No meat – two Vegs

Gemüse in London, aber keine Erbsen mit Minze, sondern nicht weniger als das pralle Leben des Orients.

No meat – two vegs

Text Christian Seiler / Illustration Markus Roost

Mein neuer Lieblingsplatz in London befindet sich in der Nähe des Bahnhofs Wien-Mitte. Dort, in der Kochbuchabteilung der Thalia-Buchhandlung, scannte ich Neuerscheinungen, wunderte mich, dass es noch immer so viele „Spitzenküche für zu Hause“-Kochbücher gibt und freute mich, dass auch Reinhard Gerer wieder einmal in die Tasten gegriffen hat – ach, wie schön ist der Bisamberg, dachte ich mir und musste an das pochierte Knochenmark denken, das mir Gerer einmal zur Jause auf einen Tisch seines Magdalenenhofs gestellt hat. Und bei Knochenmark schlage ich eh ganz automatisch die Brücke nach London, wo im wunderbaren St. John Restaurant von Fergus Henderson seit jeher gegrillte Markknochen mit Petersiliensalat serviert werden, mjamm, aber davon will ich gar nicht berichten. Ich will über ein merkwürdiges, fett gepolstertes Kochbuch berichten, das den komischen Namen Genussvoll vegetarisch trägt und als Autor einen gewissen Yotam Ottolenghi ausweist.

Ich begann im Thalia Wien-Mitte gerade routinemäßig durch das Buch zu blättern, als sich plötzlich meine Haare im Nacken sträubten. Was da stand, klang gut. Scharfer Tofu mit Frühlingszwiebeln. Hochinteressant. Tomatensuppe mit Pesto. Uiuiui. Großartige, in ihrer Beiläufigkeit höchst attraktive Bilder. Unkonventionelle Rezepte. Ich kaufte das Buch und konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, um einen ersten, platonischen Essdurchgang einzuschieben

Ein paar Tage später wusste ich, dass ich einen Schatz gehoben hatte. Yotam Ottolenghis Rezepte erwiesen sich als erstaunlich, überraschend, von tiefem, kräftigem Geschmack. Mein Knoblauchverbrauch schnellte in die Höhe, genauso wie der Bedarf an unbehandelten Zitronen, deren Schalen auf ganz verschiedene Weise dabei halfen, aus guten vegetarischen Gerichten außergewöhnliche vegetarische Gerichte zu machen. Wobei: So vegetarisch kam mir Yotams Essen gar nicht vor. Es schmeckte nach der ganzen Welt, nur dass kein Fleisch auf dem Teller lag. Ich kaufte mir ein Ticket nach London, um Yotam, der dort fünf Lokale betreibt, zu fragen, warum das so ist.

Als sich Yotam mit einer Flasche italienischem Weißwein an den Tisch setzte, redeten wir zuerst einmal über Knoblauch. Ich erzählte ihm, dass mir einer der besten Italiener Zürichs sein Erfolgsrezept verraten hatte: Er verwende weder Zwiebeln noch Knoblauch, denn seine Businessgäste wollen nachmittags nicht danach riechen.

Yotam sah mich befremdet an. Er schüttelte den Kopf.

„Ich bin sicher, der Herr ist ein guter Koch“, sagte er leise, „aber das ist lächerlich. So darf man doch nicht über Essen nachdenken.“

Er nahm einen Schluck von seinem Wein.

„Für mich kommt an erster Stelle der Geschmack. Was der Geschmack für Nebeneffekte hat, ist mir egal.“

Eine kurze Pause, dann wischte Yotam den Gedanken an den Italiener in der Schweiz beiseite und besann sich aufs Schwärmen: von der Geschmeidigkeit und der Tiefe des Geschmacks, die das Kochen mit Knoblauch ermöglicht.

„In Europa ist das meiste Gemüse, das auf den Tisch kommt, flach. Da ist kein Leben drin, kein Geschmack. Der Grund ist, dass Gemüse viel zu lange gekocht wird, jedenfalls so lange, bis alle Aromen sich verflüchtigt haben. Kaum jemand macht sich die Mühe, dem Gemüse so viel Aufmerksamkeit zu schenken wie Fleisch. Gäbe es mehr Köche, die Gemüse so liebevoll zubereiten wie Lammkoteletts oder Steaks, würden viel mehr Menschen gerne Gemüse essen. Ich koche viel mit Knoblauch, weil Knoblauch Gerichte zum Leben erweckt. Roher Knoblauch gibt Kraft, und wenn du ihn kochst, macht er die Speisen süß, weil in Knoblauch viel Zucker steckt. Wenn du mich also nach meiner Beziehung zu Knoblauch fragst: Ich liebe Knoblauch.


Ich erinnerte mich jetzt, dass ich schon vor einigen Jahren auf den Namen Yotam Ottolenghi gestoßen war, als ich durch den Guardian blätterte, meine englische Lieblingszeitung. Aus dem Wochenendmagazin des Blattes leuchtete eine Seite sehr rot heraus, Wellen und Schlieren in vielfältigen Farben zwischen hellem Rosa und tiefdunklem Violett. Ich brauchte einen Moment, um das Bild als Aufnahme eines Rote-Rüben-Salats zu decodieren, aber das weckte mein Interesse, zumal der Titel der Seite mit anmaßendem Understatement daherkam: „Es ist Rote-Rüben-Saison, und Yotam Ottolenghi macht das Beste daraus.“

Foodkolumnen in Zeitungen und Zeitschriften haben eine ähnliche Wirkung wie Pornos. Du kriegst Appetit, weil deine Vorstellungskraft befeuert wird, aber dann stehst du mit einem vagen Hungergefühl da und es bleibt dir nichts anderes übrig, als aus der Vorratskammer einen Keks zu holen.

Dabei erzählte der Autor von erstaunlichen Dingen: Er kocht kleine, frische Rote-Rüben-Knollen, bis sie weich sind, dann lässt er sie abkühlen (vorher hat er sie von den langen, rotädrigen Blättern befreit, um diese mit Salz und Kümmel in Olivenöl zu einem Blattgemüse zu sautieren, erstes Aha-Erlebnis).

Dazu macht er aus gelben Paprikaschoten, Koriandersamen, Tomaten, ziemlich viel gepresstem Knoblauch, ziemlich viel eingelegter Zitronenschale, gehackter Petersilie und Korianderblättern ein Relish – ich saß bei der Vorstellung dieser Würzpaste schmatzend über dem Magazin, als ich mir die pure Kraft von Knoblauch und Zitronen vorstellte. Die Idee, diese südliche Kraft mit der fast schon überreifen Süße frischer, gegarter roter Rüben zu kombinieren, begeisterte mich schon platonisch, genauso wie die finale Anweisung, die dünn geschnittenen Knollen und den Relish mit fettem griechischem Joghurt zu servieren – bitte nicht gleichmäßig durchrühren, schrieb der Autor, sonst kommt der Salat nicht elegant marmoriert daher, sondern pink wie ein Paar Mädchensöckchen.

