Unsere Liebeserklärung

… und was eine Speisekarte sonst noch so alles sein kann.

Unsere Liebeserklärung

Text von Eva Rossmann Illustration: Tim Möller-Kaya
Es war schon gegen halb zehn am Abend. Wir ­kamen entsprechend hungrig nach einer Lesung in dieses "gutbürgerliche" Lokal irgendwo in Wien. Platz war genug und auch die Küche war noch in Betrieb. Glück gehabt! Und schon eilte auch der Ober mit ­etwas heran, das ich am ehesten für verkleidete Telefonbücher ­gehalten hätte. Schmöker in dunkelrotem, aufgepolstertem Kunstlederumschlag. Weil "gutbürgerlich” manchmal für "altbürgerlich” steht, lautete mein zweiter Tipp: Weinkarte. Nicht übel, aber nur das zweitbeste Nachschlagewerk bei Magenknurren. Freundliches Lächeln meinerseits und die Bitte nach der Speisekarte. Unerschütterlicher Ober, der mir ­einen der Bände in die Hand drückte, dann auch meinen drei Schicksalsgefährten. Deutlich erleichtert entfloh der Bote und ich konnte in Goldprägeschrift lesen, dass dieses prächtige Werk tatsächlich der Speisenauswahl dienen sollte.

Ich weiß nicht mehr, wie viele Seiten wir durchzublättern hatten. Jedenfalls fanden sich sicher fünfzehn Suppen, zwei Seiten mit Salaten, kalte Vorspeisen von Aal bis Zunge, zehn Zubereitungsarten von Steaks samt Saucen, von denen ich zum letzten Mal vor meiner Kochprüfung gehört hatte, ebenso viele Fische, gebacken und gegrillt und blau. Nur das ­Vorkommen des Pangasius, jenes berühmten Mekong-Delta-Welses, der so erstaunlich nicht nach Fisch schmeckt, machte klar, dass dieses Buch keine ­Jahrzehnte auf dem Buckel hat. Kurz hatte ich die schreckliche Vision, vor der übervollen Speisekarte zu verhungern. ­Wofür soll man sich da bitte entscheiden? Und, auch wenn die Karte nicht so alt sein konnte wie sie altertümlich war: Wie alt waren die ­vielen zur Wahl stehenden Zutaten, die Fleischstücke, die Kaiserschöberl, Leberknödel? Auf welchem Wege sollte ich, ohne den freundlichen Ober zu kränken, herausfinden, was vielleicht immerhin gefroren war und dank Tiefkühlschlafs zumindest eine Art von frisch? Dann, die ­rettende Idee: "Was wird denn bei Ihnen besonders gern gegessen?" – "Wiener Schnitzel." Ich konnte ihm ansehen, dass er ehrlich war. Die Schnitzel waren mittelgut, aber wir hatten über die Speisekarte gesiegt. Das eine hat uns satt, das andere froh gemacht.
Allzu oft gibt es diese Speisenschmöker bei uns ohnehin nicht mehr. Ich treffe seltsamerweise in Deutschland viel häufiger auf sie. Was ist der ideale Umfang einer Speisekarte? Manfred Buchinger, bei dem ich immer noch kochen darf, hat dazu einmal gemeint: "Das, was auf eine Schiefertafel passt." Naja. Wie groß diese Schiefertafel dann sein muss, hat er ja nicht dazu gesagt. Ich fürchte, sie ginge nicht durch die Schanktür und Walter würde beim Schleppen ganz schön stöhnen. Denn: Grundsätzlich sind sich der Buchinger und ich ja einig. Es soll das geben, was frisch da ist. Und morgen gibt es dann eben teilweise ­anderes. Aber: Da gibt es natürlich die Gäste, die gewisse Gerichte ­immer und jedenfalls wollen. Und Gäste, die andere Gäste begleiten, die das, was sie nicht kennen, nicht mögen. Also, Kompromiss: die Standard-Karte. Da ist dann das Surschnitzel drauf. Und der Truthahn mit ­Erdäpfel-Blattsalat. Und die Gemüsesuppe. Und weil unser vegetarischer Zwiebelrostbraten fixe Fans hat, auch der. Ein Nudelgericht muss sein. Gegrilltes Rind sollte es auch geben. Und natürlich, im Viertel, das der berühmte Nonseum-Philosoph Friedl Umschaid schon einmal als "Sch-Weinviertel" gesehen hat, ein saftiges einheimisches Stück vom ­Lieblingstier der Österreicher. Klar. Auch diese Karte wird saisonal ­angepasst. Aber das Herz- und Hirnstück unserer Küche sind die Tagesempfehlungen. – Die