Rat mal, wer zum Kochen kommt?

Fünf Tage war die gesamte internationale Spitzengastronomie auf den Kopf gestellt, als 35 der weltberühmtesten Köche im vergangenen Juli ihre Arbeitsplätze tauschten.

Text von Georges Desrues Foto von Alajmo

Zu Beginn wirkt Alexandre Gauthier noch sehr entspannt. An einem glühend heißen Sommertag sitzt er fröhlich und mit leuchtenden Augen beim Abendessen im pompösen Rahmen des Caffè Quadri am Markusplatz in Venedig. Soeben ist er aus dem Flugzeug gestiegen und umgehend hierhergebracht worden. Zu seiner Rechten Platz genommen hat Raffaele Alajmo, Hausherr und Gastgeber im historischen venezianischen Caffè, das eigentlich ein Spitzenrestaurant ist. Und zu seiner Linken Diego Magro, der als Souschef in Alajmos Stammhaus tätig ist, dem Dreisterner Le Calandre bei Padua. Ich selbst sitze als vierter Gast am Tisch. Keiner von uns weiß genau, was ihn die nächsten Tage erwartet. Zusammengekommen sind wir auf Einladung Andrea Petrinis, eines in Frankreich lebenden italienischen Gastro-Journalisten. Der umtriebige Petrini ist so etwas wie der oberste Zeremonienmeister, wenn es darum geht, Spitzenköche aus aller Welt für gemeinsame Projekte und Aktionen zu gewinnen.

Zudem ist er der Chairman der französischen Tester der Liste der 50 besten Restaurants der Welt und Gründer der Cook it Raw-Veranstaltungen, bei denen sich Spitzenköche und Journalisten treffen, um Ideen auszutauschen und gemeinsam Kochaufgaben zu lösen. Sein neuester Einfall nennt sich Gelinaz Shuffle. Der Name Gelinaz ist ein Akronym für die Grundbegriffe des Manifests des Koch-Kollektivs(www.gelinaz.com/about). „Die Idee besteht darin, 37 Küchenchefs aus aller Welt für fünf Tage in die Küchen jeweils anderer Küchenchefs zu schicken, damit sie dort ein Abendessen kochen“, erklärt Petrini. Alexandre Gauthier wurde also nach Padua geschickt, um im Restaurant Le Calandre zu kochen. Der dortige Küchenchef und Bruder Raffaeles, Massimiliano Alajmo, war unterdessen im Pariser Dreisterner Ledoyen zu Gast. In Gauthiers La Grenouillère an der nordfranzösischen Atlantikküste wiederum werkte Albert Adrià, spanischer Spitzenkoch, erfolgreicher Unternehmer und Bruder des mythischen Ferran Adrià, der es gar nicht gerne mag, wenn man ihn als Vater der Molekularküche bezeichnet. Aber auch sonstige Kaliber der internationalen Gastroszene beteiligten sich an Petrinis verrücktem Projekt, so fand sich etwa der Däne René Redzepi im Bangkoker Restaurant Nahm des Australiers David Thompson wieder und der Schwede Magnus Nilsson im Mugaritz im baskischen San Sebastian. Ja sogar der Großunternehmer unter den Köchen, der multipel-besternte Franzose Alain Ducasse, ließ sich zu einer Teilnahme überreden und stand auch tatsächlich am Herd. Und zwar im vergleichsweise bescheidenen wie wenig bekannten Einsterner Lido 84 am Gardasee.

„Wir legten Wert darauf, dass die Köche ein paar Tage früher eintrudeln, um die Gegend, die Küche und die Mannschaft kennenzulernen, und um sich auf all das einstellen zu können“, erklärt Petrini. Dadurch wollte man vermeiden, dass der Gastkoch einfach auftaucht, sein ganzes Zeug mitbringt und versucht, möglichst so zu kochen, wie er das von zuhause gewohnt ist. „Das hat es schon hundertfach gegeben und wäre wohl kaum sehr originell“, betont Petrini. Teil des Spiels ist es auch, dass der Name des jeweiligen Gastchefs geheim bleibt, die Gäste also erst nach dem Abendessen erfahren, wer für die Zubereitung der Speisen verantwortlich war. Zudem wurde jedem Gastchef ein Journalist als sogenannter Ambassador zur Seite gestellt, der ihm als Begleiter, als Übersetzer und Fremdenführer dienen und über seine Erlebnisse berichten sollte. Das war im Falle Gauthiers also ich.

