Pariser Klassik

Die Pariser entdecken die Klassik neu, kleine Bistros feiern ein Revival, große Restaurants putzen sich neu heraus.

Text von Alexander Rabl

Die Uhrzeiger stehen auf kurz vor zwei Uhr mittags. Mein Taxi rast von den Champs-Élysées in die Rue Saint-Martin. Im mäßig gut geführten Hilton Collection hatte das Gepäck auf dem Weg ins Zimmer mehrere Umwege eingelegt. Um zwei sperrt die Küche des Benoit. Eine Cliffhanger-Situation. Kriegt er noch ein gescheites Mittagessen oder muss er an einem Salade de Volaille oder einem Clubsandwich in einem Café knabbern? In Paris versteht man in puncto Küchenzeiten keinen Spaß. Das liegt weniger an der Tradition, sondern an der 35-Stunden-Woche und an starken Gewerkschaften, die in der Gastronomie wenig Spielraum lassen. Wer sich an die Spielregeln hält und Service und Küche mit Respekt und auf Augenhöhe begegnet, gewinnt. Wer das ablehnt, fährt besser woanders hin. Ankunft zwei Minuten vor Küchenschluss. Der Maître wendet sich ohne jede Spur von Enerviertheit an den spät eintreffenden Gast, der ein paar entschuldigende Worte in seinem bescheidenem Französisch absondert. Man möge doch bitte gleich aus der Karte wählen, damit die Bestellung noch vor zwei Uhr an die Küche gehe. „ Dann haben wir beide keine Schwierigkeiten. Den Rest, Wein und so weiter, besprechen wir in Ruhe.“

Eine Pâté von geschmacklicher Wucht und gleichzeitigem Raffinement wird von eingelegten Gemüsen begleitet. Essigsäure ist auch ein guter Begleiter zum Tête de veau, dessen Teile, von der Kalbszunge bis zum blütenweißen Kalbshirn, in einer würzigen Brühe gekocht und mit Erdäpfeln angerichtet werden. Die Säure taucht dann am Teller als Sauce gribiche auf, aus hart gekochtem Ei, Kapern, Gewürzgurken, Senf, Essig, Öl sowie Kräutern wie Estragon oder Kerbel. Dafür werden die Eigelbe sehr fein gehackt oder durch ein Sieb passiert, dann mit Senf und Essig verrührt und mit Öl aufgeschlagen. Die fein gehackten Gurken, Kapern und Kräuter sowie das gehackte oder in Streifen geschnittene Eiweiß werden am Ende untergehoben. Natürlich ist das Benoit, das von Alain Ducasse vor Jahren übernommen wurde und exakt im Sinn der vorigen Betreiber weitergeführt wird, mittags wie abends ausgebucht. Pariser Bistro is back. War es jemals weg?

Der Maître des Benoit würde schmunzeln ob der Frage. Und statt einer Antwort ein Millefeuille mit Vanillesauce servieren, ein tausendblättriges Dessert, das außerhalb Frankreichs interessanterweise kaum ein Patissier hinkriegt. Der in kulinarischen Dingen besonders beschlagene Freund, ich nenne ihn Pierre, der mit seinem Bruder den französischen Restaurant­guide Le Feuilly herausgibt, hatte vor Jahren schon gesagt: „Das Bistro ist vorbei. Sie haben den Anschluss an die Zeit verpasst.“ Was Pierre gelten ließ, waren die Vertreter der neuen Bistros, die unter dem Titel Bistro­nomy eine entschlackte Version der Pariser Hochküche unters Volk brachten. Köche verabschiedeten sich von der oft als zu teuer und zu schwerfällig empfundenen Spitzengastronomie und machten ihr eigenes, lässiges und preiswertes Ding. Das sind Le Baratin, Le Saturne oder das baskische Le Comptoir und selbstverständlich die berühmten Septime oder Chateaubriand. Man kennt die Namen, hat schon dort gegessen. Und fast immer war es gut, wenn auch nicht klassisches Bistro.

