Ticketing

Seit Kurzem muss man in zahlreichen Restaurants im Voraus bezahlen. Für die Wirte bringt das zweifellos Vorteile. Ob aber auch die Gäste ihr Abendessen so buchen wollen wie einen Konzertbesuch oder ein Flugticket, muss sich erst zeigen.

Text von Georges Desrues · Illustration von Andrea Krizmanich

Mario Bernatovic ist verärgert und sagt es deutlich. „Es geht hier um ein echtes Problem, das man endlich angehen sollte, weil es immer schlimmer wird“, findet der Wirt und Chefkoch des angesagten Wiener Restaurants Kussmaul. Was des Erfolgsgastronomen Ärger erregt, sind die sich häufenden Phantomgäste, solche also, die zwar Tische reservieren, aber niemals im Restaurant auftauchen. „Erst vergangenen Samstag waren es ganze sechs Tische, die unbesetzt blieben. Das sind beträchtliche finanzielle Einbußen, man muss ja schließlich auch das Personal bezahlen, das man in manchen Fällen aufgestockt hat, je nach Reservierungslage“, empört sich Bernatovic. Noch dazu sei sein Lokal nicht in einer stark frequentierten Straße gelegen, ein neuerliches Besetzen der Tische durch Laufkundschaft also nahezu unmöglich.

Warum Gäste so etwas tun, kann auch der Wirt nur vermuten. „Natürlich lassen wir uns bei der Reservierung eine Rückrufnummer geben, nur wenn wir dann anrufen, hebt entweder niemand ab. Oder aber es wird behauptet, man habe eh storniert, was freilich gelogen ist, weil wir das natürlich eintragen würden“, sagt er. Und dann gebe es auch noch Gäste, wie beispielsweise manche Herren, die gleich in mehreren Lokalen reservieren. „Sie wollen ihrer neuen Flamme imponieren, dafür lassen sie die Begleiterin aus fünf Lokalen auswählen, um ihr zu beweisen, dass sie, wenn sie es wollen, überall einen Tisch bekommen“, so Bernatovic. Auch habe er schon erlebt, dass ein Gast mit seiner Begleitung bei ihm im Kussmaul saß, von da im Restaurant Tian anrief und einen dort reservierten Tisch stornierte, angeblich weil sowohl er als auch die Begleitung erkrankt seien. Eine bodenlose Frechheit, wie er findet.

Um dem Treiben ein Ende zu setzen, würde der Wirt am liebsten die Kreditkartennummer des Reservierenden erfragen und bei Nichterscheinen eine Pönale abziehen. „So etwas ist in der Spitzengastronomie anderer Länder durchaus üblich und gehört auch hierzulande eingeführt. Ich dachte da an eine Summe von um die 60 Euro pro Person, was sowieso nicht allzu viel ist“, findet Bernatovic. Das Problem dabei aber sei, dass man so etwas freilich nicht im Alleingang einführen könne. Da brauche es schon einige Kollegen in der gehobenen Restaurantszene, die mitmachen müssten, damit man sich keine schlechte Nachrede oder gar einen Wettbewerbsnachteil einhandle.

Tatsächlich gibt es zahlreiche Lokale in den USA, in Großbritannien oder auch in Spanien, die bei Nichterscheinen eine Pönale verrechnen und die Kreditkarten besagter Phantomgäste belasten. Inzwischen bieten aber auch etliche Firmen Software und Smartphone-Apps an, die den Lokalbetreibern das Verwalten der Reservierungen abnehmen und in manchen Fällen auch die Straf­gebühr eintreiben. Der Marktführer unter ihnen ist die Firma OpenTable, die bereits seit 1998 aktiv ist, weltweit tausende Restaurants zu ihren Kunden zählt und nach eigenen Angaben im Jahr 2014 34 Millionen Dollar umgesetzt hat, bevor sie im selben Jahr um 2,7 Milliarden Dollar an Priceline verkauft wurde – ein Unternehmen, das auch Internetseiten wie Kayak und Booking.com betreibt. Doch für den Gast ist die Reservierung über OpenTable kostenfrei. Und sollte er zum ausgemachten Zeitpunkt der Reservierung nicht im Restaurant erscheinen, erwartet ihn lediglich eine Verwarnung oder, im schlimmsten Fall, eine Verbannung aus dem System. Deswegen hat sich Nick Kokonas etwas anderes einfallen lassen und vor einem halben Jahr ein System namens Tock auf den Markt gebracht.