Genau, dachte ich mir. Genau diese Marmorierung hatte mich ja so angesprochen. Die Farben waren der Hammer, so wie die Vorstellung der kräftigen Geschmäcker und Aromen.

Ich ging in die Vorratskammer und holte mir einen Keks.

Ottolenghis Kolumne heißt The New Vegetarian. Das ist ein grandioser Titel, eine selbstironische Referenz an den Marketingtrick, altbekannten Phänomenen mit dem Präfix „neu“ den entscheidenden Spin zu geben. Der Guardian selbst residiert in dem Quartier von London, wo Tony Blair und Gordon Brown New Labour erfanden – und von der Zeitung ins Amt und wieder hinaus begleitet wurden.

Yotam Ottolenghi kam zufällig zu dieser Kolumne. Sein Restaurant Ottolenghi in der Upper Street, Islington, ist nur ein paar Blocks von der Guardian-Redaktion entfernt, und bald nach der Eröffnung gaben sich dort die Redakteure des Blattes die Klinke in die Hand.

Als der Kolumnist des Wochenendmagazins, der sich um vegetarisches Essen gekümmert hatte, ankündigte, die Zeitung zu verlassen, fragte der Food-Redakteur, der praktischerweise gerade beim Essen saß, bei Yotam nach, ob er die Kolumne übernehmen wolle, er koche so interessante Gemüsegerichte.

„Aber ich bin kein Vegetarier“, antwortete Ottolenghi.

„Du sollst auch nicht vegetarisch essen. Du sollst nur vegetarische Rezepte schreiben.“

So startete The New Vegetarian.

Das NOPI ist eine schicke, helle Brasserie an der Grenze zwischen Mayfair und Soho. Die Ziegelwand weiß getüncht, die Möbel aus hellem Eichenholz geschreinert. Vor dem breiten Fenster zur Straße ein Tisch im XXL-Format. Helligkeit und große Tische sind wiederkehrende Motive in den Lokalen Yotam Ottolenghis. Im hinteren Teil des NOPI eine Batterie kleinerer Brasserietische, alle besetzt. Eine Bar, wo die Gäste, die auf ihren Timeslot warteten, wie Zugvögel hockten und an ihren Drinks nippten. An der Wand ein überdimensionales Gemälde, das einen Turm aus Zitronen zeigt.

Aber irgendetwas am Eindruck des brummenden Restaurants war anders. Nicht der Pegel des vergnügten Lärms, der war hoch. Nicht die Kleiderordnung der Gäste, die war so elegant wie in jedem Businessquartier der Welt. Vielleicht das: Das Personal mit den weißen Schürzen servierte die -Teller eigenwillig. Sie wurden nicht vor den einzelnen Gast platziert, wie das seit der Erfindung des Restaurants üblich ist, sondern in die Mitte des Tisches.

Auf der Speisekarte fand ich rasch die Erklärung. Alle Gerichte, die im neuesten Lokal Yotam Ottolenghis serviert werden, sind Sharing Plates, Teller für alle. Die Erklärung steht gleich daneben: Unsere Teller sind zum Teilen angerichtet. Wir empfehlen pro Person drei schmackhafte Teller – savoury dishes.

Es waren die ganz normalen Speisen, die mich so für Yotams Kochkunst einnahmen. Zum Beispiel der Kartoffelsalat mit Kräutern und Wachteleiern aus Plenty. Dafür kocht man kleine Frühkartoffeln in der Schale und kombiniert sie mit einem Basilikum-Petersilien-Pesto, das mit frischen Kräutern, Pinienkernen, geriebenem Parmesan und zerdrückten Knoblauchzehen zubereitet wird, samt ein paar Streifen Sauerampfer, die dem Gericht zu seiner fruchtigen Deftigkeit eine erstaunliche Frische verleihen – nur beim Schälen der Wachteleier plagte ich mich ein bisschen, aber daran war nicht das Rezept schuld, sondern meine Feinmotorik.

Eine andere Demonstration von der Fähigkeit Yotam Ottolenghis, klassische Gerichte mit ein paar Handgriffen zu Knallern zu machen, war der marinierte Büffelmilchmozzarella mit Tomaten. Der springende Punkt war natürlich die Marinade: Sie wird aus gerösteten und im Mörser zerkleinerten Fenchelsamen, der abgeriebenen Schale einer unbehandelten Zitrone, gehacktem Oregano, einer zerdrückten Knoblauchzehe, Salz, Pfeffer, Raps- und Olivenöl hergestellt, mit Basilikumstreifen angereichert und für eine halbe Stunde über den in kleine Bissen gerupften Mozzarella gestrichen.

Als ich diesen mit ein paar bunten Tomaten auf den Tisch stellte: ein Triumph. Nie hatte ich dieses Gericht, das oft so fad wie Flugzeugessen daherkommt, so schmackhaft, so kräftig, so vielschichtig gegessen. Eleganz ist eben nicht nur die Kunst der Zurückhaltung, sondern jene der perfekten Kombination.

Der Mann weiß, wie er Aromen in Szene setzt, dachte ich mir, aber noch bevor ich begann, mir Informationen zur Person zu besorgen, fiel mir auf, dass Yotams Gerichte nicht dem üblichen, vegetarischen Klischee entsprachen. Die meisten vegetarischen Restaurants servieren Pappe mit gedünstetem Gemüse, und in den besseren Restaurants bekommst du mit wenigen Ausnahmen Beilagen ohne Ordnung serviert, wenn du ein vegetarisches Menü bestellst – Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber ich kenne keine Ausnahme, die auch nur mit einem kleinen Teil der Entschlossenheit und Wucht auftritt, mit der Yotam Ottolenghi eine vegetarische Küche, aus – jawohl – Fleisch und Blut herstellt.

Yotam ist ein schlanker Mann mit vollendeten Manieren und einem eleganten, fein geschnittenen Gesicht. Er stammt aus Jerusalem, wo er sich als Literatur- und Philosophiestudent unter anderem mit Kunsttheorien beschäftigte. In seiner Magisterarbeit zum Beispiel damit, ob Fotografie Kunst sei oder nicht. Als ihn sein Vater, ein Chemieprofessor, zu einer akademischen Karriere drängen wollte, begann Yotam lieber zu kochen. Er zog zuerst nach Tel Aviv, dann nach London, und wenn es sein Plan war, hier ein Jahr lang das gastronomische Handwerk zu lernen, so ist dieser Plan gründlich schiefgegangen.

