Treibstoff

Die kochende Elite hat Gefallen an filigranen Pflänzchen wie Haferwurzelblatt, Tahoon-Kresse und Weizengras gefunden. Sie kauft die teuer gehandelten Nischenprodukte grammweise ein oder versucht sich im Eigenanbau.

Treibstoff

Text von Claudia Schemerl-Streben

Fotos von Stephanie Golser

Sie mögen es dunkel, feucht und warm. Wer sie begutachten will, muss einen komplett lichtdichten Raum betreten und darauf warten, dass sich die Türe schließt. Erst dann aktiviert Michael Bauer seine Stablampe und gewährt Einblick in seine Experimente. Zarte Pflanzen, wie etwa feingliedrige Haferwurzeltriebe, pfeilförmige Sauerampferblätter und schlanke Hopfensprossen in den Farben Weiß, Creme und Blassgelb, tauchen auf und sprießen aus einem dicht verschlungenem Wurzelwerk, das ein ausgiebiges Vollbad nimmt.

Vor über 25 Jahren hat sich der Gemüselandwirt erstmals mit der Technik der Wassertreiberei beschäftigt. Seine Diplomarbeit widmete er dem Chicorée, den er in etlichen Feldstudien in einem dunklen Raum so zum Treiben brachte, wie es in Holland eine lange Tradition hat. Bis heute kann Bauer nicht von seiner Leidenschaft lassen und bringt auch andere Pflanzen mit zweijährigem Lebenszyklus nach diesem Prinzip dazu, kleine feine Triebe zu entwickeln, die fast kein Chlorophyll und damit auch kaum Bitterstoffe bilden. Das Ergebnis: von Spitzenköchen zur Delikatesse geadeltes Blattwerk wie Chicorée, der nur leicht herb und fast ein bisschen süßlich schmeckt, bleich gezogener Sauerampfer, der im Gegensatz zum grünen Blatt keine penetrante, sondern eine ausgewogene Säurenote besitzt und Schwarzwurzelsprossen, die ein süßes Aroma mit sich bringen. Voraussetzung für ein geschmacklich perfektes Endprodukt ist ein halbes Jahr Vorarbeit. Je nach Witterung setzt Bauer im April oder Mai sein Saatgut am freien Feld aus, das über die Monate von einem zarten Keimling zu einem stattlichen Exemplar mit einer starken Wurzel voller Nährstoffe heranwächst. Im Herbst wird das Gemüse mit einem Rodeschar aus dem Boden gehoben, das Grün bis zum Schopf gehäckselt und in einem Kühlraum eingelagert. Erst jetzt beginnt für Bauer die Treibsaison. Von November bis April wandern die Pflanzen Woche für Woche vom Kühl- in den Treibraum – einen ehemaligen Schweinestall, der mit Styroporplatten ausgekleidet absolute Finsternis garantiert –, in dem Bauer mit Temperaturen von 20°C den Frühling simuliert. Dicht an dicht schlichtet er die Wurzeln stehend in einen Quadratmeter große und zehn Zentimeter hohe Kisten, die mit Folie ausgekleidet und damit wasserundurchlässig sind und wie ein Turm übereinandergestapelt werden können. Über ein Pumpensystem fließt Wasser in die Kistenkonstruktion, bis ein maximaler Wasserstand von fünf Zentimetern entsteht. Ist dieser erreicht, läuft die überschüssige Flüssigkeit über Öffnungen kaskadenartig in die nächst tieferen Kisten, bis sie ein Sammelbecken erreicht. Durch permanente Flüssigkeitszufuhr, konstante Luftfeuchtigkeit und Temperatur bilden die Wurzelstöcke nach rund drei Wochen hunderte neue kleine Saugwurzeln, die sich filzartig mit jenen der Nachbarpflanze verweben und im Wasser einen dichten Wurzelteppich bilden, aus dem sich feine Triebe entwickeln. Eine schwierige und mühevolle Materie. Bis Bauer seine letzten Triebe (ihr botanisch korrekter Name lautet Ersatzspross, da sie aus einem bereits vorhandenem Speicherorgan, der Wurzel, austreiben) erntet, vergeht ein Jahr. Ein Jahr, in dem auch vieles schiefgehen kann. Für Bauer hat die Methode dennoch nicht an Reiz verloren. Er erntet immer wieder neue aromatische Kuriositäten, „es gibt noch so viele Pflanzen, die ich durchprobieren möchte“. Bei der österreichischen Spitzengastronomie steht der Landwirt hoch im Kurs. 25 Köche zählen zu seinem Kundenstock – mehr Kapazität hat er nicht. Dazu zählt auch Heinz Reitbauer, der ihn als seinen „wichtigsten Lieferanten“ bezeichnet und es sich nur selten nehmen lässt, persönlich bei der drei Mal wöchentlich stattfindenden Übergabe von Bauers Gemüsespezialitäten und Trieben, die er feinsäuberlich geputzt und einzeln geschnitten in Tassen legt, dabei zu sein. Die feinen Spitzen setzt der Steirereck-Küchenchef entweder roh am Teller ein, mariniert sie warm („Chicorée eignet sich dafür ideal“) oder kalt, wie etwa die Haferwurzelsprossen, die er in einer Basilikum-Balsam-Marinade einlegt und zu gebeizter Forelle, Gurke, Melone und Sojasprossen aus dem Südburgenland serviert. Die Sprossen verarbeitet Reitbauer sogar auf zwei Arten: Er kappt die Enden der Sprossen und vakuumiert die Mittelstücke mit etwas Zucker und Salz, sodass daraus durchschimmernde Stücke entstehen. Die beiseitegestellten Abschnitte der Sprossen schwitzt der Koch in einer Pfanne an, schmeckt sie mit Sojasauce ab und trocknet das Gemüse im Dehydrator, um es dann zu einem Würzpulver für die vakuumierten Sprossen zu vermahlen. Gedanken macht sich Reitbauer aber auch über die Verarbeitung von Samen. Etwa bei Basilikumsamen, die er in Wasser quellen lässt, bis sie innerhalb weniger Stunden auf das Vier- bis Fünffache ihrer Größe wachsen und eine bizarre Froschlaichoptik annehmen. Wilden Brokkoli mit geräuchertem Topfen, Pekannuss und Artischocken serviert er mit Kressesamen, die in einer Pastinakenmarinade schwimmen und dem süßen Gemüse einen Schärfekick verleihen. Ein Zitat an das klassische Butterbrot mit Kresse entstand durch in Butter eingearbeitete gequellte Kressesamen, die sich der Gast selbst aufs Brot schmieren konnte und die den bekannten Geschmack in anderer Optik und Konsistenz erlebbar machten.

