine Schaumsuppe vom Räucherlachs. Klaus Peter Lumpp weiß, was schmeckt. Butter, aber nicht zuviel. Er übertreibt es nicht, setzt die klassischen Zutaten der großen Küche wohldosiert und pointiert ein. Kann es sein, dass der Mann was von seinem Beruf versteht? Natürlich gibt es als ersten Gang Gänseleber. Sie hat im Vergleich zu ihrer Kollegin in der "Schwarzwaldstube" mehr vom Frühling, mehr Leichtigkeit und Frische dank der Kombination mit Rhabarber.
Locker nimmt Lumpp die Schwierigkeit des Gänselebereises (den meisten Chefs misslingt dieses Rezept), souverän beherrscht er die Fertigung von Gelées, Röllchen, Confits, noch mal Gelees, Terrinen und Parfaits. Ja, man möchte sagen, dass das besser nicht vorstellbar ist. Und der Brioche, der dazu gereicht wird, ist ein flaumiges Wunder, eindeutig nicht von dieser Welt. Wo große Chefs am Werken sind, ist die Langustine nicht weit. Sie zählt ja zu den exklusivsten und besten unter den Krustelebewesen und man kann so schöne Sachen machen mit ihr. Lumpp kombiniert die zarte Frau Langustine mit ein paar knusprigen Artischocken und damit ihr nicht fad wird in der Hochküche, gibt er noch ein paar knusprige schwarze Oliven und eine sattgelbe Creme dazu. Was wir in den Restaurants auch gerne mögen: Steinbutt. Oder Markscheiben. Am besten gleich beides. Claus Peter Lumpps Plat Signature, also eine Idee, auf die er besonders stolz ist, ist der Steinbutt mit Ochsenmark gratiniert, ein schlichter Titel, hinter dem sich eines der Gerichte des Jahrhunderts verbirgt. Also eine Scheibe (bei Wohlfart würden sie sagen: eine Tranche) Steinbutt, darauf ein paar Markscheiben, ein bisschen Brotgebrösel, Schnittlauch. Und weiter: The Return of the Schnittlauchsauce! Endlich wieder da – Schnittlauch in einem Champagner-Butter-schweren Saucenwahnsinn. Zwei Nano-Lauchzwiebelchen, eine Scheibe vom erwachsenen Lauch. Das schmeckt gut, das schmeckt großartig. Und weiter: Die Sensation findet in einem zweiten kleinen Teller statt, wo Polenta, Eidotter und Spinat einen bemerkenswerten Auftritt haben. Wir erwägen, kurz in die Küche zu robben auf allen Vieren und um die Segnung zu bitten.
Dann kommt das Kaninchen. Kaninchen sollten, das weiß etwa Wohlfart, in die Große Küche nur als Amuses Gueules hineindürfen. Sie haben’s einfach zuwenig drauf. Auch dieses Kaninchen, dessen Keule mit Cremolata und geräucherter Kartoffelcreme daherhüpft, hätte man nicht gebraucht. Der Mission Haut Brion 1990 hat sein Ziel nach zwei Jahrzehnten in einer Magnum erreicht: unseren Tisch. Wer große Wägen fährt, muss auch große Flaschen trinken. Irgendjemand ein Problem damit? Die Taube aus dem Elsass mit Morcheln und Sherry hat jedenfalls kein Problem mit der Weinauswahl. Wir haben kein Problem mit der Taube. Nicht das geringste Problem. Und der Minispargel mit der klassischen Hollandaise, den die Taube bei ihrer Anreise aus dem Elsass im Gepäck hatte, der macht uns auch sehr froh. Retroküche. Klassische Saucen, klassische Verfahrensweisen, klassische Menüfolgen. Hochklassige Ergebnisse. Wie lange wird es solche Restaurants, die mit Opulenz nicht geizen und mit naiver Freude ihrem Handwerk nachgehen, noch geben? Wann kommen die politisch Korrekten und verderben uns und den Chefs, die keine jungen Wilden sind, die Freude am Steinbutt, an Steinpilzen aus Afrika oder an den Himbeeren aus irgendwoher? Oder an den Erdbeeren, die in Baiersbronn auch nicht immer wachsen, und aus denen ein freudenstrahlender Claus Peter Lumpp eine Kreation aus Erdbeeren und Rosmarin zubereitet. Fragen wie diese stellen wir uns nicht an einem Abend der eleganten Bewegungen, der Freude an der Existenz von Dingen und Personen und am rosafarbenen Champagner. Ruhig navigiert der Service durch den Raum. Etwas Schokoladiges noch. Ein paar kleine Torten, Tartes und Fruchtgeleezuckerl. Herr Bareiss und sein Küchenchef sind beide keine Knauserer. (Ihre Gäste sollten es ebenfalls nicht sein.) Man verneigt sich.