Um die Situation des französischen Küchenchefs besser zu verstehen, ist wichtig zu wissen, dass der 36-Jährige für viele in seiner Heimat zu den großen Hoffnungen seiner Generation zählt. Häufig tritt er im Fernsehen auf, erhält gehörig Lob von allen Seiten und hat auch wirtschaftlichen Erfolg mit den drei Lokalen, die er inzwischen führt. Allerdings fallen Lob und Ehrungen nicht einhellig aus. So wurde sein Restaurant La Grenouillère im Gault Millau Guide zwar mit fünf Hauben ausgezeichnet, erhielt vom Michelin bisher aber nur einen einzigen Stern verliehen. Und das, obwohl viele Experten der Ansicht sind, es hätte längst einen zweiten beziehungsweise sogar dritten verdient. Zudem ist es heuer aus der Liste der 50 besten Restaurants der Welt hinausgerutscht. Es gibt also ganz offensichtlich noch genügend Entscheidungsträger, die Gauthier von seinem Können erst überzeugen muss.

Kein Wunder also, dass die Entspanntheit des Ankunftstages tags darauf weitgehend verflogen ist bei dem etwas rundlich gebauten und bescheiden auftretenden Franzosen. Noch dazu, wo ein Blick auf die Smartphones zeigt, dass Petrinis Projekt tatsächlich greift. Aus allen Küchenwinkeln der Welt posten inzwischen Köche und Journalisten Fotos, Kommentare und Videos von ihren Erlebnissen – der Gelinaz Shuffle ist im vollen Gang. „Das Allerwichtigste ist mir, dass sich keiner der Jungs hier in der Küche genieren muss für irgendetwas, das wir am Donnerstag servieren werden“, sagt Gauthier, bevor er gemeinsam mit Souschef Diego Magro eine Gemüsegärtnerin und Lieferantin des Le Calandre besuchen fährt. Dort sieht sich der Gastkoch das frische Saisongemüse genauer an, zupft hier an einer Kapuzinerkresse, dort an Bohnenblüten und verschafft sich so einen ersten Eindruck dessen, was er in drei Tagen verarbeiten könnte. Am Nachmittag geht es auf einen Stadtbummel durch Padua, man besichtigt die Cappella degli Scrovegni mit ihren umwerfenden Fresken, den mächtigen Platz Prato della Valle und schließlich das historische Caffè Pedrocchi, über das schon Gauthiers Landsmann, der Schriftsteller Stendhal, geschwärmt hat. Und in dem der erste Aperol Spritz fällig ist. Zum Abendessen kehrt man in einer typischen venezianische Osteria ein, isst Sarde in Saor, Tintenfische in Tinte und Stockfisch alla vicentina. Hier soll sich Gauthier ein Bild der venezianischen Küche verschaffen.

Am nächsten Morgen steht ein Besuch an am wunderbaren Fischmarkt am Rialto in Venedig. Besonders beeindruckt zeigt sich der Nordfranzose von den fangfrischen kleinen Tintenfischen und dem zarten Oktopus. „Die gibt es in dieser Form bei uns am Atlantik nicht, wir arbeiten mit viel größeren Tintenfischen und mit großen Sepien“, sagt er. Mittagessen gibt es im Ingredienti, einem Geschäftslokal gegenüber dem Le Calandre, wo die Alajmos von ihnen erzeugte und ausgewählte Lebensmittel anbieten, die man vor Ort auch verkosten kann. Das alles immer in Begleitung von Souschef Diego Magro. Er ist es auch, der dem Franzosen am Nachmittag die Küchenmannschaft vorstellt. Das zurückhaltende Wesen Magros, der mit Glatze und in weißer Kochmontur ein wenig der Werbefigur Meister Proper ähnelt, wirkt ganz offensichtlich beruhigend auf den Gastkoch. „Er gibt mir viel Sicherheit und nimmt mir die Hemmungen, was mir die Aufgabe ungemein vereinfacht“, sagt Gauthier. Es sei nämlich alles andere als ein simples Unterfangen, mit seinen eigenen Vorstellungen, seinem eigenen Arbeitsstil vor eine wildfremde Mannschaft zu treten, wie er betont. Danach inspiziert er die Kühlräume, die technischen Einrichtungen, spricht mit jedem einzelnen der Köche.