Was Pierre nicht voraussehen konnte, war allerdings die Sehnsucht der Pariser nach den guten alten Werten und nach Gelegenheiten zum Rückzug in einer Stadt, die schon mehrmals vom Terror erschüttert wurde und aus deren Stadtbild schwerbewaffnete Hünen in Uniformen derzeit nicht wegzudenken sind. Während in den ersten Monaten nach der Bataclan-­Attacke die meisten Toprestaurants leer standen, weil die Touristen aus Asien und Amerika die Stadt mieden, verzeichnen die Klassiker unter den Bistros steigende Nachfrage. Denn die Pariser lassen sich durch nichts und niemandem vom Auswärts-Essen abhalten. Wenn die Welt bebt, lebt die Sehnsucht nach einem Pot-au-feu und einer Seezunge in einer buttrigen Champagnersauce mit Blätterteigfleuron so kräftig auf wie der Wille der Regierung nach Überwachung und Dauerausnahmezustand. Aber woher hätte Pierre das wissen sollen?

Natürlich muss man nur einen Blick auf die Entrées der kleinen Lokale werfen, um zu verstehen, dass Paris die Stadt mit den meisten Restaurantführern der Welt ist. Ein oder mehrere Dutzend Türkleber der bekannten oder weniger bekannten Guides kommen da auf einer Eingangstüre locker zusammen. Aber wo essen die Restaurantkritiker selbst? Sehr gerne in einem schuhschachtelgroßen Bistro im ersten Arrondissement in der Nähe der Oper, das auf den Namen Chez Georges hört und jeden Abend aus allen Nähten platzt. Die günstige Kalkulation könnte ein Grund sein, warum dem kleinen, holzgetäfelten Lokal seine Klientel über Jahrzehnte treu bleibt. Wahrscheinlich ist es aber eher der massive Steinbutt, dessen Filet mit rustikalem Grillmuster serviert wird und das fast so schmeckt wie bei den Grand Tables der Stadt. Qualität im Kleinformat. Dieses ist ein perfektes Beispiel für ein Bistro alter Schule, wie sie gerade angesagt sind. Angesagt, auch wenn die kleinen Lokale, wo die Tische eng nebeneinander platziert sind, dass man verlockt ist, beim Nachbarn das Baguette in die Sauce zu tauchen, neueren Datums sind.

Wie das ebenfalls im ersten Bezirk befindliche La Bourse et la Vie unweit von Börse und Palais Royal, wo Andy Fernandez am Herd steht, der zuallererst bei seiner ­bolivianischen Großmutter, später bei einem Japaner in Paris und in einem Steakhouse in Georgia, USA, das Kochen lernte. „Le produit“ ist im Mittelpunkt, das sagen zurzeit alle Köche, aber es macht die Erkenntnis nicht falsch. Ein Pot-au-feu vom Kalb schmeckt herrlich, den Kalbskopf gibt es dazu in einer feinen Panier. Zum Steak-frites kommt ein Salat, in dessen Marinade ein paar Anchovis abgetaucht sind. Davor gab es Poireaux vinaigrette, witzig kombiniert mit Nüssen aus dem Piemont. Und überbackene Austern.

Aber was wirklich böse ist und zwar bereits nach dem ersten Bissen, ist die Foie gras, bestreut mit etwas Fleur de Sel, die auf einem Artischockenboden serviert wird. Wer mit einem Franzosen, vornehmlich wenn es sich um einen Koch handelt, über die Sinnhaftigkeit oder Notwendigkeit der Foie gras diskutieren will, kann auch in den Louvre spazieren und fragen, ob die Mona ­Lisa zu kaufen wäre. Besser man redet über andere Themen, zum Beispiel über den passenden Wein. Vielleicht ist die neu entdeckte Liebe zu den kleinen, persönlich geführten Bistros auch das Resultat einer Sehnsucht nach dem vom Patron geführten Lokal, der Bar, dem Café. Wo nichts mehr sicher ist, zählen alte Be­ziehungen, wie die zwischen Gast und Wirt, umso mehr. Die meisten Bistros sind vom Besitzer geführte Lokale. Wie auch L’Assiette, wo ein Ducasse-Schüler am Herd steht.