Denn er ist heute, mehr als zehn Jahre später, immer noch hier. Nach einem Grundkurs an der Kochschule Cordon Bleu traf Yotam in der Backstube der Edelbäckerei Sami Tamimi einen Koch, der wie Yotam aus Jerusalem stammte, freilich von der palästinensischen Seite. Sami war genauso alt wie Yotam und fand die Idee, ein gemeinsames Business aufzuziehen, spannend.

2002 mieteten die beiden einen kleinen Laden in Notting Hill: ein ganz in weiß gehaltenes Take-away, dessen vordere Hälfte mit großen Platten und Schüsseln vollgeräumt ist, auf denen bunte, nach Sommer und Levante duftende Speisen präsentiert werden. Im rückwärtigen Raum, ein paar Stufen tiefer, unter einem Glasdach, steht ein großer Tisch, an dem die Glücklichen, die hier einen Platz bekommen haben, ihre Mahlzeit verzehren können. Die übrigen essen entweder vor dem Lokal im Stehen oder sie verteilen sich auf Parkbänken rund um die -nahe Portobello Road und futtern ihre Gemüsesalate und fantastischen Kuchen aus weißen Papiersäcken.

Es folgten drei weitere Ottolenghi-Locations in Kensington, Belgravia und Islington. In Islington – viktorianisches Portal, im Schaufenster Berge von köstlichen Süßspeisen, zwei kleine Tische auf dem Trottoir – gab es schließlich Restaurantbetrieb. Die Kritiken waren gut und der Geheimtipp stieg zum „Geheimtipp-von-dem-schon-ziemlich-viele-wissen“ auf. Yotam und Sami mussten das Lokal an die Reservierungssoftware anhängen, obwohl ihnen ein Platz, wo man kommt, isst und geht, vorgeschwebt war.

Deine Küche ist sehr würzig, sehr orientalisch angehaucht …“

„Ich nenne sie rustikal-elegant.“

„Wo holst du dir deine Inspirationen?“

„Erstens komme ich aus Jerusalem. In Jerusalem ist bereits -eine reife Tomate ein Geschmacks-ereignis, und ich will, dass mein -Essen nach etwas schmeckt. Zweitens reise ich gern und viel. Ich bin immer wieder in Asien unterwegs und esse vor allem auf der Straße. Ich liebe die Direktheit von Garküchen. Wenn ich in Malaysia, Vietnam, Thailand oder der Türkei unterwegs bin, schaue ich sehr genau hin, was in den einfachsten Küchen gekocht wird und welche Zutaten dafür verwendet werden. In Asien wird auch das einfachste Essen mit großem Aufwand und Fachwissen zubereitet. Ich habe in Malaysia zugeschaut, wie die verschiedensten Sorten von Sambal zubereitet wurden, mit verschiedenen Peperoni, manchmal kamen Shrimps dazu, manchmal nicht – es ist für die Menschen eine regelrechte Kunst, ein gutes Sambal zu bereiten.“

„Kaufst du dann im großen Stil Sambal für deine Küchen ein?“

„Nein. Ich hänge zwei, drei Tage an meine Reise an und lerne, wie man Sambal macht. Natürlich kann man jahrelange Erfahrung nicht in so kurzer Zeit aufholen, aber man muss einen Anfang machen.“

„Du reist mit dem Michelin und suchst dir die besten Lokale aus …“

„Natürlich nicht. Ich gehe zwar auch in schicke Restaurants, aber das Essen ist auf der Straße fast überall besser, jedenfalls außerhalb Europas.“

„Hast du den absoluten Geschmack? Kannst du ein beliebiges Gericht in seine Bestandteile zerlegen, ohne nach dem Rezept zu fragen?“

„Das kommt auf die Zutaten an, denn manchmal kenne ich gewisse Kräuter oder Gemüsesorten einfach nicht. Wir arbeiten hier viel mit Minze, Oregano und Koriander, in Vietnam gibt es fünf Mal so viele Kräuter, und du kannst nicht einfach in den Asia-Shop gehen und sie alle bestellen. Du musst deine Erfahrungen also anpassen und umsetzbar machen.“

„Deine Rezepte sind also das Ergebnis eigener Recherchen …“

„Manche, ja. Aber ich habe inzwischen Köche aus aller Welt in meinen Restaurants, die bringen enorm viel Talent und Engagement mit – und natürlich konkrete Rezepte.“

„Wenn du in deiner Küche Rezepte aus aller Welt umsetzt, woher bekommst du die Zutaten?“

„Dafür ist man in London am richtigen Platz. Hier leben sehr viele Minderheiten, die sich aus ihrer Heimat perfekt versorgen lassen. Inder und Pakistani sowieso, aber auch viele Thai, Süd- und Ostasiaten, Menschen aus dem mittleren Osten, Libanesen, Palästinenser. Viele von ihnen leben sehr traditio-nell. Sie kochen ihr eigenes Essen. Essen repräsentiert ihre durch Jahrhunderte gewachsene Kultur. Das heißt: Die wichtigen Zutaten, die Gewürze, Kräuter und Gemüse sind hier in London in bester Qualität, und ich kann damit herumspielen.“

Die Kolumne im Guardian machte Yotam Ottolenghi binnen kürzester Zeit berühmt. Seine bunte, laute Gemüseküche unterschied sich diametral von allem, was man bis dato mit vegetarischer Küche verbunden hatte: fahle Eintöpfe, verkochtes Gemüse, hilflose Versuche, mit Tofu und anderen Ersatzstoffen die Fleischküche nachzuahmen. Wenn vegetarische Küche bisher zu den Gesängen des Buckelwals gekocht worden war, dann steckte Yotam das Kabel ein und ließ es krachen.

Yotams „neuer Vegetarismus“ traf den Nerv eines aufkeimenden Trends. Die Lebensmittelindustrie wurde immer heftiger hinterfragt. Filme wie Robert Kenners Food Inc. oder Erwin Wagenhofers We Feed the World lockten Hunderttausende in die Kinos, um sie über die ernüchternden Mechanismen der Nahrungsmittelherstellung aufzuklären. Spätestens als Jonathan Safran Foer seine Bußpredigt Tiere essen herausbrachte, wurde der Vegetarismus zum Gegenstand einer breiten, ethisch, politisch und ökonomisch befeuerten Diskussion: Ist es zu verantworten, dass die Landwirtschaft auf Hochtouren laufen muss, nur um die Tiere zu ernähren, die wir essen wollen – ganz abgesehen von Klimawandel, den Problemen der Massentierhaltung, den im Verborgenen stattfindenden Praktiken der Fleischindustrie und den explodierenden Gesundheitskosten für fettleibige Bevölkerungen?