Ihren ursprünglichen Zustand behalten gekeimte Samen hingegen am Frühstücksbrot im Wiener Restaurant Tian. Dort tummeln sich auf einem Avocadoaufstrich frisch geerntete Keimlinge von Mungobohnen und Belugalinsen sowie mit zarten grünen Locken und subtilem Erbsenaroma ausgestattete Afilla-Kresse. Paul Ivic, der zuvor als Souschef im Taubenkobel werkte, hat sich nicht nur auf eine vegetarische Linie, sondern auch auf die Verwendung von Sprossen und Keimlingen eingeschworen, die er 365 Tage im Jahr in seine Gerichte einbaut. In seiner Küche findet man neben Hightech-Equipment zu Keimstationen umfunktionierte Einmachgläser, in denen Alfalfa-, Bockshornklee- und Radieschensamen gedeihen, sowie Bleche, die mit giftgrünen Halmen von süßem Weizengras übersät sind, die auf der Fensterbank ein Sonnenbad nehmen. Erfolgreich gezogen werden auch Amaranth, Dinkelgras, Quinoa und Einkorn. „Gescheitert sind wir bei Kohlrabi“, gibt Ivic zu, der Pflanzensamen auch privat zum Keimen bringt. In der Restaurantküche wurde der Zuständigkeitsbereich anfänglich auf die ganze Crew aufgeteilt. Mittlerweile ist die Aufzucht zum Projekt eines Kochs geworden, dessen Bibel seit Jahren ein Sprossenbuch ist und der sich täglich um mehrmaliges Spülen der Samen, Bohnen und Getreidekörner kümmert.

