Sprung in der Schüssel

Mit goldenem Lack oder Kleber werden Wunden verarztet und Unikate noch einzigartiger gemacht: Kintsugi, das Reparieren von gesprungenem Geschirr nach japanischer Tradition, ist in der Gastronomie angekommen.

Foto von Getty Images, Lukas Nagl
Text von Anna Burghardt

Selbst Tellern, die im westlichen Sinn als kaputt gelten, wohne eine Schönheit inne, die es wahrzunehmen gelte.

Dass Kintsugi derzeit so geschätzt wird, hat mehrere Gründe. Wer sich von einer Keramikerin stapelweise Geschirr maßschneidern lässt, das teilweise sogar speziell für ein einziges Gericht entwickelt wird, tut sich schwer damit, auf Stücke, die mehr oder weniger leicht angeschlagen sind, zu verzichten. Nicht nur aus nachvollziehbaren finanziellen Gründen – hohe zweistellige oder sogar dreistellige Beträge pro Schüssel sind keine Seltenheit –, sondern auch wegen der Arbeitszeit, die dahintersteckt, und der Einzigartigkeit der eigens angefertigten Keramik. Gerade den derzeit so angesagten Tellern und Schalen mit sichtbaren Handwerksspuren steht eine ebenso offensichtlich händisch aufgetragene goldene Linie jedenfalls bestens zu Gesicht.

Der Technik Kintsugi spielt weiters das noch nicht omni-, aber doch präsente Nachhaltigkeitsdenken in die Hände: Man kann als Restaurant nicht Zero Waste predigen und mit einem Herz für krumme Karotten und Karfiolstrunk-Kimchi werben, wenn man gleichzeitig voll funktionstüchtiges Geschirr mit kleinen Makeln aussortiert, um es durch neues zu setzen, das wiederum Rohstoffe und Energie erfordert. Angeschlagenen Tellern ein zweites, drittes, viertes Leben zu schenken, indem man sie mit goldenem Kitt repariert, bringt zum Glück mittlerweile bei vielen Gästen Punkte. Für andere heißt es noch umdenken, hatte doch ein Gericht, das auf gesprungenem Geschirr serviert wird, vor allem in teureren Restaurants immer einen gewissen Hautgout.

Der Chef macht’s persönlich: Lukas Kienbauer ­repariert zerbrochenes Geschirr für seine Lokale in Schärding selbst. Foto Lukas Nagl

Einer der Ersten in Österreich, der abgesprungene Kanten mit Gold reparieren ließ, wenn nicht überhaupt der erste Nichtjapaner, war Helmut Rachinger vom Mühltalhof. Kintsugi war damals noch kein Begriff, auch Rachingers prägende Japanreise erfolgte erst danach. Ausgeschlagene Ecken in Porzellantellern, die ihm besonders lieb waren oder einfach besonders teuer – „da reden wir aber von dreißig Euro oder so, das ist nach heutigen Maßstäben absolut kein hoher Preis“ –, ließ er von einem Zahntechniker gleichsam verputzen. „Dem war das zum Glück nicht zu blöd.“ Je nach Größe der „Patzer“, wie Helmut Rachinger es nennt, kostete ihn ein Teller bis zu 150 Euro. Dieser Preis allein mache aber nicht den neuen Wert der Stücke aus: Vielmehr sei es die Beschäftigung damit, die Zeit, die man einem Gegenstand mit Gebrauchsspuren zuteilwerden lasse. „Ein Socken wird auch aufgewertet, wenn ich mir die Zeit nehme, ihn zu stopfen. Oder denken wir an einen Pullover, der aus aufgetrennter Wolle ­gestrickt wird …“

Im 100/200 in Hamburg, einem Restaurant mit „Sustainable Fine-Dining“, so die Eigenbeschreibung, fügen sich das Reparieren von Geschirr nach der Kintsugi-Philosophie und das zweite Leben, das man einem Produkt ermöglicht, bestens in die Denkweise. Gleichsam als Statement gegen die Wegwerfgesellschaft. Teller von Hering Berlin (nicht gerade als günstig bekannt) werden selbst ausgebessert, nachdem das Team einmal etwas zur Reparatur an einen entsprechenden Dienstleister gegeben hat, damit aber nicht zufrieden war. Die Materialien, das Kunstharz-Epoxy und die Goldfarbe, findet das 100/200 im Künstlerbedarfshandel. „Wir machen alles autodidaktisch und somit auch in vielen verschiedenen Varianten.“ Ein weiterer Kintsugi-Autodidakt ist der junge Koch ­Lukas Kienbauer, der im oberösterreichischen Schärding neben dem Lukas Restaurant und dem Lukas Steak auch das japanisch inspirierte Lukas Isakaya führt. Und sich dennoch Zeit nimmt für die Reparatur seines ­Geschirrs. Da die klassischen japanischen Materialien nicht spülmaschinenfest sind, greift er zu einem „simplen flexiblen Kleber aus dem Bastelladen“ und fügt etwas Goldpulver hinzu.

Im 100/200 in Hamburg fügt sich die Kintsugi-Philosophie bestens in das Konzept des „Sustainable Fine-Dining“.

Auch Michael Bauböck aus der Steirereck-Küchenmannschaft hat sich das Verarzten mit goldener Masse selbst beigebracht. „Bei uns haben sich die ausgeschlagenen Teller von Petra Lindenbauer gestapelt und gestapelt, und wir wissen ja, wie viel Herzblut in diesen Unikaten steckt.“ Der Koch, der mit seinem Label VMceramic nebenbei als Keramiker aktiv ist – seine Stücke offenbaren eine große geistige Nähe zu ­Japan –, hat zunächst das Internet als Fortbildungsquelle herangezogen. „Die Tipps waren aber so trivial, das hat alles nicht wirklich funktioniert.“ Weitaus hilfreicher war der Erfahrungsaustausch mit dem Souschef des Michelin-Dreisterners Frantzén in Stockholm, der dort für Kintsugi zuständig war. „Seither sind unser beider Teller immer besser geworden.“ Bauböck arbeitet „mit der verkürzten Methode quasi“, ohne den wertvollen pflanzenbasierten ­Japanlack, stattdessen mit einem Zweikomponentenkleber und lebensmittelechter Gold- oder Silberfarbe, die untergemischt wird. Ein bis zwei Mal im Jahr setzt sich der Koch an einen Stapel Teller, nimmt Tape zum Abkleben, Schleifpapier, Kleber und Farbe zur Hand und verarztet mit der gegebenen Sorgfalt die Wunden, wie er es nennt. Und zwar nur jene von Tellern oder Schalen, die geringfügige Schäden haben, „einen Cut am Rand oder einen Sprung“. Einen in viele Einzelteile zerbrochenen Teller mit einem ganzen Netz aus goldenen Linien zu überziehen, hält er für nicht sinnvoll. „Es muss ja auch optisch passen.“ Das Serviceteam im Steirereck wird manchmal mit der Frage konfrontiert, warum man das so mache. „Wir ­haben also eine Formulierung für den Gastraum ertüftelt.“ Eine Formulierung, die sich aus Michael Bauböcks Erfahrungen in Japan speist. „Dort erklärt man es nämlich so: Ausgebesserte Stücke, die ins Leben zurückgeholt werden, haben eine viel höhere Wertigkeit als fabrikneue. Weil sie eine Geschichte zu erzählen haben.“ —

„Ausgebesserte Stücke haben eine viel höhere Wertigkeit
als fabrikneue. Sie haben eine
Geschichte zu erzählen.“

Michael Bauböck, Steirereck