NY Regional

Ein weltgereister Schweizer wird in New York sesshaft und macht das Beste aus dem, was rund um den Big Apple wächst. Text von Werner Meisinger Foto: xxpool Manhattan wirkt wie eine Stadt, ist aber eine Ansammlung von Dörfern. Südlich des Central Park werden diese Reviere spezieller Identität zusehends kleiner, heiterer und kultivierter und sind auch…

Ein weltgereister Schweizer wird in New York sesshaft und macht das Beste aus dem, was rund um den Big Apple wächst.

Text von Werner Meisinger Foto: xxpool

Manhattan wirkt wie eine Stadt, ist aber eine Ansammlung von Dörfern. Südlich des Central Park werden diese Reviere spezieller Identität zusehends kleiner, heiterer und kultivierter und sind auch für den Ortsunkundigen deutlich zu unterscheiden. Klar: Little Italy ist nicht China Town, obwohl das eine im anderen liegt, man erkennt es blind am Geruch der lackierten Enten und der Lasagne, der Ingwergebirge und Rosmarinwälder, die da oder dort ausgehängt, ausgelegt und aufgetischt werden. Aber Greenwich Village und West Village, SoHo und NoHo, NoLita und Little Italy, Koreatown und Little Germany werden ebenso nur durch einen Straßenzug voneinander getrennt wie das chinesische vom italienischen Territorium und sind doch recht unterschiedlich, wenn auch nur ausnahmsweise Sprachgrenzen die Integrität der Viertel stützen.

Die Immobilienbranche hat ein waches Interesse an der Zerviertelung Manhattans, weil sich damit wunderbar Geschäfte machen lassen. Im Meatpacking District am Hudson zum Beispiel, der jetzt als superhip gehandelt wird. Wegen des mittlerweile berühmt gewordenen Stückchens Park auf der Highline ist der Bezirk angesagt, aber vor allem, weil es ein paar Modelabels billig und chic gefunden haben, sich im ehemaligen Schlachthausviertel einzumieten. Dann schrieb das New York Magazine irgendwas von „most fashionable“, und schon waren ein paar hundert supergute Adressen neu auf dem New Yorker Stadtplan.

Ähnlich frisch auf der Karte ist der Flatiron District. Namensstiftend war hier nicht etwa eine Konzentration von Schneiderwerkstätten, sondern das Hochhaus an der südlichen Kreuzung von 5th Avenue und Broadway. Die Straßen schneiden einander in einem dramatisch spitzen Winkel und umschließen ein selten unpraktisches Grundstück von Bügeleisenartigem Zuschnitt. Das Gebäude darauf hat eine Schmalseite von gerade Mal zwei Metern bei einer Höhe von 87 Metern – ein mächtiger Keil ragt da in den Platz, der Bug eines gewaltigen Schiffes, das Kurs auf Uptown hält und dem ungemütlichen Financial District das Heck zeigt.

Noch in den 1990er Jahren war das Umfeld dieses millionenfach fotografierten Architektur-Skulptur-Hybrids alles andere als charmant, der vorgelagerte Madison Square Park eine veritable Schande für die Stadt und die rundum eingemieteten Unternehmen nicht eben elitär. Das ­änderte sich 2001 mit der Revitalisierung des Parks. Eine Dosage mehr Grün wurde dem Platz spendiert, hübsche Kieswege führen durch die Rasenflächen, und 2004 pflanzte Shake Shack eine stylishe Filiale für Hamburger, Hot Dogs und andere US-Grundnahrungsmittel unter die Kronen der Ahörner. Puschelige Eichhörner vermehren sich in dieser lebensfreundlichen Oase so effektiv, dass sie mittlerweile auch den Platz zwischen den Beinen der Parkbesucher beanspruchen.

An der 26. Straße, gleich im Norden des Madison Square Parks, hat Barnes & Noble einen imposanten Buchspeicher angelegt, in dem sich unendlich viel Lesestoff beschaffen lässt. Was wollte man mehr in dieser Stadt? Mehr als Natur, Kultur, bewegtes Leben, eine stabile Parkbank und eine beeindruckende Kulisse? Möglicherweise ein gutes Restaurant.

Der Flatiron District hat auch das. Wahrscheinlich das derzeit beste in der Stadt, sicher das interessanteste.

Auf 11 Madison Avenue ist der Schweizer Daniel Humm zu Diensten und werkt mit 35 Mann/Frau in der Küche und ebenso vielen im Service an seiner eigenen Geschichte.