Dessen wesentlicher Unterschied zu herkömmlichen Reservierungssystemen besteht darin, dass der Gast mit der Tischreservierung zugleich schon sein Essen bezahlt. Der Erfolg hat offenbar nicht auf sich warten lassen. „In diesen ersten sechs Monaten haben 70 Restaurants unsere Dienste in Anspruch genommen. Wir sind in 23 Städten in sechs Ländern vertreten und haben Buchungen für 80 Millionen Dollar in Empfang genommen“, freut sich Kokonas, dessen allererste Kunden seine eigenen Restaurants waren. Denn der Unternehmer ist Mitbesitzer einiger höchst angesagter Lokale. So betreibt er mit seinem Partner, dem Starkoch Grant Achatz, in Chicago drei Restaurants, darunter das vom Guide Michelin mit drei Sternen geadelte Alinea.

„Täglich erhalten wir drei bis fünf Anfragen von Lokalen, die das System einführen wollen“, fährt Kokonas fort, „und das, ohne bisher auch nur einen einzigen Cent in Marketing investiert zu haben.“ Zu seinen Kunden gehören inzwischen auch Thomas Keller mit seinen beiden Dreisternern The French Laundry in Napa und Per Se in New York sowie Daniel Patterson mit seinem Zweisterner Coi in San Francisco. In Großbritannien konnten das gleichfalls mit drei Sternen ausgestattete The Fat Duck von Heston Blumenthal gewonnen werden sowie der aufstrebende Einsterner The Clove Club. Unter den Nordmännern vertraute René Redzepi in seinem laufenden Pop-Up-Restaurant Noma Sydney auf die Software. Und auch der Schwede Magnus Nilssons entschied sich für ein Vorausbezahlsystem, wenn auch von einem anderen Anbieter. Und das, obgleich in Nilssons abgelegenem Restaurant Fäviken in der Einöde Mittelschwedens, zu dem die Gäste extra anreisen müssen, wohl kaum einer unter ihnen auf die Idee käme, kurzerhand doch lieber in Stockholm zu bleiben.

Auffällig an der Liste der teilnehmenden Lokale ist jedenfalls, dass es sich hierbei durchwegs um Restaurants handelt, die ein fixes Menü anbieten, der Gast also nicht von der Speisekarte wählen darf, was eine Vorausbezahlung naturgemäß vereinfacht. Doch das System sei äußerst flexibel, betont Kokonas, und überlasse es dem Gastwirt, welche Art von Bezahlung er gleich vorweg verrechnen wolle. So könne dieser entscheiden, ob er nun lediglich eine Anzahlung, eine Garantie oder eben den gesamten Preis eines Menüs inklusive oder exklusive Trinkgeld einbehalten wolle. „In Wahrheit bieten die meisten Restaurants heutzutage verschiedene Arten von Erlebnis an. Sie haben beispielsweise einen Speisesaal und eine Bar, servieren im Sommer im Freien und organisieren Weinverkostungen, Neujahrs-Diners und sonstige Events. Durch unser Reservierungssystem können auch Restaurants, die nicht ausschließlich Degustationsmenüs anbieten, diese unterschiedlichen Erlebnisse ihren potenziellen Gästen besser präsentieren und auch besser auf diese eingehen, als wenn sie nur eine einfache Reservierung entgegennehmen würden“, sagt er.