jetzt also wenigstens mit Kreide auf die Schiefertafel? Ach. Auch. Auf die vielen Tafeln vor dem Lokal, von denen uns immer wieder eine selbst entgeht, auf der ein findiger Gast noch ein Gericht entziffert, das für uns prähistorisch, also von letzter Woche, ist. An den Tischen gibt’s Zettel mit den Empfehlungen. Ursprünglich waren sie als Gedankenstütze für unser Servierpersonal gedacht, inzwischen werden sie einfachheitshalber den Speisekarten beigelegt. Weil vier Vorspeisen, zwei Suppen, zwei Innereienragouts, fünf Hauptgänge und drei Desserts lassen sich in vernünftiger Zeit schwer mündlich empfehlen. Alles frisch und spannend, für uns auch wegen der Count-downs: vier Portionen Kalbsnierndl, drei Portionen, zwei Portionen. Und drüben in der "Ersten Klasse" steht Carina und nimmt einen größeren Tisch auf: Weiß sie, wie es um die aktuelle Anzahl dieser netten Innerei steht?
Ich gebe es ja zu, bisweilen klage ich ein wenig über Buchingers Hang, alles sofort verkaufen zu wollen. Die Gäste schätzen es. Zumindest die meisten. Gewisse hätten natürlich das gegrillte und gebackene ­Kaninchen von vorvoriger Woche auch gerne diese Woche und reagieren leicht gereizt, wenn wir erzählen, dass der Regner einfach nur wenige Male im Jahr ein paar Kaninchen schlägt. Eine andere Minderheit stößt sich am Styling: Die einfachen, ausgedruckten Zusatzzettel wären eines Sternelokals nicht würdig. Hm, also doch lieber alles in Kunstleder und das auf ewig? Klar gäbe es auch Kompromisse, aber die kosten. Vor allem Zeit.
Inzwischen bin ich mir außerdem sicher: Die Frische der Speisen kannst du schon ganz gut an der Frische der Speisekarte erahnen. Ein sauberes Blatt Papier ist mir als Gast lieber als eine von vielen hunderten Hungrigen abgegriffene Pergamentmappe. Mit weniger Gerichten und weniger Kompromissen für die, die ewig das Gleiche wollen, könnte ich allerdings schon leben. Sehnsüchtig lese ich manchmal die zwei Menüs, zwischen denen man im Gourmetlokal XY wählen kann, ehrfürchtig studiere ich die handgeschriebene Karte der jungen Neuaufsteiger, eine Speisefolge klassisch, eine nicht nur mit Molekülen, sondern auch molekular. Hm. Ich hätte gerne bitte bloß das Fischmenü, aber anstelle des Gratins zum Zander einen Blattsalat und anstelle des Desserts ein Stück Hartkäse. Gut geschultes Personal kann mit sowas schon umgehen. Tut es auch. "Tut mir leid, da müssen wir leider einen Aufpreis für den Beilagenwechsel verrechnen. Und nach dem Dessert können Sie gerne von unserem Käsewagen wählen." Na gut. Ich habe es da eben mit einem Dreikroner zu tun. Außerdem habe ich es auch schon schlimmer erlebt. Da hat mir der renommierte Besitzer eines ebensolchen Lokals reichlich genervt erklärt: Zu dem Huchen passe einfach nur das Püree und deswegen gäbe es ihn auch mit Püree. Punkt. Seine Speisekarte war übrigens überaus schön. Das Püree, eh klar, gut. Trotzdem: naja. Etwas Auswahl, vor ­allem aber etwas mehr Flexibilität, wäre doch nicht schlecht. Sie muss ja nicht bis ins Unendliche reichen, sage ich als Köchin. Weil: Sonntagmittag. Wir haben auf der Standardkarte Gemüsesuppe, Fischsuppe, Salatsuppe. Auf der Empfehlungsliste Kürbissuppe und Galloway-Leberknödelsuppe. Es ist noch nicht zwölf, Herta steht da und fragt: "Gibt’s auch Frittatensuppe?" Unsere Herta ist ein Muster an Zuvorkommenheit den Gästen gegenüber und nebenbei berühmt für Fragen, die sie schon das eine oder andere Mal in der Küche gestellt hat. Natürlich gibt es Frittatensuppe, ein Koch, der nicht in Nullkommanix eine Frittate zubereiten kann, ist einfach nur peinlich, aber: Warum verdammt noch einmal kann der Gast nicht eine der fünf Suppen nehmen, die wir haben? Muss es immer noch etwas mehr sein?