Das Abendessen findet an diesem Tag im Le Calandre selbst statt. Gauthier soll den Kochstil des Restaurants kennenlernen, die Arbeit des Servicepersonals und des Sommeliers. Mit uns am Tisch sitzt erneut der charismatische Raffaele Alajmo. Mit schwarzem Vollbart und imposanter Statur erinnert er an den italienischen Schauspieler Carlo Pedersoli, auch bekannt als Bud Spencer und Erfinder der Faustwatsche. „Die Reservierungen für das Abendessen am Donnerstag trudeln langsam ein“, freut sich Alajmo, „die meisten über das Internet und mindestens zur Hälfte von Gästen, die noch nie im Le Calandre waren.“ Petrinis Rechnung scheint also aufzugehen – auch für die gastgebenden Wirte. Ein Eindruck, der auch von Massimiliano Alajmo bestätigt wird, der sich immer wieder telefonisch aus Yannick Allénos Restaurant Ledoyen in Paris meldet. Auch dort wächst das Interesse für die Veranstaltung täglich. Gauthiers Anspannung wird indessen immer spürbarer. Zum Abendessen im Dreisterner gibt es Safranrisotto mit Lakritze sowie Tatar vom blassroten piemontesischen Rind, frittierte Goldmakrele und Capuccino vom Tintenfisch in seiner Tinte – eine bisweilen klassisch-bürgerliche, stets stark italienisch geprägte Küche, die meisterhaft zubereitet und gleichermaßen unspektakulär wie äußerst detailverliebt präsentiert wird.

Früh morgens am nächsten Tag bespricht Gauthier mit Souschef Magro sein eigenes Menü und die Einkaufsliste. Danach geht es los, zuerst neuerlich zur Gemüsegärtnerin, im Anschluss zum Fleischhauer, Fisch wurde bestellt und wird angeliefert. Noch am Vormittag macht sich Gauthier ans Kochen, obgleich das Essen erst am nächsten Tag stattfinden soll. Souschef Diego Magro versichert ihm, dass er sich jederzeit und überall in der Küche aufhalten könne, dass die komplette Mannschaft ständig alles bereitstellen und ausführen würde, was er benötigen und verlangen würde. Und dass auch ich jederzeit in der Küche willkommen sei und dort Eindrücke sammeln und Fotos schießen dürfe. „Nur während des Mittags- und des Abendservices würde ich Sie beide bitten, die Küche nicht zu betreten“, fügt Magro an. Gauthier macht sich indessen mit der Situation besser vertraut, seinen Notizblock stets in Griffweite. Immer wieder kritzelt er etwas hinein, verändert mehrmals seinen Menüplan und wirkt äußerst konzentriert, dabei auch zunehmend ungelöster.

Das Le Calandre ist inzwischen längst ausreserviert. Sogar aus Wien sind einige Gäste speziell angereist. Natürlich wollen sie alle schon im Vorfeld wissen, wer sie bekochen wird. Meiner verantwortungsreichen Rolle als Ambassador bewusst, bleiben meine Lippen selbstverständlich versiegelt. Nicht so jene Raffaele Alajmos. Der joviale Patron geht von Tisch zu Tisch und erzählt jedem, der es hören möchte, dass es sich um Alexandre Gauthier handelt und wofür dessen La Grenouillère in Nordfrankreich steht. Der französische Gast ist mittlerweile gänzlich unansprechbar. Erst als nach dem ersten Gang – einer Honigmelone mit Bohnenblüten und Crevetten aus der venezianischen Lagune – auch das erste Gästelob in der Küche ankommt, lächelt Gauthier wieder. Ähnlich problemlos verlief es mit den weiteren acht Gängen, darunter die Kutteln mit Kapern und Kapuzinerkresse, die Karden-Pastillen mit Zucchini und Gorgonzola und das Lammkarree mit Dinkel und Brennnesseln. „Ich denke nicht, dass sich irgendwer genieren muss, oder?“, fragt der junge Kochstar. Nein, lieber Alexandre, niemand braucht sich zu genieren, ganz im Gegenteil, antworte ich. Aber dass dem so ist, und das wissen wir beide, ist in erster Linie einer perfekt eingespielten Küchenmannschaft zu verdanken. Und vor allem dem Souschef Diego Magro, einem Koch voller Bescheidenheit und Zurückhaltung, dem jegliche Starallüren fremd sind. „Die Wichtigkeit der Souschefs und der Mannschaften herauszukehren, war auch das Hauptziel der gesamten Aktion“, sagt Organisator Andrea Petrini, „normalerweise fahren Küchenchefs irgendwohin und ihre Brigade leitet in der Zwischenzeit das Restaurant in ihrem Sinne weiter. Hier aber ist der Boss weg und ein anderer übernimmt, was einer Art Putsch in Abwesenheit gleichkommt.“ Und weil die Köche und Mannschaften daran soviel Gefallen gefunden haben, soll das putschartige Experiment auch im Herbst 2016 wiederholt werden.

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