David Rathgeber hat im Louis XV gearbeitet, die Eröffnung des Plaza Athénée mitgemacht, für das Benoit einen Stern erkocht. In einer ehemaligen Charcuterie erwartet er jetzt die Gäste mit blank gescheuerten Tischen und einer Karte, die zeigt, was er gelernt hat. Kroketten aus Schweinsfüßen mit Sauce ravigote sind ein Einstieg, der gleich einmal angibt, dass es sich beim Essen im L’Assiette um keine Kindergarten­jause handelt. Zum Huhn gibt es Sauce Albufera, Escoffier-Klassiker aus Velouté, die mit Stücken von einer Gänseleberterrine, Madeira, Portwein, Noilly Prat, Cognac und ausgiebig Butter angereichert wird. Saucen wie diese bilden das Rückgrat der großen französischen Küche. „C’est trés riche“, sagen die Franzosen dazu, und meinen damit auch, dass einer nicht reich an Geld sein muss, um glücklich zu sein, wenn es nur ab und zu für eine Sauce wie die Albufera auf dem Teller reicht. Im altehrwürdigen L’Assiette, einst die Kantine Mitterands, herrscht bürgerliche Fresslust nach der Art der französischen Hauptstadt. Das in den guten Pariser Restaurants unvermeidliche Ris de veau (Kalbsbries) brät Rathgeber „meunière“, es ist ein Prachtstück von einem Bries. Baba au rhum ist ­eine Hommage an den alten Meister.

Wer hat’s erfunden? Die Franzosen. Nur in wenigen Städten hat das Essen auswärts eine solche Tradition wie in der Hauptstadt Frankreichs, kaum anderswo kann man auf Stühlen oder Bänken sitzen, wo Jahrzehnte oder Jahrhunderte zuvor Regenten, ­Berühmtheiten und Stars Platz genommen haben. Es wäre lächerlich zu behaupten, dass es keinen Unterschied gibt zwischen einem Lokal mit zweihundertjähriger Geschichte und einem, das gerade vor zehn Jahren eröffnet hat. Wer das dicht gewobene Flair und die alte Seele des winzigen Grand Véfour nicht schon beim Betreten des Lokals in den Arkaden des Palais Royal spürt, wen es kalt lässt, in einem Restaurant zu speisen, das schon Napoleon mit seiner Joséphine frequentierte, Victor Hugo übrigens auch, soll lieber zu Hause bleiben oder auf den Champs-Élysées Steak-frites bestellen. Andere Gäste, die im stets lange im Voraus zu buchenden Grand Véfour einen Tisch bekommen und dort Guy Martins Ravioli mit Gänseleber und Périgord-Trüffel (bei meinem letzten Besuch etwas salzig) genießen können, werden dankbar sein. Ein Essen in einem Pariser Restaurant bedeutet öfter auch ein Essen in einem der schönsten Restaurants der alten Welt.

Beispielsweise im Le Dôme, das sich mit seiner mit Ornamenten versehenen, überdachten Terrasse äußerlich kaum von den anderen Brasserien und Bistros am Boulevard du Montparnasse unterscheidet, und sich beim Betreten als ein Traum in Art déco entpuppt. Hier nimmt man auf großzügig gepolsterten Bänken, zwischen poliertem Holz und Schwarz-Weiß-Fotos aus der Zeit der beschwingten 20er Jahre Dinge aus dem Meer zu sich. Krabben, Kaisergranat (Langoustines), Garnelen, Meeresschnecken starren den Gast von ihrer Aussichtsplattform an, wo sie auf Eis der Dinge harren. Austern (fast ein Dutzend unterschiedliche Sorten, die Produzenten auf der Karte fein säuberlich notiert) und Muscheln sind ultrafrisch, Paris scheint einen direkten Zugang zum Atlantik zu haben. Weder an Lotte noch Sole, Turbot, Rouget oder Saint Pierre gibt es in puncto Garung oder Produktqualität (fast alle Fische kommen von kleinen Fischerbooten, wurden oft mit der Schnur geangelt) etwas auszusetzen. Die Zubereitungen sind frei von küchentechnischer Interpretationslust. Eine Bouillabaisse ist eine Bouillabaisse, eine Hollandaise ist eine Hollandaise. Die vielstöckige, mit Vanille­creme gefüllte Millefeuille, eine Tour de Montparnasse von einem Dessert, schafft man nur im Gedanken an den doppelten Calvados danach.