Gräser, Keimlinge und Sprossen kommen bei Ivic in allen Aggregatzuständen auf den Teller: roh als Finish, entsaftet und zu Saucen, Emulsionen oder Gelees verarbeitet („mit Weizengras funktioniert das optisch und geschmacklich sehr gut“) oder dehydriert. Derzeit experimentiert der Tian-Küchenchef mit einer homogenen Masse für Ravioli-teig, für den Linsenkeimlinge in getrocknetem und pulverisiertem Zustand – zumindest zum Großteil – Weizenmehl ersetzen sollen. Begeistert war Ivic von den Ergebnissen eines Spontanversuchs: „Letztens hat ein Koch Quinoa gepoppt. Das schmeckt sensationell.“ Was nicht selbst angebaut wird, liefert das niederländische Unternehmen Koppert Cress, das in den 80er Jahren mit der Daikon-Kresse, im Geschmack erinnert sie an Radieschen, das verstaubte Dasein von Kresse wieder aufpolierte. Das Sortiment wurde Jahr für Jahr ausgebaut und umfasst heute eine außergewöhnliche Auswahl an Blüten, wie etwa dunkelviolette kelchförmige Purple Delight, betäubend prickelnde Sechuan Buttons und vierfärbige Baroony – Mikrogemüse und Kresse, die teilweise gar keine ist. Das nicht zuletzt durch die Lebensmittelindustrie verursachte semantische Verwirrspiel (die botanischen Bezeichnungen für Keimling, Spross und Kresse stimmen mit jenen im allgemeinen kulinarischen Sprachgebrauch selten überein) hat sich auch Koppert Cress zunutze gemacht und eine Vielzahl von kleinen Pflänzchen, die korrekterweise Spross heißen, schlicht mit dem Überbegriff „Kresse“ tituliert. Über zwanzig unterschiedliche Sorten werden davon an Spitzenköche in der ganzen Welt verschickt. Dazu zählt Borretsch-Kresse, deren Blattwerk zart behaart ist und die täuschend echt nach Austern schmeckt, die mittlerweile schon inflationär eingesetzten Rock Chives, eine Schnittlauchart, die mit ihrem hauchdünnen Stiel und einem schwarzen Samenköpfchen vor allem als optisches Stilmittel eingesetzt wird, außerdem filigrane, knallpinke Scarlet-Kresse und Shiso-Kresse, von der Ivic aufgrund ihrer purpurnen bis violetten Farbe, vor allem aber wegen ihrer subtilen Schärfe etliche Tassen bestellt: „Im Gegensatz zur Daikon-Kresse hat sie gleich zwei, drei Geschmacksnuancen. Anfänglich ist sie scharf, entwickelt aber beim Kauen ein süßes Aroma.“

Auch Peter Zinter verlässt sich auf Koppert Cress und wird jede Woche mit 100 Tassen der exotischen Delikatessen beliefert. Zur Lieblingssorte des Küchenchefs des Restaurants Vincent zählt die mit herzförmig gezackten Blättern versehene Anis-Kresse, die sich mit ihrer feinen Lakritznote vor allem für Desserts eignet. Weniger beliebt ist bei ihm Tahoon-Kresse, die intensiv nach Wald, Moos und Erde schmeckt: „Ich finde, sie hat etwas Modriges, passt aber sehr gut zu Pilzen.“ Vor allem im Frühling ist die Verwendung von Keimlingen und Sprossen im Rohzustand für Zinter ein Thema: „Wenn in der Natur alles zu sprießen und blühen beginnt, möchte ich in die Gerichte auch einen Frühlingsfaktor einbauen. Man hat damit Frische, Schärfe und Biss im Gericht. Das rundet das Ganze schön ab.“ Folgt man Peter Zinter in seine Küche, präsentiert er seine Keimlingsstation, die vier Etagen zählt und in denen der Koch Rote-Rüben-Keimlinge, Mungobohnensprossen und Weizengras zieht. Seine Affinität für den Eigenanbau hat die Gundelrebe, botanisch gesehen ein Unkraut, bei Zinter geweckt. Nachdem er sich nicht nur für ihr Äußeres, sondern auch für ihren Geschmack begeistern konnte, deckte er sich bei der Arche Noah um 300 Euro mit unterschiedlichsten Samen ein und legte in seinem Garten ein Kräuterbeet an. „Natürlich ist die Hälfte nichts geworden“, erinnert sich der Koch, der das Gärtnern bis heute nicht bleiben lassen kann. Dem Kräuterbeet folgte der Sprossenturm, der Zinter in alle Küchen begleitet, die er führt. Besonders auf sein selbstgezüchtetes Weizengras ist er stolz, weil es deutlich mehr Eigengeschmack und Biss mit sich bringt, als wenn es eine lange Reise hinter sich hat. Er entsaftet das aromatisch süße Weizengras und verwandelt es zu cremigem Eis, das er gemeinsam mit frischem Gras und feinsäuerlichen Sauerampfersprossen mit zerbröseltem, affiniertem Ziegenkäse und Zitrusaromen in unterschiedlichen Texturen fusioniert. Gefallen findet er auch daran, junge Triebe in Pre-Desserts zu servieren und kombiniert etwa die länglich anmutenden Schwarzwurzelsprossen mit einer leicht bitteren Aroniacreme sowie einem Ragout und einer Makrone von roten Rüben.