The New Vegetarian zeigte vielen eine brauchbare, vergnügliche Alternative zu der Selbstverständlichkeit, täglich Fleisch zu essen. Wenn die Entscheidung, auf Fleisch zu verzichten, ein Statement sein sollte, dann sorgte Yotam dafür, dass dieser Verzicht auch Spaß machte.

Das erste Kochbuch Ottolenghi, von dem es bis jetzt keine deutsche Übersetzung gibt, verkaufte sich gut, das zweite, Plenty – auf Deutsch wurde dieser schöne Titel zu Genussvoll vegetarisch downgegradet –, war ein Renner, auf der Bestsellerliste zwischen -Jamie -Oliver und Stieg Larsson platziert. Aber der Erfolg sorgte auch für Enttäuschungen.

Regelmäßig kamen Menschen in eines der Ottolenghi-Lokale, manche mit dem Buch unter dem Arm, um sich von Yotam eine Widmung abzuholen. Sie standen andächtig vor den weiten Schalen mit Brokkolisalat und Sesamdressing oder Tomaten-Brot-Salat mit Quinoa, aber dann zuckten sie zusammen: Was war denn das auf der großen, weißen Porzellanplatte, kräftig mit grob geschrotetem Pfeffer bestreut und mit goldenem Olivenöl beträufelt? War das etwa Fleisch? Ein böses Rinderfilet?

„Manche Leute drehten sich einfach um und gingen wieder“, sagt Yotam. „Sie waren enttäuscht.“

„Wie erklärst du enttäuschten Besuchern, dass du auch Fleisch servierst?“

„Ich sage, dass ich es großartig finde, Gemüse zu kochen. Aber dass ich niemals in einen Klub eingetreten bin, der dogmatisch den Genuss von Fleisch oder Fisch verbietet. Viele Vegetarier sind in diesem Klub, politisch motiviert und sehr gut über die Zusammenhänge der Lebensmittelerzeugung informiert. Sie halten es für unanständig, Fleisch zu essen.“

„Wie siehst du das?“

„Ich sehe meine Aufgabe darin, gutes Essen zu kochen.“

„Ist das nicht eine Ausrede?“

„Nein. Es wäre sehr gut für die vegetarische Sache, wenn sie den Fleischkonsum nicht bedingungslos ablehnen würde. Denn dadurch verliert sie viele Menschen, die eigentlich mit vegetarischem Essen sympathisieren, aber nicht ausschließlich Gemüse essen wollen. Ich denke, wie so oft ist es gut, tolerant zu sein. Viel Gemüse essen, aber sich hie und da auch ein Stück Fleisch erlauben, wie in den alten Zeiten, als nur am Sonntag der Braten auf den Tisch kam.“

„Führst du diese Toleranzdiskussion noch oft?“

„Nicht mehr so oft. Inzwischen wissen die meisten Leute, die zu mir kommen, Bescheid.“

Um die Ecke von Yotams NOPI hat Paul McCartney sein Büro, der sich immer, wenn er Leute empfängt, von Yotam beliefern lässt. Yotam unterstützt den Meat Free Monday, die Initiative des früheren Beatle, wenigstens einmal pro Woche auf Fleisch zu verzichten. Aber mir stellte er gleich mehrere Teller mit Fleisch auf den Tisch: z. B. ein saftiges, kompaktes Küken. „Du musst es mit den Fingern essen, das Fleisch zuerst in die Sauce tauchen“ – die Sauce war rot, kräftig und scharf –, „dann in dieses Salz“ – Zitronenmyrtensalz, ein Kraut, das es in Australien gibt und das über den Zitronengeschmack hinaus ein interessantes Aroma nach Garrigue, kleinen Hartlaubgewächsen, mitbringt –, „dann in den Mund“. Yotam schaute genau, ob ich es richtig machte, und er beobachtete, bis ich gekaut, geschluckt und zu strahlen begonnen hatte. Fantastischer Bissen.

Ich hatte am Abend vorher im Hibiscus gegessen, zwei Blocks vom NOPI entfernt, zwei Sterne schwer, gekonnte, französisch beeinflusste Hochküche, die sich dem Polgarschen Feuilletonbegriff verschrieben hat und auf einer Glatze Locken dreht. Gegen das, was -Yotams Kellner auf den Tisch schaufelten, kamen mir vornehm gedünstete Makrelen und langsam gekochte Hühnereier mit Erbsenpüree so vor, als müssten sie ein bisschen an die Sonne, um Farbe zu tanken. Kein Zufall, dass -Yotams Gerichte nicht nur schmackhaft, sondern auch bunt waren, so bunt wie ein orientalischer Markt.

Ich probierte von der Artischocke mit Emmer, Saubohnen und Ziegenkäse, eine Fülle an bitteren und süßen Aromen, eine Zelebration von Konsistenzen. Jeder Bissen präsentierte sich ein bisschen anders, je nachdem, welche Konsistenz gerade in den Vordergrund trat.

Gegrillter Spargel mit einer aus Chili, Brot, Nüssen, Mandeln, Knoblauch, Tomaten und Öl gefertigten Romesco Sauce, ein Kraftakt. Gegrillter Oktopus mit Salmorejo Sauce, der Tintenfisch außen knusprig und innen zart, begleitet von den pikanten Aromen der Sauce – Geschmäcker wie im Stroboskop, eine eklektizistische Party. Die Wachtel mit Miso, Honig, Weintrauben und Verjus – Referenz an die japanische, aber auch an die südfranzösische Art zu kochen. Viele Fäden führten in die Küche, und bei Yotam liefen sie alle zusammen. Denn er ist es, der dafür sorgt, dass aus den unzähligen Einflüssen etwas Originäres und Harmonisches entsteht.

„Kannst du noch?“, fragte Yotam.

Keinen Bissen.

„Klar“, antwortete ich.

Das war auch gut, denn sonst hätte ich die Tomaten mit dem Wasabi-Mascarpone versäumt und die Meerbrasse mit der sauer eingelegten Pomelo-Frucht und dem Tamarinden-Relish und natürlich die Desserts. Denn wer fahrlässigerweise den Kardamom-Reispudding mit Rosensirup nicht probiert hat, muss allein deshalb noch einmal nach London reisen.

 Inzwischen hatte sich das NOPI geleert und Yotam musste aufbrechen, um seine tägliche Runde zu allen fünf Lokalen zu Ende zu bringen.

„Gehst du manchmal zu dem Italiener, der ohne Knoblauch kocht?“, fragte er mich, als wir uns verabschiedeten.

„Wenn ich in Zürich bin“, antwortete ich.