Weil gerade vom Turm am Montparnasse die Rede war, da ist noch ein anderer, viel berühmterer Turm, der sich gerade wieder ins Gespräch bringt.

Die Tour d’Argent war in den 70er Jahren eine der gefragten Adressen. Die berühmte Entenpresse des im obersten Stockwerk eines Gebäudes am Seineufer gelegenen Restaurants kam zu blutigen Ehren in einem Film, der im Deutschen auf den flapsigen Titel Die Schlemmerorgie hört und im Original viel dezidierter auf Who is killing the Great Chefs of Europe? Die Tatsache, dass Jacqueline Bisset darin eine Hauptrolle spielt, weist auf das Entstehungsdatum des Filmes hin, die Siebziger. Der große Robert Morley gibt darin einen britischen Restaurantkritiker, dessen ­Sekretärin ihm den Liebesdienst erweist, alle relevanten Küchenchefs des alten Kontinents kalt zu machen, damit dem Chef das Halten seiner ­Diät leichter fällt. Eine überlegenswerte Strategie auch heute noch, muss man sagen. Die silberne Christofle-Entenpresse im Tour d’Argent allerdings hatte über die Jahrzehnte keinen Auftrag als Mordinstrument, sondern als hydraulische Assistentin beim Gewinnen der Säfte und des Blutes aus der Karkasse einer frisch gebratenen Ente.
Die Ente (vorzugsweise handelt es sich dabei um Canard Nantaise, von etwas kleinerem Wuchs, aber nicht weniger gut und saftig als die größeren Verwandten Canard Rouennaise oder Barbarie) wird bei hoher Temperatur etwa 20 bis 30 Minuten gebraten, dann die noch ziemlich blutige Brust in Streifen abgeschnitten. Die Keulen wandern in die Küche. Während die Brust warm gestellt wird, wandert die Karkasse mit allem drum und dran in die Entenpresse. Ein paarmal am Steuerrad gedreht und der Druck presst alles aus der Karkasse, was kein Knochen ist. Aus Senf, Zitronensaft, Portwein, Cognac und Burgunder (rot) wird eine Sauce bereitet. Das Entenblut kommt dazu, nachdem es durch ein Sieb passiert wurde, sowie passierte, rohe Entenleber. Dazu gibt es Pommes soufflées. Die Entenkeulen werden gegrillt und als zweiter Gang mit Salat serviert. Bei diesem Rezept handelt es sich um eine Ikone der klassischen Pariser Küche des vorigen Jahrhunderts, keinesfalls verändert durch die Errungenschaften der Nouvelle Cuisine und auch nicht durch die Molekularküche, für die französische Küchenchefs meistens ohnehin immer nur ein Lächeln übrig hatten.

Als Legende Claude Terrail 2006 starb, ging es mit dem Tour d’Argent stetig bergab. Ein Teil des berühmten Weinkellers kam unter den Hammer. Der Michelin reduzierte von drei zuerst auf zwei, schließlich auf einen Stern. André Terrail übernahm das Geschäft, Sohn des Patrons, aber auch Spross französischer Eliteschulen mit exzellentem Sinn fürs Geschäft. Tiefpunkt: eine Auktion mit Stühlen, Geschirr, silbernen Bechern und allerlei Erinnerungsstücken aus den guten Zeiten des Restaurants. Dieses hat bei einem gewissen Respekt vor den guten alten Zeiten ein eingehendes Refurbishment erhalten. Philippe Labbé, der neue Küchenchef, hat die Karte kräftig entstaubt und bietet ein sechsgängiges Menü mit allen erdenklichen Teilen der Ente an. Und: Zufälliges Zusammentreffen mit der neu erwachten Lust an der Klassik oder nicht, das herausgeputzte Tour d’Argent feiert ein Revival.

An die alten Zeiten erinnert der Sommelier David Rigley, den Mann gibt es hier seit 1981 und er hütet einen der bekanntesten und größten Weinkeller der Stadt. Die Ente gibt es mit vielen Gewürzen und einer dichten Sauce aus Essig. Die Preise – bis auf das Mittagsmenü um 105 Euro – sind astronomisch. In anderen Lokalen in Paris isst man um dasselbe Geld vermutlich besser, aber wer Preisvergleiche anstellt, war immer schon gut beraten, dieser Adresse fernzubleiben. Paris ist der Ort, wo man in kurzer Zeit irrwitzige Summen für Essen und Trinken ausgeben kann, wobei Stil und Eleganz allerdings auch dann gewahrt bleiben, wenn der Gast aus Russland etwa bei Caviar Kaspia an der Place de La Madeleine zum Kilo Kaviar Ketchup bestellt.

