Sonne oder Schatten

Krieg der Sterne? Harmlos, wenn es zum Krieg um den besten Tisch im Gastgarten kommt. Eva Rossmann über schattige Gastgärten und einen Platz an der Sonne.

Sonne oder Schatten

Text von Eva Rossmann Illustration: Auge
Endlich Sommer und vor allem die Menschen in der Stadt drängen ins Freie. Was ist schöner, als einen stressigen Tag bei ein paar Gspritzten und einem leichten Abendessen im Freien ausklingen zu lassen? Was erholsamer, als für einige Stunden aufs Land zu fliehen, in einen Gastgarten unter große Kastanienbäume, die Kinder toben abseits gefährlicher Straßen und ein Sonntagmittag verwandelt sich zum Sonntagnachmittag, Richtung Abend, endlich Luft und Zeit.
Und wenn es nicht ganz so idyllisch geht, dann geben es die meisten von uns auch billiger. Der Platz im Schanigarten in Wien ist hart erkämpft, er musste gegen sieben Japanerinnen verteidigt werden, und dass einen der große Hund vom Nachbartisch aus sieben Zentimeter Entfernung so hungrig anschaut, sollte man ignorieren, bevor man ins Grübeln kommt: Meint er jetzt mich oder mein Carpaccio (das ich ohnehin lieber nicht bestellen hätte sollen, offenbar gibt es das Zeug jetzt auch schon als Fertigware aufgeschnitten und abgetrocknet)? Und was die schattigen Kastanienbäume angeht, so hat bekanntlich die meisten die Miniermotte gefressen.
Sonnenschirme machen ohnehin weniger Mist, sagen abgeklärte Wirtsleute. Aber, und: Sonnenschirme kann man besser verschieben als Bäume oder Tische. Das ist ein Vorteil, wenn man Gästen länger als eine halbe Stunde ein schattiges Plätzchen garantieren möchte. Es wird zum Nachteil, wenn Gäste selbst beginnen, an den Schirmen zu rücken. Das kann in Gruppentherapie oder Massenpanik ausarten. Tisch 26 hätte nämlich gerne Schatten, Tisch 27 aber nur auf dem Platz, an dem die Großmutter sitzt. Wenn Tisch 26 den Schirm aber so verschiebt, dass ihnen die Schoko-Mousse nicht wegschmilzt, dann ergibt sich aus Einfallswinkel und Wanderung der Sonne, verbunden mit dem Neigungswinkel und der Fläche des Schirmes, dass die auf Tisch 27 ungehalten werden. Jetzt sind sie nämlich auch im Schatten (bis auf die Großmutter, der das aber eigentlich eh egal ist).
Krieg der Sterne? Harmlos, wenn es zum Krieg um die Sonne kommt. Und wie schlichtet man dieses nahezu intergalaktische Problem? Gibt es genug andere Tische, kann man den Gästen ja anbieten, zu wandern. Dafür braucht es nicht mehr als fünf Minuten und zwei Kellner, die alles transferieren. Kein Problem, um Gäste glücklich zu machen – ups, wären da nicht die anderen Gäste, die hungrig und durstig zuschauen.
Warum, bitte, dauert es heute so lange, um unsere Flasche Weinviertel DAC zu bekommen? Gibt doch genug davon, oder? Es sind doch nicht einmal alle Tische besetzt? Service wohl in der Sommerpause oder ins Hitzeloch gefallen, was?
Und schon wieder ein mathematisches Problem, allerdings leichter zu rechnen als die Sonnenneigungs-Schirmflächen-Gleichung. Bei Schönwetter dehnen sich Lokale aus. Zumindest solche, deren Besitzer sich hart und trotzig (wie hart wissen oft nur BezirksbehördenvertreterInnen, Nachbarn und die zuständigen Sicherheitskräfte) Garten- und Terrassenplätze erkämpft haben. Für ihre Gäste. Um dieser Sehnsucht nach dem schattigen (oder sonnigen) Gastgarten entgegenzukommen. Und natürlich auch für den Umsatz.
