Rote Wand Chef’s Table

Foto von Angela Lamprecht
Text von Alexander Rabl

Schmecken lernen

Am Nachmittag kann man Julian Stieger manchmal im Jogging-Outfit und mit am Oberarm angeschnalltem Mini-Fitness-Computer durch Zug laufen sehen. Der junge, immer sympathisch ruhige Koch verfügt augenscheinlich über eine gute Kondition und großes Durchhaltevermögen. Seine Laufbahn durch einige der besten Restaurants der Welt spricht ­dafür. „Ich habe mir von überall das Beste angeeignet und zurückgelassen, was mir weniger gefiel“, sagt er im Gespräch. Julian Stieger ist ein Tüftler, der nie aufgibt, der Nages, Saucen und Fonds mehrstufig aufbaut, Gemüse und Fisch oder Fleisch ebenso behandelt, bis das Ergebnis seinen Vorstellungen entspricht.

Im Schulhaus geht es gar nicht oberlehrerhaft zu, die Lockerheit der At­mosphäre, mehr Montessori als staatliche Schulpflicht, hat Stieger von seinem Vorgänger Max Natmessnig übernommen, der gerade die Reise nach Brooklyn angetreten hat, wo die ganze Chef’s Table-Idee bei Rote Wand-Patron und Innovator Joschi Walch einst entstanden ist. Das Esserlebnis ist groß und teilt sich in zwei Teile, der erste findet auf bequemen Sitzgelegenheiten im Erdgeschoß des ehemaligen Schulgebäudes statt. Es gibt aufregend guten Champagner und kleine Happen, mal in Schalen, dann als Tartelette, die auf unterschiedliche Weise die Sensorik teasern. Im ersten Stock dann geht es zur Sache, der Spannungsbogen, den das kleine Küchenteam aufbaut, hält von der ersten bis zur letzten Sekunde, wiewohl die fantastische Weinfolge das Aufnahmevermögen während der letzten Teller leicht eintrübt.

Zwischendurch erläutert Professor Stieger ein paar Details, zum Beispiel, dass der Zuger Saibling (ein größeres Exemplar) erst über Nacht eingesalzen und dann geräuchert wurde, schließlich mit gemahlenen Algen gestäubt, und dass die klare Nage, in welcher der Fisch serviert wird, mit Gemüsestocks aufgebaut und Rosmarin ausgezogen wurde, Rauchöl dazu. Eine Steckrübe wird gehobelt, mit Ingwer-Custard wie eine Mille-feuille gebacken, gepresst, gebacken, ausgestochen und mit anderen unterschiedlich zubereiteten Steckrüben serviert, dazu eine Creme aus konfiertem Knoblauch, Meerrettich-Beurre-blanc und Holunder, in Essig eingelegt.

Lange gebastelt und nachgedacht habe man beim Blutwurstbrot, dem einzigen Brotgang des Menüs, daraus ein Bun bereitet, gekühlt, gebacken, eine Roscoff-Zwiebel-Marmelade darauf, Kräutermayonnaise, Kräutersalat und schwarze Périgord-Trüffel. Jeder Teller eine Diplomarbeit der Hochküche, wie sie nur ein Koch zusammenbringt, der in seinem Leben schon vieles gesehen und probiert hat. Und doch, was vielleicht kompliziert klingt, erzeugt ein transparentes, wenn auch vielschichtiges Geschmacksbild. Eine breite Range an Herkünften und Geschmäckern bietet die Weinbegleitung, souverän präsentiert von einem jungen Sommelier, der sich mit „Hansi“ vorstellt und über ein Weinwissen verfügt, als würde er einen Chip von künstlicher Intelligenz eingebaut haben.

Hat er aber nicht. Auch die alkoholfreie Begleitung zum Essen ist im Schulhaus einfallsreich und exzellent, wobei der Autor dazu nur Fremdberichte zitieren kann. Zur Foie gras mit Rhabarber gibt es Enten-Ramen, die Leber auf den Punkt gebraten, dazu etwas Kohlrabi und Schnittlauch, Ingwer und Jalapeño. Viel Arbeit für eine Sauce, die das Gericht tragen muss. Goldforelle wird mit Sonnenblumen bedeckt, die Sauce besteht aus Muschel-Stock, Butter, Obers, Sonnenblumenkernen und Goldforellenkaviar, und sie ist löffelweise eine sanfte Wucht. Schließlich Taube, mit Koji bestrichen, gebraten, mit Wacholder gegrillt, mehrere Arbeitsschritte, die die Küche des Hauses kennzeichnen.

Sanft und dezent süß wird der Gast mit einem Dessert aus Bratapfel in den Abend entlassen, wobei er zuvor noch einmal im Erdgeschoß Halt macht, um sich für den Heimweg mit kleinen Süßigkeiten und Tee zu stärken. Kann man sein Schmeckvermögen verbreitern und dabei dennoch Vergnügen haben? In dieser „Schule“ ist beides möglich. Am nächsten Tag gibt es in Joschi Walchs ebenso famos geführten Stuben Krautfleckerl und Wiener Schnitzel

© Angela Lamprecht
© Ingo Pertramer

Küche: 5
Atmosphäre: 5
Weine: 4,5

Rote Wand Chef’s Table
Zug 5, 6764 Lech
T 05583/343 50
rotewand.com