Es ist der Service, der die Contenance bewahrt. Das Kaspia im ersten Stock des gleichnamigen Shops, in dem man für die Jause zu Hause Kaviar, Saumon fumé, Wodka und Champagner erstehen kann, ist ein kleines Juwel gepflegter französischer Lebensart. Das Gefühl, dass es nirgends so guten und so perfekt temperierten Champagner gibt, lässt den Gast gleich das nächste Glas bestellen. Es scheint, als würden alle fünf Minuten eine neue Flasche geöffnet, so perlend und frisch kommt der Wein ins Glas. Und dann sind da die Wodkas, die auch eine Versuchung wert sind. Die im Haus gemachten Blinis vom Durch­messer eines Tellers für einen Hauptgang sind große Klasse, der Räucherlachs perfekt.

Es gibt Eiergerichte, Salate, Pastas, eine Latte an feinsten Räucherfischen. Eine Kombination aus Folienkartoffel mit Crème fraîche und Schnittlauch erweist sich als geschmacklich zu mächtig für die milden Minikaviarkügelchen der Sorte Impérial Baeri. Nächstes Mal doch den teureren Beluga Royal oder sich an die Regel halten: Es muss nicht immer sein – wie schon der alte Feinspitz Simmel wusste. Tête de veau und Sauce gribiche tun es auch. Manchmal. Und ganz besonders in Paris.

Ein Küchenchef hat einen Anteil an der Renaissance der Pariser Klassik. Der Name ist bekannt.