Wenn Buchingers Gasthaus "Zur Alten Schule", bei dem ich nach wie vor mitkochen und Erfahrungen sammeln darf, gerammelt voll ist, dann sind rund 75 Plätze belegt. Wenn es Sommer ist, finden theoretisch bis zu 150 Menschen Platz. – Vorausgesetzt ein Teil von ihnen findet sich damit ab, unter Dach zu essen. Was aber, wenn sich Stadt und Land mischen, auch kein Problem ist. Denn im Gegensatz zu den Städtern gibt es unter der Landbevölkerung nach wie vor viele, die es deutlich erhebender finden, an einem schön gedeckten Tisch im Inneren eines Lokales zu speisen. Kommt wahrscheinlich noch aus der Zeit, in der die meisten von ihnen den ganzen Tag ohnehin im Freien arbeitend verbracht haben.
Meistens ist ohnehin nicht jeder Platz belegt, ein Tisch im Garten ist frei, zwei auf der Terrasse und vier in der Stube. Also: Warum dauert es heute zehn Minuten länger, bis dieser ganz spezielle Sommersalat kommt? Noch einmal rechnen und dann: Anstelle der maximal 75 Plätze sind 120 belegt. Klar kann man sich das mit dem Personal richten, aber: Die Küche wächst nicht mit. Und: Ein Wirt sollte dann nicht nur perfekter Organisator und Herr über viele verfügbare und sofort abrufbare Aushilfskräfte sein, sondern auch diplomierter Wetterprophet. Weil anders als in mediterranen Gefilden (in denen alle besseren Lokale fast ausschließlich drinnen servieren, manchmal mit Klimaanlagen, für die man die Verantwortlichen eine Stunde im Kühlhaus einsperren sollte), ist bei uns nix fix.
Wetterprognose sonnig bis bewölkt und hin und wieder vorüberziehende Schauer. Man verlässt sich auf das "sonnig" – und es schüttet. Es kann aber auch umgekehrt sein oder genau dazwischen.
Der Sommer-Mega-Gau: Es ist sonnig und warm, alle sitzen im Garten und plötzlich: schwarze Wolkenwand, zwei Minuten Sturm, Gewitter, es schüttet. Alles flüchtet ins Innere. Seriöse Lokale sind ohnehin nicht wie Fluggesellschaften, hier wird nicht "überbucht" (oder nicht so häufig): Da das Wetter bekanntlich wechselhaft ist, soll jeder auch einen Platz drinnen haben – nur wenn der Fall eintritt, dass er schnell gebraucht wird: Kellner versuchen die draußen aufgebauten Servicestationen ins Trockene zu bringen, stoßen mit Gästen, die mit Gläsern, halb gegessenen Speisen, Handtaschen und Hunden bewaffnet sind, zusammen. Jeder rettet sich selbst (und manchmal auch Kinder, Großmutter oder Liebste), erobert schließlich einen Tisch im Inneren des Lokals. – Bloß dass jetzt das Chaos erst so richtig losgeht.
Denn das Servicepersonal erkennt Gäste und ihre Bestellungen (Stammgäste sind hier wieder einmal die Ausnahme und haben einen Vorteil mehr) nicht immer am freundlichen oder regennassen Gesicht, sondern jedenfalls an der Tischnummer. Tisch 26 sitzt jetzt aber auf Tisch 5 und Tisch 31 auf 11. Ein Suchspiel mit Zahlen und Gesichtern und Bestellungen beginnt und ich bin ganz besonders froh, in der Küche zu sein. Wir haben – trocken, wenn auch heiß (im Sommer kriegt so eine Küche beim Herd schon 50 Grad im Schatten) und unbeeindruckt vom Chaos – sowohl die Vorspeisen für Tisch 26 als auch die Hauptspeisen für 31 fertig. Wohin damit? Bei allem Mitleid nicht unser Problem, nur raus muss es, sonst wird das Gelee warm und der Fisch kalt.
Aber da quält die Chefin auch noch der ehemalige Tisch 32, der drinnen keinen Platz bekommen hat. Zwar war nicht überbucht, aber was macht man, wenn bei schönstem Sonnenschein vier hungrige Gäste kommen, sehen, dass zwar draußen alles besetzt, aber im Inneren des Lokals das Meiste leer ist und meinen, ihnen sei eine luftige Gaststube gerade recht? Wegschicken, nur weil ein Wolkenbruch kommen könnte? Sie würden einen für verrückt halten. Und die meisten Wirte sich selbst auch. Also, nach einem kurzen Blick auf den strahlenden Himmel, "Bitte, nehmen Sie Platz!"