Die Adresse hat bereits eine erzählenswerte Story. Das Gebäude steht links neben dem Met Life Tower mit seiner goldglänzenden, Leuchtturmartigen Laterne an der Spitze und sollte in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts den beigestellten Turm weit überragend der höchste Wolkenkratzer der Welt werden. Die Realisierung des ambitionierten Unternehmens scheiterte am Schwarzen Dienstag 1929 und den folgenden zehn Jahren Wirtschaftskrise. Bei Stockwerk dreißig (statt über dem projektierten hundertsten) kam der Deckel drauf. Jetzt steht da ein seltsamer Stufenpyramidenstumpf, der dem benachbarten Campanile gerade Mal bis zur Schulter reicht. Auch das architektonisch ungeschulte Auge sieht, was das Bauwerk ist: nicht fertig.

Unten herum wurde 11 Madison Avenue natürlich so dimensioniert, als ginge es mächtig in die Höhe. Durch steinerne Bögen und zwischen Marmorstelen erreicht der Besucher eine Halle von großer Repräsentationskraft. Art déco prägt das Ambiente, edle Materialien waren von Anfang an verwendet worden, Ende des Jahrtausends investierten die Eigentümer dreihundert Millionen Dollar in die Auffrischung des Gebäudes. Man kann sagen: Das Haus steht jetzt blitzsauber da.

Im Erdgeschoß hatten die Architekten eine Rangierfläche für die Menschenströme von und zu den dreißig Liften vorgesehen. Für das letztendlich entstandene Wolkenkratzerfragment ist sie natürlich zu groß und kann daher in weiten Bereichen als verkehrsberuhigte Zone genutzt werden. Der Raum bietet dem Restaurant von Daniel Humm großzügig Fläche und Volumen. In einem luftigen Setting können mehr als hundert Gäste bewirtet werden. Dazu gibt es für Besserverdiener einen privaten Speisesaal in erhöhter Lage und für die stilvolle Umrahmung des Essens eine Bar. Auch hinter den Kulissen besteht Raum zur Entfaltung. Wer die in europäischen Restaurants üblichen Küchenkammern kennt, wird beim Blick in die des Eleven Madison Park-Restaurants staunen. Den Damen und Herren Cuisiniers steht für ihr segensreiches Wirken eine Werkstätte in Reitschul-Dimension zur Verfügung.

„Braucht man“, sagt Humm mit dem festen Blick des Flottenkommandanten, in kerzengerader Haltung, mit hochkorrektem Haarschnitt und in makellos weißer Adjustierung (kein Relais&Château-Grand-Chef-Logo und nicht einmal ein gestickter Namenszug mindern dessen Blendkraft). In der Küche herrscht auch zu Zeiten der Volllast andächtige Stille. „Konzentration“, sagt Humm, „Konzentration ist das Wichtigste“. Deshalb kommen ihm während des Service keine Fotografen und Filmteams in die Küche, nur hin und wieder ein Gast, der außerordentliches Interesse zeigt und den Köchen keine Tipps gibt.

Ursprünglich hatte Humm das Etablissement gemeinsam mit Danny Meyer betrieben. D. M. ist der New Yorker Gastro-Super-Entrepreneur, der mit jedem Konzept ­einen Megahit zu landen pflegt. Meyers Leistungspaket umfasst unter anderem die Erfindung des Union Square Cafe, der Gramercy Tavern und von Shake Shack, die allesamt in den Zagat-Rankings ganz oben stehen. 2011 hat sich Meyer aus dem Eleven Madison Park zurückgezogen und Daniel Humm die gesamte Ehre überlassen.

Humm wird seither noch seltener langweilig als zuvor. Er hat diese klassische Arbeitshaltung, nach der ein Koch während der Servicezeiten in der Küche steht, und erledigt neben der Kocherei – New York ist kein Ponyhof, sagen die, die dort schon Mal ein Geschäft betrieben haben – noch ein paar andere Aufgaben.

Aus der Notwendigkeit einer stringenten Terminkoordination beschränkte Daniel Humm meine Zeit für ein erhellendes Interview après Dîner auf „eine halbe Stunde“. Es ist dann doch erheblich länger geworden, weil Humm bei einem speziellen Thema das Herz übergeht.