„Kannst du ihm ausrichten, dass man sich nach dem Essen die Zähne putzen kann? Dann muss man nicht auf den Geschmack im Essen verzichten.“

Wird erledigt.

Mein neuer Lieblingsplatz in London befindet sich in der Nähe des Bahnhofs Wien-Mitte. Dort, in der Kochbuchabteilung der Thalia-Buchhandlung, scannte ich Neuerscheinungen, wunderte mich, dass es noch immer so viele „Spitzenküche für zu Hause“-Kochbücher gibt und freute mich, dass auch Reinhard Gerer wieder einmal in die Tasten gegriffen hat – ach, wie schön ist der Bisamberg, dachte ich mir und musste an das pochierte Knochenmark denken, das mir Gerer einmal zur Jause auf einen Tisch seines Magdalenenhofs gestellt hat. Und bei Knochenmark schlage ich eh ganz automatisch die Brücke nach London, wo im wunderbaren St. John Restaurant von Fergus Henderson seit jeher gegrillte Markknochen mit Petersiliensalat serviert werden, mjamm, aber davon will ich gar nicht berichten. Ich will über ein merkwürdiges, fett gepolstertes Kochbuch berichten, das den komischen Namen Genussvoll vegetarisch trägt und als Autor einen gewissen Yotam Ottolenghi ausweist.

Ich begann im Thalia Wien-Mitte gerade routinemäßig durch das Buch zu blättern, als sich plötzlich meine Haare im Nacken sträubten. Was da stand, klang gut. Scharfer Tofu mit Frühlingszwiebeln. Hochinteressant. Tomatensuppe mit Pesto. Uiuiui. Großartige, in ihrer Beiläufigkeit höchst attraktive Bilder. Unkonventionelle Rezepte. Ich kaufte das Buch und konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, um einen ersten, platonischen Essdurchgang einzuschieben

Ein paar Tage später wusste ich, dass ich einen Schatz gehoben hatte. Yotam Ottolenghis Rezepte erwiesen sich als erstaunlich, überraschend, von tiefem, kräftigem Geschmack. Mein Knoblauchverbrauch schnellte in die Höhe, genauso wie der Bedarf an unbehandelten Zitronen, deren Schalen auf ganz verschiedene Weise dabei halfen, aus guten vegetarischen Gerichten außergewöhnliche vegetarische Gerichte zu machen. Wobei: So vegetarisch kam mir Yotams Essen gar nicht vor. Es schmeckte nach der ganzen Welt, nur dass kein Fleisch auf dem Teller lag. Ich kaufte mir ein Ticket nach London, um Yotam, der dort fünf Lokale betreibt, zu fragen, warum das so ist.

Als sich Yotam mit einer Flasche italienischem Weißwein an den Tisch setzte, redeten wir zuerst einmal über Knoblauch. Ich erzählte ihm, dass mir einer der besten Italiener Zürichs sein Erfolgsrezept verraten hatte: Er verwende weder Zwiebeln noch Knoblauch, denn seine Businessgäste wollen nachmittags nicht danach riechen.

Yotam sah mich befremdet an. Er schüttelte den Kopf.

„Ich bin sicher, der Herr ist ein guter Koch“, sagte er leise, „aber das ist lächerlich. So darf man doch nicht über Essen nachdenken.“

Er nahm einen Schluck von seinem Wein.

„Für mich kommt an erster Stelle der Geschmack. Was der Geschmack für Nebeneffekte hat, ist mir egal.“

Eine kurze Pause, dann wischte Yotam den Gedanken an den Italiener in der Schweiz beiseite und besann sich aufs Schwärmen: von der Geschmeidigkeit und der Tiefe des Geschmacks, die das Kochen mit Knoblauch ermöglicht.

„In Europa ist das meiste Gemüse, das auf den Tisch kommt, flach. Da ist kein Leben drin, kein Geschmack. Der Grund ist, dass Gemüse viel zu lange gekocht wird, jedenfalls so lange, bis alle Aromen sich verflüchtigt haben. Kaum jemand macht sich die Mühe, dem Gemüse so viel Aufmerksamkeit zu schenken wie Fleisch. Gäbe es mehr Köche, die Gemüse so liebevoll zubereiten wie Lammkoteletts oder Steaks, würden viel mehr Menschen gerne Gemüse essen. Ich koche viel mit Knoblauch, weil Knoblauch Gerichte zum Leben erweckt. Roher Knoblauch gibt Kraft, und wenn du ihn kochst, macht er die Speisen süß, weil in Knoblauch viel Zucker steckt. Wenn du mich also nach meiner Beziehung zu Knoblauch fragst: Ich liebe Knoblauch.

Ich erinnerte mich jetzt, dass ich schon vor einigen Jahren auf den Namen Yotam Ottolenghi gestoßen war, als ich durch den Guardian blätterte, meine englische Lieblingszeitung. Aus dem Wochenendmagazin des Blattes leuchtete eine Seite sehr rot heraus, Wellen und Schlieren in vielfältigen Farben zwischen hellem Rosa und tiefdunklem Violett. Ich brauchte einen Moment, um das Bild als Aufnahme eines Rote-Rüben-Salats zu decodieren, aber das weckte mein Interesse, zumal der Titel der Seite mit anmaßendem Understatement daherkam: „Es ist Rote-Rüben-Saison, und Yotam Ottolenghi macht das Beste daraus.“

Foodkolumnen in Zeitungen und Zeitschriften haben eine ähnliche Wirkung wie Pornos. Du kriegst Appetit, weil deine Vorstellungskraft befeuert wird, aber dann stehst du mit einem vagen Hungergefühl da und es bleibt dir nichts anderes übrig, als aus der Vorratskammer einen Keks zu holen.

Dabei erzählte der Autor von erstaunlichen Dingen: Er kocht kleine, frische Rote-Rüben-Knollen, bis sie weich sind, dann lässt er sie abkühlen (vorher hat er sie von den langen, rotädrigen Blättern befreit, um diese mit Salz und Kümmel in Olivenöl zu einem Blattgemüse zu sautieren, erstes Aha-Erlebnis).

Dazu macht er aus gelben Paprikaschoten, Koriandersamen, Tomaten, ziemlich viel gepresstem Knoblauch, ziemlich viel eingelegter Zitronenschale, gehackter Petersilie und Korianderblättern ein Relish – ich saß bei der Vorstellung dieser Würzpaste schmatzend über dem Magazin, als ich mir die pure Kraft von Knoblauch und Zitronen vorstellte. Die Idee, diese südliche Kraft mit der fast schon überreifen Süße frischer, gegarter roter Rüben zu kombinieren, begeisterte mich schon platonisch, genauso wie die finale Anweisung, die dünn geschnittenen Knollen und den Relish mit fettem griechischem Joghurt zu servieren – bitte nicht gleichmäßig durchrühren, schrieb der Autor, sonst kommt der Salat nicht elegant marmoriert daher, sondern pink wie ein Paar Mädchensöckchen.