Das klassische Bistro, die klassische Brasserie eignet es, dass die Küchenmannschaft dezent im Hintergrund bleibt. Starköche? Haben wir nicht. Brauchen wir nicht. Entweder handelt es sich beim
Küchenchef um den Besitzer, was einen Personenkult überflüssig macht. Oder es ist ein gut bezahlter, jedoch gerne anonym bleibender Koch von der Art, wie man sie in vielen guten Betrieben findet, denen sie gerne treu bleiben. Starkoch – ein Begriff, der im Deutschen ebenso inflationär verwendet wird wie „Nachhaltigkeit“ oder „Regionalität“ – findet kein Äquivalent in der französischen Sprache.
Einer der wichtigeren, vielleicht zurzeit der wichtigste aller französischen Küchenchefs, Alain Ducasse, hat allerdings im Hintergrund daran mitgewirkt, dass die Pariser Bistrokultur über ein Jahrzehnt oder mehr erhalten blieb, als sich niemand richtig dafür interessierte. Was die Pariser Bistros Rech, Benoit und Aux ­Lyonnais gemeinsam haben, ist nämlich das Engagement der Groupe Ducasse: Es handelt sich dabei um eine Gruppe von Investoren, die unter der Leitung von Alain Ducasse behutsam französische Lokale und Landhäuser wie auch Hotels aufkauft oder finanziell unterstützt, mit dem Ziel, Institutionen der französischen Gastronomie uns und der Nachwelt zu erhalten.
Synergien mit den anderen Ducasse-Restaurants finden zweifelsohne statt, wenn man zum Beispiel von grünem Spargel aus der Provence oder schwarzem Trüffel aus dem Périgord ausgeht, die es hier in der Qualität gibt, wie man sie auch in den großen, teuren Restaurants von Ducasse kennt. Kleine Bistros würden an derartige Ware nicht herankommen.
Mit ihrem Engagement haben Ducasse und die Seinen – vollkommen in Ergänzung zur Bistronomy der Nullerjahre – ­einen Grundstein zur Renaissance der klassischen Pariser Bistros gelegt. Auch die neueste Erwerbung, das Allard in Saint Germain, fügt sich hervorragend in die kleine, feine Kollektion. Irgendwann wurden die Besitzer müde, vor zwei Jahren ging das Allard dann an die Leute von
Ducasse. Ein Restaurant, das aus der Zeit gefallen scheint und dessen Spezialität immer noch auf der Karte steht: Ente mit Oliven. In der Küche eine Frau, was in Frankreich immer noch eine Ausnahme darstellt, obwohl die berühmten Küchenchefs dazumals oftmals Chefinnen waren.
Ducasse hat – wie seine kochenden Kollegen Joël Robuchon, Yannick Alleno oder Gordon Ramsay in London – schon lange begriffen, wie man gute Leute im Service oder in der Küche längere Zeit ans Unternehmen bindet. Wenn sich einer oder eine in einem seiner Restaurants bewährt hat, diesem oder dieser aber der Sinn nach Veränderung steht, wird eine interessante Position in einem Bistro oder Café ausfindig gemacht, das zur Familie gehört. So kann es sein, dass am Herd eines Bistros einer steht, der jahrelang in Ducasses ­Pariser Flagship-Restaurant, dem Alain Ducasse au Plaza Athénée, vielleicht als Saucier oder als Poissonier am Herd stand. Damit machen wir einen kleinen Sprung weg vom klassischen Bistro ins klassische große Restaurant einer neuen Zeit. Das Alain Ducasse au Plaza Athénée hat vor nicht ganz zwei Jahren sein Konzept total umgestellt, sich auch beim Interieur einen unerwartet kontemporären ­Anstrich verpasst, der einen reizvollen Kontrast zu den riesenhaften wie zart und filigran wirkenden Lüstern wirkt, die in dem großen Raum für kaum wahrnehmbare, aber doch spürbare sphärische Klänge sorgen.
Man speist an Tischen aus dieser Art von Holz, aus dem die Oberflächen von Yachten gemacht werden. Ducasse liefert am Teller den intellektuellen Gegenentwurf zur klassischen Pariser Küche, mit der er sich lange beschäftigt hat. Viel Gemüse, etwas Fisch, kein Fleisch. Auserlesene Lieferanten. Mancher Klassiker von früher, etwa der Kaisergranat mit Kaviar, ist noch da, aber kaum wiederzuerkennen, vielleicht auch etwas zu komplex in der Komposition.
Kaviar mit kleinen Linsen und schwarzem Buchweizen (in Form von Blinis) gehorcht einer neuen Mode, ein Luxusprodukt mit einem Plat du pauvre zu kombinieren, doch die Idee geht geschmacklich nicht ganz auf. Genial dann aber der Karfiol, der in Briocheteig gebacken wird, eine ganz große Bühne für dieses Gemüse, dass dann gerne mit Jakobsmuschel und Trüffeln gereicht wird. Ein Fisch wie den Rouget, der einfach nur gebraten (aber wie!) mit einer Sauce aus seiner Leber serviert wird, kann als der endgültige Fisch beschrieben werden. Die Desserts sind ganz große Klasse bei Alain Ducasse au Plaza Athénée, wo es – der neuen Zeit der Genügsamkeit geschuldet – mittags einen dreigängigen Lunch mit zwei Gläsern Wein unter 300 Euro gibt.

Adressen
Tour d’Argent
Ort des luxuriösen Entenverzehrs mit Blick auf Notre-Dame.
www.tourdargent.com
La Bourse et la Vie
Entspanntes Bistro, polierte Holztische, kleine Speisenkarte. Der Ort des Pot-au-feu.
www.labourselavie.com
L’Assiette
In einer ehemaligen Charcuterie gibt es Geflügel mit Sauce Albufera.
www.restaurant-lassiette.paris
Le Dôme
In Art déco getauchter, würdiger Vertreter der gehobenen Kultur von „fruits de mer et crustacés“.
www.restaurant-ledome.com
Benoit
Der Beweis dafür, dass Hochgastronomie und Bistro näher beieinander liegen als vermutet. Referenzgericht: Kalbskopf mit Sauce gribiche.
www.benoit-paris.com
Caviar Kaspia
Themenrestaurant der kostspie­ligen Art, ein Stück vom alten ­Paris am Place de la Madeleine.
www.caviarkaspia.com
Le Grand Véfour
Guy Martin serviert hier große ­Küche in einem der ältesten Restaurants von Paris.
www.grand-vefour.com