Das Thema heißt „Regionalküche“ und ist neu für die Region New York. New Yorker Regionalküche ist das Leitmotiv, das die Menüs im Eleven Madison Park trägt. Sie ist auch der Stoff eines Buches, das Humm in den nächsten Wochen vorlegen wird. Entzückend, wie man in dem Druckwerk das Thema den Lesern näher bringt! Offenbar herrscht Erklärungsbedarf. „In den Restaurants von Lyon, Paris, Tokio, des Piemont – überall wird in den Küchen die Heimat gefeiert“, wird in der Einleitung (für unsereinen wenig überraschend) festgestellt, „aber in New York City, wo es eine der weltweit größten Restaurantszenen gibt, ist das noch nicht so.“

Noch gar nicht so. In NY, dem großen Schmelztiegel, wird zwar geschmolzen, aber aus vielerlei Zutaten entsteht im hochgastronomischen Angebot wenig bis gar nichts von regionaler Identität. Die Ethnien bleiben nebeneinander stehen. Die tollsten Restaurants der Stadt sind französisch, italienisch, fernöstlich geprägt. Das kulinarische New York kristallisiert sich bestenfalls in der zweiten Liga an Delis wie Katz und Carnegie oder Rindfleischvernichtungsinstitutionen wie Peter Luger. Natürlich könnte man sich philosophisch verrenken und diagnostizieren, dass das Regionstypische der New Yorker Küche in der Nichtexistenz von etwas Regionstypischem liegt oder dass die Eigenständigkeit der New Yorker Edelgastronomie als Konglomerat vieler Eigenständigkeiten begreifbar wird. Aber wahrscheinlich ist einfach noch niemand auf die Idee gekommen, sich mit den Produkten und Traditionen des New Yorker Hinterlandes hochkulinarisch zu beschäftigen.

Dazu hat es einen Schweizer mit einer bis dahin eher unspektakulären Biographie gebraucht. Die Ausbildungsstationen von Daniel Humm waren keine Tour de Force durch die Küchen von Sterne-Restaurants. Bessere Gasthäuser waren dabei, wohl auch das hoch dekorierte, aber nicht gerade weltberühmte Pont de Brent von Gérard Rabaey. Nach verschiedenen Engagements in der Schweiz (potenziellen Weltstädten wie Mesikon, Rehetobel…) ging Humm vor etwa zehn Jahren nach San Francisco und kochte dort im Geiste und mit den Mitteln der großen Franzosen.

In New York hat er sich vor ein paar Jahren das Französeln abgewöhnt und in der Folge richtig Karriere gemacht. Heute ist er einer von wenigen Dutzend Köchen weltweit, die einen markanten Stil vorzuweisen haben. Zu diesem findet er über die Maxime Reduktion: „Je weniger auf dem Teller liegt, desto besser“, formuliert es Humm unzweideutig. „In dem Wenigen aber muss der Koch erkennbar sein, und es muss gut schmecken.“

Der Ansatz ist bekannt, führt aber bei Humm weit über den Horizont von Trüffel an Erdäpfelpüree, Langustinenschwänzen auf Melone und Gänseleber auf Bratapfel hinaus. „Kreativität muss spürbar werden“, schiebt Humm nach, und damit wird die Forderung nach Reduktion zur Herausforderung. „Je mehr man dazu tut, desto einfacher wird es, Stil zu zeigen“, analysiert Humm, stellt sich damit gegen die neue Schule der Komplexität, die Genießbares in den verschiedensten Aggregatzuständen auf ihren Tellern versammelt und ohne kunstvolle Arrangements das Auslangen nicht finden will. Humm stellt sich damit auch auf ein schma­les Brett. Das Brett ist hart und will mit vereinten Kräften gebohrt werden. „Obwohl meine Gerichte recht einfach aussehen, brauche ich eine große Brigade. Man sieht nur die Spitze eines Eisbergs, darunter liegt viel Arbeit verborgen. Die 35 Köche in meiner Küche haben alle ausreichend zu tun.“ Am liebsten wären ihm „zwei Zutaten pro Gericht, nicht mehr“, diese Zutaten inspiriert in Beziehung gesetzt und kunstvoll zur Geltung gebracht. Allerdings: „Das wäre ein großes Wagnis. Allein deshalb, weil die Anmutung zu simpel sein könnte, nicht erkennbar werden würde, welche Professionalität und Sorgfalt hinter einem derart reduzierten Gericht steckt“, und – wirtschaftlich zu Ende gedacht – die Gäste den Menüpreis von $ 160+ nicht verstehen würden.

Daniel Humms Freude an reduktiven Grenzerfahrungen wird im Laufe eines Menüs mehrfach deutlich. Da kann mitten in der Speisenfolge Butterbrot mit Mangalitzaschweinschinken auftreten, zum Käse kam bei meinem Besuch eine Flasche Bier und eine Laugenbrezel, zum Aperitif Käsecracker mit einer hauchdünnen Schokoladeapplikation und einer Duftnuance nach Apfel. Selbstverständlich ist das Bier ein spezielles, ein ausschließlich für diesen und nur diesen Käse ausgewähltes Pale Wheat Ale, das wie Champagner vor sich hin moussiert und frisch-fruchtig den Gaumen netzt. Humms Brezel würde wohl jede bayerische Brezelweltmeisterschaft gewinnen, die Schokolade am Cracker ist eine Spezialcuvée aus der Zauberküche der Mast Brothers in Brooklyn. Auf den Schinken sind sie auch besonders stolz, wiewohl man dergleichen auch schon in Josef Lentschens Gasthaus Zur Dankbarkeit in Podersdorf gesehen hat (aber die New Yorker Regionsküche steht ja noch am Anfang, das mit den Mangalitzas werden sie auch noch geschaukelt kriegen).