Genau, dachte ich mir. Genau diese Marmorierung hatte mich ja so angesprochen. Die Farben waren der Hammer, so wie die Vorstellung der kräftigen Geschmäcker und Aromen.

Ich ging in die Vorratskammer und holte mir einen Keks.

Ottolenghis Kolumne heißt The New Vegetarian. Das ist ein grandioser Titel, eine selbstironische Referenz an den Marketingtrick, altbekannten Phänomenen mit dem Präfix „neu“ den entscheidenden Spin zu geben. Der Guardian selbst residiert in dem Quartier von London, wo Tony Blair und Gordon Brown New Labour erfanden – und von der Zeitung ins Amt und wieder hinaus begleitet wurden.

Yotam Ottolenghi kam zufällig zu dieser Kolumne. Sein Restaurant Ottolenghi in der Upper Street, Islington, ist nur ein paar Blocks von der Guardian-Redaktion entfernt, und bald nach der Eröffnung gaben sich dort die Redakteure des Blattes die Klinke in die Hand.

Als der Kolumnist des Wochenendmagazins, der sich um vegetarisches Essen gekümmert hatte, ankündigte, die Zeitung zu verlassen, fragte der Food-Redakteur, der praktischerweise gerade beim Essen saß, bei Yotam nach, ob er die Kolumne übernehmen wolle, er koche so interessante Gemüsegerichte.

„Aber ich bin kein Vegetarier“, antwortete Ottolenghi.

„Du sollst auch nicht vegetarisch essen. Du sollst nur vegetarische Rezepte schreiben.“

So startete The New Vegetarian.


D
as NOPI ist eine schicke, helle Brasserie an der Grenze zwischen Mayfair und Soho. Die Ziegelwand weiß getüncht, die Möbel aus hellem Eichenholz geschreinert. Vor dem breiten Fenster zur Straße ein Tisch im XXL-Format. Helligkeit und große Tische sind wiederkehrende Motive in den Lokalen Yotam Ottolenghis. Im hinteren Teil des NOPI eine Batterie kleinerer Brasserietische, alle besetzt. Eine Bar, wo die Gäste, die auf ihren Timeslot warteten, wie Zugvögel hockten und an ihren Drinks nippten. An der Wand ein überdimensionales Gemälde, das einen Turm aus Zitronen zeigt.

Aber irgendetwas am Eindruck des brummenden Restaurants war anders. Nicht der Pegel des vergnügten Lärms, der war hoch. Nicht die Kleiderordnung der Gäste, die war so elegant wie in jedem Businessquartier der Welt. Vielleicht das: Das Personal mit den weißen Schürzen servierte die -Teller eigenwillig. Sie wurden nicht vor den einzelnen Gast platziert, wie das seit der Erfindung des Restaurants üblich ist, sondern in die Mitte des Tisches.

Auf der Speisekarte fand ich rasch die Erklärung. Alle Gerichte, die im neuesten Lokal Yotam Ottolenghis serviert werden, sind Sharing Plates, Teller für alle. Die Erklärung steht gleich daneben: Unsere Teller sind zum Teilen angerichtet. Wir empfehlen pro Person drei schmackhafte Teller – savoury dishes.


E
s waren die ganz normalen Speisen, die mich so für Yotams Kochkunst einnahmen. Zum Beispiel der Kartoffelsalat mit Kräutern und Wachteleiern aus Plenty. Dafür kocht man kleine Frühkartoffeln in der Schale und kombiniert sie mit einem Basilikum-Petersilien-Pesto, das mit frischen Kräutern, Pinienkernen, geriebenem Parmesan und zerdrückten Knoblauchzehen zubereitet wird, samt ein paar Streifen Sauerampfer, die dem Gericht zu seiner fruchtigen Deftigkeit eine erstaunliche Frische verleihen – nur beim Schälen der Wachteleier plagte ich mich ein bisschen, aber daran war nicht das Rezept schuld, sondern meine Feinmotorik.

Eine andere Demonstration von der Fähigkeit Yotam Ottolenghis, klassische Gerichte mit ein paar Handgriffen zu Knallern zu machen, war der marinierte Büffelmilchmozzarella mit Tomaten. Der springende Punkt war natürlich die Marinade: Sie wird aus gerösteten und im Mörser zerkleinerten Fenchelsamen, der abgeriebenen Schale einer unbehandelten Zitrone, gehacktem Oregano, einer zerdrückten Knoblauchzehe, Salz, Pfeffer, Raps- und Olivenöl hergestellt, mit Basilikumstreifen angereichert und für eine halbe Stunde über den in kleine Bissen gerupften Mozzarella gestrichen.

Als ich diesen mit ein paar bunten Tomaten auf den Tisch stellte: ein Triumph. Nie hatte ich dieses Gericht, das oft so fad wie Flugzeugessen daherkommt, so schmackhaft, so kräftig, so vielschichtig gegessen. Eleganz ist eben nicht nur die Kunst der Zurückhaltung, sondern jene der perfekten Kombination.

Der Mann weiß, wie er Aromen in Szene setzt, dachte ich mir, aber noch bevor ich begann, mir Informationen zur Person zu besorgen, fiel mir auf, dass Yotams Gerichte nicht dem üblichen, vegetarischen Klischee entsprachen. Die meisten vegetarischen Restaurants servieren Pappe mit gedünstetem Gemüse, und in den besseren Restaurants bekommst du mit wenigen Ausnahmen Beilagen ohne Ordnung serviert, wenn du ein vegetarisches Menü bestellst – Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber ich kenne keine Ausnahme, die auch nur mit einem kleinen Teil der Entschlossenheit und Wucht auftritt, mit der Yotam Ottolenghi eine vegetarische Küche, aus – jawohl – Fleisch und Blut herstellt.

Yotam ist ein schlanker Mann mit vollendeten Manieren und einem eleganten, fein geschnittenen Gesicht. Er stammt aus Jerusalem, wo er sich als Literatur- und Philosophiestudent unter anderem mit Kunsttheorien beschäftigte. In seiner Magisterarbeit zum Beispiel damit, ob Fotografie Kunst sei oder nicht. Als ihn sein Vater, ein Chemieprofessor, zu einer akademischen Karriere drängen wollte, begann Yotam lieber zu kochen. Er zog zuerst nach Tel Aviv, dann nach London, und wenn es sein Plan war, hier ein Jahr lang das gastronomische Handwerk zu lernen, so ist dieser Plan gründlich schiefgegangen.