Vor Kombinationen dieser Art schreckt auch Richard Rauch vom Steira Wirt nicht zurück. Er hat als Übergang zwischen pikantem und süßem Gang ein Gemüse-Dessert kreiert, für das er sich Borretsch-Kresse ausgesucht hat. Gemeinsam mit Apfel-Gurkensud wird sie als Marinade für hauchdünne Scheiben von Gurke und Apfel verwendet, die Rauch im Anschluss mit Olivenöl und Salz abschmeckt und mit lauwarmer Espuma von weißer Schokolade, getrockneten Apfelhippen und frischer Borretsch-Kresse serviert. „Wir empfehlen den Gästen, mit dem Sud und der Roheinlage zu beginnen und erst zum Schluss die Schokolade zu essen. So hat man einen perfekten Einstieg für das Dessert.“ Selbst eine Verbindung von Keimlingen und bodenständigen Gerichten ist für das jüngste österreichische Jeunes Restaurateurs d’Europe-Mitglied kein Widerspruch. Vorausgesetzt, die Keimlinge und Sprossen besitzen ein markantes Eigenaroma. „Keimlinge, die mit Wasser vollgeladen sind, bringen mir nichts.“ Ausschlaggebend ist für den Koch stets der rohe Touch und dass die Nährstoffe erhalten bleiben, die ein Vielfaches der Inhaltsstoffe eines ausgewachsenen Blattes oder einer Pflanze ausmachen.

Beliefert wird Rauch von einem befreundeten Wirt aus Gleisberg, von Kräuter Wagner aus Kapfenstein, der im kleinen Rahmen mit Keimlingen und Sprossen experimentiert und Christian Roßmann aus Straden, der Kräuter im großen Stil zieht und Supermärkte sowie Gastronomiezusteller jährlich mit 2,5 Millionen Topf- und Schnittkräutern bestückt. Vor zweieinhalb Jahren begann sich der Großproduzent für die Aufzucht von Kresse zu interessieren, tauschte sich intensiv mit dem Steira Wirt-Küchenchef aus und startete erste Versuchsreihen. Ein Teil eines Gewächshauses wurde dafür reserviert. Dort sät Roßmann Rotkohl-, Senf-, Rucola-, Brokkoli- und unterschiedliche Rettichsamen, darunter auch die scharfe Sorte China Rose, die zu einem aparten Pflänzchen mit pinkfarbenem Stiel und grünen Blättern heranwächst. Die Kressesamen werden in 20-Liter-Gebinden vorgequellt und im Anschluss auf Tischen auf Flachsbahnen gebettet, wo sie nach dem Ebbe-Flut-Prinzip bewässert und bei Tageslicht und Temperaturen um die 23°C innerhalb weniger Tage geerntet werden können. Derzeit beliefert Roßmann ausschließlich die Gastronomie. Das soll sich ändern, er will die jetzt noch auf die Größe einer 80-Quadratmeter-Wohnung beschränkte Kultur gewaltig ausweiten und mit seinen Kressespezialitäten bald auch auf dem Butterbrot der Endkonsumenten landen. Als Massenprodukt ungeeignet bleiben hingegen die kapriziösen Triebe von Michael Bauer. Seine Raritäten wird man weiterhin in Spitzenrestaurants suchen müssen, denn seine Abnehmerliste hält er, so gut er kann, geheim.