Natürlich kann man das Lotteriespiel mit dem Wetter auch teilweise den Gästen überlassen. Telefonischer Reservierungsversuch. "Leider, Sonntagmittag sind wir voll." – "Auch im Garten?" – "Wir nehmen Reservierungen nur für drinnen an, damit jeder jedenfalls einen Platz hat, falls das Wetter wechselt …" –"Macht nichts, tragen Sie uns für den Garten ein." – "Die Wetterprognose ist nicht besonders … und wir können Ihnen keinen Tisch im Inneren … " – "Wird schon gehen, wir riskieren es." Für den Sonntag gibt es dann vier bis vierzig Möglichkeiten: Das Wetter ist ohnehin prächtig. Gewonnen. Das Wetter ist schaurig, die Gäste kommen trotzdem, sagen, sie haben reserviert und sind stinksauer, wenn kein Eckchen frei ist. Das Wetter ist wechselhaft und die Gäste frieren. Das Wetter ist schaurig und die Gäste kommen nicht. Aber seit wann ist eben in der Gastronomie und in der Wetterprognose alles vorhersehbar?
Ein Gartenerlebnis der anderen Art hat mich allerdings einst als Gast ereilt. Die letzten Tage war das Wetter mies, jetzt: endlich Sommer. Wir gehen mit Freunden in ein gar nicht so unbekanntes Lokal, uns überkommt (wie den Großteil der Bevölkerung) die Sehnsucht nach Luft und Sonne. Wir schauen in den Gastgarten und sagen der Chefin, wir möchten lieber hier sitzen. Antwort: Der ist aber nicht gedeckt. Macht nichts, lautet unsere freundliche Antwort, alles ist sauber.
Und Schirme kann sie jetzt auch nicht aufstellen. Macht nichts, lächeln wir, nach dem vielen Regen tut Sonne ohnehin gut.
Saures Gesicht der Chefin. "Glauben Sie wirklich, ich laufe wegen Ihnen in den Garten servieren?" Der Garten ist von der Küche gleich weit entfernt wie der – großteils leere – Gastraum. Verdattert ließen wir uns einen Tisch zuweisen, irgendwie haben wir uns nicht einmal getraut, zu gehen.
Aber wiedergekommen sind wir auch nicht. Jetzt, wo ich ein bisschen mehr über das Gartengeschäft weiß, als ich mich je zu fragen getraut hätte, sehe ich die Sache noch immer gleich: Wir hätten die Gute nicht über Gebühr gefordert. Und, etwas zynisch gesagt: Wer sich auf einen Garten einlässt, muss mit der Sonne sowie mit Gästen rechnen.
Dass es andererseits ein Naturgesetz zu geben scheint, laut dem sich Gäste im Garten immer so weit wie möglich von der Türe zu Küche und Schank wegsetzen, davon können viele Kellnerinnen und Kellner erzählen. Vielleicht wäre überhaupt das Verhalten von Gästen im Freien eine lohnende Diplomarbeit für eine Soziologiestudentin – oder einen Verhaltensforscher. Strebsame Doktoranden könnten da dann noch das Verhalten des Servicepersonals einbeziehen. Etwa den Kellner, der jedes Mal, wenn er in die Küche kommt, stöhnt: "Haaaas is es draußen!" (In der Küche ist es wärmer.) Oder unseren Rudi, der es fertig bringt, zur gleißenden Sonne aufzusehen und zu meinen: "Heut‘ ist Vollmond." – "Warum Rudi?" – "Kenn ich nicht Sternenkonstellation, aber spür‘ ich es schon früher." Oder den coolen Jungkellner mit dem Versuch, sich wie in der Wintersaison am Arlberg hinter dunklen Sonnenbrillen zu verstecken. Oder die Diskussion, ob bauchfrei bei Servicemitarbeiterinnen (und wenn, bis zu welchem Alter) erlaubt sein sollte …
Endlich jedenfalls ist es Sommer, und wenn ich kurz aus der Küche gehe, um Luft zu schnappen, dann weiß ich, was wir am Ruhetag machen: Wir werden am Abend in einem schattigen Gastgarten sitzen, oder jedenfalls fast, ich nämlich will einen Platz an der Sonne, solange sie noch scheint.