Denn er ist heute, mehr als zehn Jahre später, immer noch hier. Nach einem Grundkurs an der Kochschule Cordon Bleu traf Yotam in der Backstube der Edelbäckerei Sami Tamimi einen Koch, der wie Yotam aus Jerusalem stammte, freilich von der palästinensischen Seite. Sami war genauso alt wie Yotam und fand die Idee, ein gemeinsames Business aufzuziehen, spannend.

2002 mieteten die beiden einen kleinen Laden in Notting Hill: ein ganz in weiß gehaltenes Take-away, dessen vordere Hälfte mit großen Platten und Schüsseln vollgeräumt ist, auf denen bunte, nach Sommer und Levante duftende Speisen präsentiert werden. Im rückwärtigen Raum, ein paar Stufen tiefer, unter einem Glasdach, steht ein großer Tisch, an dem die Glücklichen, die hier einen Platz bekommen haben, ihre Mahlzeit verzehren können. Die übrigen essen entweder vor dem Lokal im Stehen oder sie verteilen sich auf Parkbänken rund um die -nahe Portobello Road und futtern ihre Gemüsesalate und fantastischen Kuchen aus weißen Papiersäcken.

Es folgten drei weitere Ottolenghi-Locations in Kensington, Belgravia und Islington. In Islington – viktorianisches Portal, im Schaufenster Berge von köstlichen Süßspeisen, zwei kleine Tische auf dem Trottoir – gab es schließlich Restaurantbetrieb. Die Kritiken waren gut und der Geheimtipp stieg zum „Geheimtipp-von-dem-schon-ziemlich-viele-wissen“ auf. Yotam und Sami mussten das Lokal an die Reservierungssoftware anhängen, obwohl ihnen ein Platz, wo man kommt, isst und geht, vorgeschwebt war.


D
eine Küche ist sehr würzig, sehr orientalisch angehaucht …

„Ich nenne sie rustikal-elegant.“

„Wo holst du dir deine Inspirationen?“

„Erstens komme ich aus Jerusalem. In Jerusalem ist bereits -eine reife Tomate ein Geschmacks-ereignis, und ich will, dass mein -Essen nach etwas schmeckt. Zweitens reise ich gern und viel. Ich bin immer wieder in Asien unterwegs und esse vor allem auf der Straße. Ich liebe die Direktheit von Garküchen. Wenn ich in Malaysia, Vietnam, Thailand oder der Türkei unterwegs bin, schaue ich sehr genau hin, was in den einfachsten Küchen gekocht wird und welche Zutaten dafür verwendet werden. In Asien wird auch das einfachste Essen mit großem Aufwand und Fachwissen zubereitet. Ich habe in Malaysia zugeschaut, wie die verschiedensten Sorten von Sambal zubereitet wurden, mit verschiedenen Peperoni, manchmal kamen Shrimps dazu, manchmal nicht – es ist für die Menschen eine regelrechte Kunst, ein gutes Sambal zu bereiten.“

„Kaufst du dann im großen Stil Sambal für deine Küchen ein?“

„Nein. Ich hänge zwei, drei Tage an meine Reise an und lerne, wie man Sambal macht. Natürlich kann man jahrelange Erfahrung nicht in so kurzer Zeit aufholen, aber man muss einen Anfang machen.“

„Du reist mit dem Michelin und suchst dir die besten Lokale aus …“

„Natürlich nicht. Ich gehe zwar auch in schicke Restaurants, aber das Essen ist auf der Straße fast überall besser, jedenfalls außerhalb Europas.“

„Hast du den absoluten Geschmack? Kannst du ein beliebiges Gericht in seine Bestandteile zerlegen, ohne nach dem Rezept zu fragen?“

„Das kommt auf die Zutaten an, denn manchmal kenne ich gewisse Kräuter oder Gemüsesorten einfach nicht. Wir arbeiten hier viel mit Minze, Oregano und Koriander, in Vietnam gibt es fünf Mal so viele Kräuter, und du kannst nicht einfach in den Asia-Shop gehen und sie alle bestellen. Du musst deine Erfahrungen also anpassen und umsetzbar machen.“

„Deine Rezepte sind also das Ergebnis eigener Recherchen …“

„Manche, ja. Aber ich habe inzwischen Köche aus aller Welt in meinen Restaurants, die bringen enorm viel Talent und Engagement mit – und natürlich konkrete Rezepte.“

„Wenn du in deiner Küche Rezepte aus aller Welt umsetzt, woher bekommst du die Zutaten?“

„Dafür ist man in London am richtigen Platz. Hier leben sehr viele Minderheiten, die sich aus ihrer Heimat perfekt versorgen lassen. Inder und Pakistani sowieso, aber auch viele Thai, Süd- und Ostasiaten, Menschen aus dem mittleren Osten, Libanesen, Palästinenser. Viele von ihnen leben sehr traditio-nell. Sie kochen ihr eigenes Essen. Essen repräsentiert ihre durch Jahrhunderte gewachsene Kultur. Das heißt: Die wichtigen Zutaten, die Gewürze, Kräuter und Gemüse sind hier in London in bester Qualität, und ich kann damit herumspielen.“

Die Kolumne im Guardian machte Yotam Ottolenghi binnen kürzester Zeit berühmt. Seine bunte, laute Gemüseküche unterschied sich diametral von

allem, was man bis dato mit vegetarischer Küche verbunden hatte: fahle Eintöpfe, verkochtes Gemüse, hilflose Versuche, mit Tofu und anderen Ersatzstoffen die Fleischküche nachzuahmen. Wenn vegetarische Küche bisher zu den Gesängen des Buckelwals gekocht worden war, dann steckte Yotam das Kabel ein und ließ es krachen.

Yotams „neuer Vegetarismus“ traf den Nerv eines aufkeimenden Trends. Die Lebensmittelindustrie wurde immer heftiger hinterfragt. Filme wie Robert Kenners Food Inc. oder Erwin Wagenhofers We Feed the World lockten Hunderttausende in die Kinos, um sie über die ernüchternden Mechanismen der Nahrungsmittelherstellung aufzuklären. Spätestens als Jonathan Safran Foer seine Bußpredigt Tiere essen herausbrachte, wurde der Vegetarismus zum Gegenstand einer breiten, ethisch, politisch und ökonomisch befeuerten Diskussion: Ist es zu verantworten, dass die Landwirtschaft auf Hochtouren laufen muss, nur um die Tiere zu ernähren, die wir essen wollen – ganz abgesehen von Klimawandel, den Problemen der Massentierhaltung, den im Verborgenen stattfindenden Praktiken der Fleischindustrie und den explodierenden Gesundheitskosten für fettleibige Bevölkerungen?