In Karotte macht Humm und seinem begnadeten Wurzelbauern aber niemand mehr was vor. Sowas von Karotte existiert kein zweites Mal auf dieser Welt, was zuallererst – wir kennen es vom Wein – am Terroir liegt. „Muck Soil“, gibt Daniel Humm bekannt, und fast schnalzt er dabei genießerisch mit der Zunge. „Muck“ klingt nicht so delikat, bedeutet unter Erdwissenschaftlern aber auch Humusboden. Davon gibt es recht viel im Hudson Valley, und Alex Paffenroth, der Karottenbauer, der nichts anderes als Karotten baut, holt das beste aus diesem Terroir. Über Pfaffenroth-Karotten kann Daniel Humm Zeit und Termine vergessen, und sie haben auch eine prominente Rolle im Menü. Sie erscheinen gemeinsam mit einem Fleischwolf anno 1900 bei Tisch und werden vor dem Gast faschiert.

Zum Karottenfaschierten gab es ein Tablett mit neun Schälchen voll festen Zutaten und zwei Ampullen mit Flüssigkeiten. Senföl und Koriander waren leicht zu erkennen, der Rest schon schwerer, weil ja auch der New Yorker Chardonnay seine Wirkung tut (in Humms Buch werden die Zutaten aufgelistet sein). Alles zusammengeführt auf einer Gabel ergibt das endgültige Karottentatar – derart vielschichtig und lebendig im Aromenspiel, dass der Genießer mit Sensorium für ein solches gern alle anderen Tatars stehen lassen wird.

Zwischen derartigen Gerichten aus scheinbar alltäglichen Zutaten platziert Daniel Humm unzweifelhaft Luxuriöses. Maine-Hummer mit frittiertem Jungzwiebel und schwarzem Zwiebelpulver etwa, was eine schöne Kombination von Süß und Bitter ergibt. Dry-aged-Beef, das als außen kross gebratener, innen sanft gar gezogener Würfel mit vollaromatischen Pilzen und kräftig Salz auf den Teller kommt. Zuvor wird ein mächtiges Teil von dem gut gereiften Rind in feierlicher Prozession durch die ­Halle getragen, damit jeder was zu schauen hat.

Wie Daniel Humm ganz generell sein Faible für optische Effekte auslebt. Der Fleischwolf, dem man kaum anderswo bei Tisch begegnet, wurde schon angesprochen. Der Käsegang kommt in einem Picknickkörbchen, die Cracker zum Aperitif in einem kunstvoll verschnürten Ballotine, Sauergurken wurden im Holzrauch unter einer Cloche zu Tisch gebracht, am Nebentisch wurde gar ein Bügeleisen in Betrieb gesetzt. Wozu, ist mir entgangen, weil auch der Sauvignon aus New Yorker Rieden seinen Dienst tut, in Humms Buch wird es aber gewiss zu lesen sein. Neben solchem Aktionismus verblasst sogar das Vanillekipferlausgraben im Steirereck, das im Advent 2012 so gern geboten wurde.

Wozu die Show, wenn denn das Essen eh so gut ist? Die Frage beantwortet Humm (36) mit seinem Hang zur guten alten Zeit. Die Schürzen und das grobe Küchengerät, die Körbe und Schüsseln erinnern ihn an seine Kinder- und Jugendzeit, als Mutter Humm zweimal täglich kochte und er schon beim Betreten des Hauses riechen konnte, was auf dem Herd stand oder im Ofen schmorte. Niemals Elitäres, aber immer Gutes. „Ich bin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen“, erklärt Daniel Humm, „und einfach will ich bleiben.“ Geht so, auch mit drei Sternen von Michelin.

Eleven Madison Park
11 Madison Avenue, Tel.: +1/212/889-0905
www.elevenmadisonpark

Daniel Humm and Will Guidara, I Love NY
60 landwirtschaftliche Delikatessen aus der Region New York, ihre Erzeuger und Humms Rezepte, 508 Seiten; erscheint am 9. April in englischer Sprache bei Ten Speed Press Berkeley