Über dieses "Mehr" lässt sich übrigens auch bei den Weinempfehlungen trefflich diskutieren. Von ­Anfang an hat Buchinger ausschließlich auf regionale Weine gesetzt. Gewisse Weinjournalisten haben zu Beginn darüber die Nase gerümpft, meine Güte, wo bleiben die Wachauer Rieslinge, die Bordeaux-Weine, die burgenländischen Süßweine? Inzwischen wird seine Beschränkung kaum mehr als Einschränkung verstanden. Unbekanntes zu entdecken macht vielen doch mehr Spaß als sich auf Bewährtes zu verlassen. Man ist ja auch offen genug, im Ausland kein Wiener Schnitzel zu bestellen. Ich kenne sogar Menschen aus Deutschland, die nie darauf bestehen würden, in ihrem Urlaubsdomizil ­eine "Käsesahnetorte" oder einen "Aprikosenpfannkuchen" zu ­essen. Dass sie die Topfentorte noch immer häufig übersetzt bekommen, hat wohl mit einem gewissen österreichischen Überdiensteifer gegenüber unseren großen Nachbarn zu tun. Dachte ich zumindest bis vor einigen Jahren. Inzwischen frage ich mich, ob nicht gewisse Deutsche selbst ihre ­Landsleute für kulinarisch sprachdoof halten. In einem ­meiner Krimis bereitet eine Fleischhauerin in einer Wiener Kleingartensiedlung Fleischlaberln für ihre Freundinnen zu. Im Taschenbuch, das beim von mir sehr geschätzten Lübbe-Verlag herauskam, waren es plötzlich "Frikadellen". Oh mein Gott. Ich hatte halbwegs Erklärungsbedarf. Und inzwischen auch eine hervorragende Lektorin, die glatt auf dem Standpunkt steht, dass ihre lesenden Landsleute klug genug sind, um Regionales zu begreifen und es sogar zu mögen.
Wobei es dichtende Gastronomen gibt, die an ihrem Bestreben, verstanden zu werden, doch eher scheitern. Aber weiß der Gast aus dem fernen Ausland wirklich, was ­SKORDOMAKARONA sind? Und: Wird er etwas bestellen, das er nicht kennt? Oder geht er weiter ins nächste Lokal, in dem es auch hier in Griechenland Pommes und Pizza gibt? Also muss eine Übersetzung her: "Isolationsschlauch à la Bewohner von Bolognese (Sauce mit gehacktem Fleisch)." So wird nicht nur Essen zum Abenteuer.
Bevor ich jetzt ­allerdings darüber nachzudenken beginne, ob meine eher rasche Übersetzung unserer Speisekarte ins Englische (dass die vierzig Gäste einer Firma à la carte essen wollten, wussten wir, dass es sich bei ihnen um Menschen aus fernen Ländern handelte, erfuhren wir erst eine Stunde vor ihrem Eintreffen) total perfekt war, oder auch für die eine oder ­andere Lachträne gesorgt hat, zurück zum Anfang und zu den ehrwürdigen, prächtigen, umfangreichen Speisekarten. Im Grand Hotel in Priština waren sie zumindest in den 80er Jahren noble Verpflichtung. Und auch, dass gleich in acht Sprachen angeboten wurde, was der Magen begehrt. Mit großem Entzücken las mein Mann Ernest dort von ­"Schinken mit Schmuck" und "Chateaubriand zu Pferd". Wer möchte so etwas gegen eine Garnierung oder gar das ­altertümliche Chateaubriand au Cheval tauschen? Speisekarten sind eben viel mehr als Informationszettel. Sie zeigen uns Kochenden, wie wir sind: üppig, kreativ, sparsam, ­todschick, fettbefleckt, blendend, überbordend, anpasslerisch – und voll von manchmal verzweifeltem Bestreben, verstanden, mehr noch, geliebt zu werden.