The New Vegetarian zeigte vielen eine brauchbare, vergnügliche Alternative zu der Selbstverständlichkeit, täglich Fleisch zu essen. Wenn die Entscheidung, auf Fleisch zu verzichten, ein Statement sein sollte, dann sorgte Yotam dafür, dass dieser Verzicht auch Spaß machte.

Das erste Kochbuch Ottolenghi, von dem es bis jetzt keine deutsche Übersetzung gibt, verkaufte sich gut, das zweite, Plenty – auf Deutsch wurde dieser schöne Titel zu Genussvoll vegetarisch downgegradet –, war ein Renner, auf der Bestsellerliste zwischen -Jamie -Oliver und Stieg Larsson platziert. Aber der Erfolg sorgte auch für Enttäuschungen.

Regelmäßig kamen Menschen in eines der Ottolenghi-Lokale, manche mit dem Buch unter dem Arm, um sich von Yotam eine Widmung abzuholen. Sie standen andächtig vor den weiten Schalen mit Brokkolisalat und Sesamdressing oder Tomaten-Brot-Salat mit Quinoa, aber dann zuckten sie zusammen: Was war denn das auf der großen, weißen Porzellanplatte, kräftig mit grob geschrotetem Pfeffer bestreut und mit goldenem Olivenöl beträufelt? War das etwa Fleisch? Ein böses Rinderfilet?

„Manche Leute drehten sich einfach um und gingen wieder“, sagt Yotam. „Sie waren enttäuscht.“

„Wie erklärst du enttäuschten Besuchern, dass du auch Fleisch servierst?“

„Ich sage, dass ich es großartig finde, Gemüse zu kochen. Aber dass ich niemals in einen Klub eingetreten bin, der dogmatisch den Genuss von Fleisch oder Fisch verbietet. Viele Vegetarier sind in diesem Klub, politisch motiviert und sehr gut über die Zusammenhänge der Lebensmittelerzeugung informiert. Sie halten es für unanständig, Fleisch zu essen.“

„Wie siehst du das?“

„Ich sehe meine Aufgabe darin, gutes Essen zu kochen.“

„Ist das nicht eine Ausrede?“

„Nein. Es wäre sehr gut für die vegetarische Sache, wenn sie den Fleischkonsum nicht bedingungslos ablehnen würde. Denn dadurch verliert sie viele Menschen, die eigentlich mit vegetarischem Essen sympathisieren, aber nicht ausschließlich Gemüse essen wollen. Ich denke, wie so oft ist es gut, tolerant zu sein. Viel Gemüse essen, aber sich hie und da auch ein Stück Fleisch erlauben, wie in den alten Zeiten, als nur am Sonntag der Braten auf den Tisch kam.“

„Führst du diese Toleranzdiskussion noch oft?“

„Nicht mehr so oft. Inzwischen wissen die meisten Leute, die zu mir kommen, Bescheid.“

Um die Ecke von Yotams NOPI hat Paul McCartney sein Büro, der sich immer, wenn er Leute empfängt, von Yotam beliefern lässt. Yotam unterstützt den Meat Free Monday, die Initiative des früheren Beatle, wenigstens einmal pro Woche auf Fleisch zu verzichten. Aber mir stellte er gleich mehrere Teller mit Fleisch auf den Tisch: z. B. ein saftiges, kompaktes Küken. „Du musst es mit den Fingern essen, das Fleisch zuerst in die Sauce tauchen“ – die Sauce war rot, kräftig und scharf –, „dann in dieses Salz“ – Zitronenmyrtensalz, ein Kraut, das es in Australien gibt und das über den Zitronengeschmack hinaus ein interessantes Aroma nach Garrigue, kleinen Hartlaubgewächsen, mitbringt –, „dann in den Mund“. Yotam schaute genau, ob ich es richtig machte, und er beobachtete, bis ich gekaut, geschluckt und zu strahlen begonnen hatte. Fantastischer Bissen.

Ich hatte am Abend vorher im Hibiscus gegessen, zwei Blocks vom NOPI entfernt, zwei Sterne schwer, gekonnte, französisch beeinflusste Hochküche, die sich dem Polgarschen Feuilletonbegriff verschrieben hat und auf einer Glatze Locken dreht. Gegen das, was -Yotams Kellner auf den Tisch schaufelten, kamen mir vornehm gedünstete Makrelen und langsam gekochte Hühnereier mit Erbsenpüree so vor, als müssten sie ein bisschen an die Sonne, um Farbe zu tanken. Kein Zufall, dass -Yotams Gerichte nicht nur schmackhaft, sondern auch bunt waren, so bunt wie ein orientalischer Markt.

Ich probierte von der Artischocke mit Emmer, Saubohnen und Ziegenkäse, eine Fülle an bitteren und süßen Aromen, eine Zelebration von Konsistenzen. Jeder Bissen präsentierte sich ein bisschen anders, je nachdem, welche Konsistenz gerade in den Vordergrund trat.

Gegrillter Spargel mit einer aus Chili, Brot, Nüssen, Mandeln, Knoblauch, Tomaten und Öl gefertigten Romesco Sauce, ein Kraftakt. Gegrillter Oktopus mit Salmorejo Sauce, der Tintenfisch außen knusprig und innen zart, begleitet von den pikanten Aromen der Sauce – Geschmäcker wie im Stroboskop, eine eklektizistische Party. Die Wachtel mit Miso, Honig, Weintrauben und Verjus – Referenz an die japanische, aber auch an die südfranzösische Art zu kochen. Viele Fäden führten in die Küche, und bei Yotam liefen sie alle zusammen. Denn er ist es, der dafür sorgt, dass aus den unzähligen Einflüssen etwas Originäres und Harmonisches entsteht.

„Kannst du noch?“, fragte Yotam.

Keinen Bissen.

„Klar“, antwortete ich.

Das war auch gut, denn sonst hätte ich die Tomaten mit dem Wasabi-Mascarpone versäumt und die Meerbrasse mit der sauer eingelegten Pomelo-Frucht und dem Tamarinden-Relish und natürlich die Desserts. Denn wer fahrlässigerweise den Kardamom-Reispudding mit Rosensirup nicht probiert hat, muss allein deshalb noch einmal nach London reisen.

Inzwischen hatte sich das NOPI geleert und Yotam musste aufbrechen, um seine tägliche Runde zu allen fünf Lokalen zu Ende zu bringen.

„Gehst du manchmal zu dem Italiener, der ohne Knoblauch kocht?“, fragte er mich, als wir uns verabschiedeten.

„Wenn ich in Zürich bin“, antwortete ich.

„Kannst du ihm ausrichten, dass man sich nach dem Essen die Zähne putzen kann? Dann muss man nicht auf den Geschmack im Essen verzichten.“

Wird erledigt.