Darin sieht der Gründer von Tock nicht weniger als einen Meilenstein in der Geschichte des Gastgewerbes. „Restaurant-Reservierungen sind über die letzten hundert Jahre mehr oder weniger unverändert geblieben. Auch OpenTable hat eigentlich nur das bestehende Reservierungssystem einfach digitalisiert, was zu der Zeit sicher eine super Sache war. Aber inzwischen hat sich neuerlich einiges geändert in der Art, wie wir kommunizieren. Oder sagen wir es so: Was ist Ihnen lieber: Von einer unbekannten Nummer aus angerufen und gebeten zu werden, ihre Reservierung zu bestätigen? Oder ein Mail mit einer Google-Straßenkarte und einer Wegbeschreibung zum Restaurant zu erhalten?“, fragt Kokonas, ohne auf eine Antwort zu warten. Abgesehen davon würde durch Tock auch einer der ältesten Träume jedes Gastwirtes erfüllt, indem es ihm nämlich die Option bietet, seine Gästeschaft über den Tag oder Abend hinweg gewissermaßen aufzuteilen.

Tatsächlich sieht das System die Möglichkeit vor, bestimmte Zeitfenster zu unterschiedlichen Preisen anzubieten. Demzufolge bezahlt jemand, der einen Tisch um 20 Uhr reserviert, mehr als ein anderer, der sich um 18 Uhr zu Tisch setzen möchte. Das komme, so Kokonas, sowohl dem Wirt als auch dem Gast entgegen. „Es ist mit Sicherheit die revolutionärste Neuerung. Seit der Einführung dieser Option haben wir gesehen, dass die teureren Prime-Time-Tische als allererste ausgebucht sind, alle anderen im Anschluss sukzessive besetzt werden. Viele Gastwirte sind sie gar nicht bewusst, wie wichtig es für ihr Geschäft ist, ihre Reservierungen möglichst gut zu verteilen. Darum arbeiten wir an diesem Punkt stetig weiter, auch um zu errechnen, wie groß die Preisdifferenzen zwischen den einzelnen Zeitspannen einerseits sein müssen, um dem Wirt möglichst wenig Verlust einzubringen. Und andererseits sein dürfen, um keine Gäste abzuschrecken“, erklärt er.

Dass Tock auch den Gästen entgegenkomme, ist überhaupt eine Behauptung, die Kokonas gerne wiederholt. „Die meisten konventionellen Reservierungssysteme behaupten, dass sie dem Wirt mehr oder ‚bessere‘ Gäste verschaffen. In Wahrheit erledigen das heutzutage die Stadtpläne oder Suchmaschinen im Internet. Firmen wie OpenTable, die bei jeder einzelnen Reservierung kassieren, trachten indessen danach, den Gast so weit es geht an sich zu binden, um dem Wirt mehr verrechnen zu können“, sagt er. Bei Tock schaffe man im Unterschied dazu Tools, die zu mehr Gastlichkeit führten, indem sie den Gast und den Wirt direkt verbänden, was dem Wirt ein konstanteres Geschäft und dem Gast einen bessere Betreuung verschaffe. Verrechnet wird dem Gastwirt dafür eine monatliche Flatrate von zurzeit 695 Dollar.

Doch gerade das mit der Gastlichkeit ist ein Aspekt, den Kritiker des Systems nicht unbedingt erkennen können. Denn selbst wenn Kokonas sich überzeugt zeigt, dass Tock sich in naher Zukunft auch am europäischen Kontinent und da nicht nur in absoluten Spitzenlokalen durchsetzen wird, so bleibt doch die Frage offen, ob tatsächlich alle Gäste sich darauf einlassen werden. Selbst in den USA, wo der Gast in der Regel weniger König ist als der Unternehmer, haben sich schon einige Lokale nach nur wenigen Monaten von dem Vorausbezahlsystem wieder verabschiedet. Unter ihnen etwa das Spitzenrestaurant Volver in Philadelphia. „Die Gäste hier bei uns waren offenbar nicht willig, vorweg für ihr Essen zu bezahlen“, sagte Scott Steenrod, der Manager des Restaurants zu einer lokalen Zeitung, „aber das kann sich ja in Zukunft ändern, wenn sich diese Art der Bezahlung herumgesprochen und in den Köpfen der Leute durchgesetzt hat.“ Bis dahin ist man im Volver zu einem konventionellen System zurückgekehrt. Und verrechnet einem Gast, der seiner Reservierung nicht Folge leistet, 75 Dollar, also umgerechnet 66 Euro. Und damit nur unwesentlich mehr, als der Wiener Mario Bernatovic von seinen Phantomgästen gerne kassieren würde.