Von der Hand in den Mund

Esswerkzeuge – eine annäherung in Form, Gebrauch und Material

Von der Hand in den Mund

Text von Martin Hablesreiter & Sonja Stummerer Fotos: iStockphoto

Ob mit Löffel, Gabel, Stäbchen oder Fingern: Wie wir essen, ist kulturell geprägt. Und egal auf welche Art und Weise wir unser Essen in den Mund stecken, der Vorgang verlangt in jedem Fall einiges an Geschicklichkeit. Sogar mit den Fingern zu essen, ist beileibe nicht so einfach, wie es vielleicht aussieht. Ganz im Gegenteil, viele Europäer stellen sich dabei sehr ungeschickt an. Haben Sie schon einmal versucht, Joghurt mit der Hand zu essen? Von Gulasch, Kartoffelsalat oder Vanillepudding ganz zu schweigen. Aber auch das Essen mit Werkzeugen will gelernt sein. Denn die Ess-Utensilien, die sich im Laufe der Zivilisation entwickelt haben, sind ebenso wie ihre Handhabung kompliziert, mühsam und ihr Sinn oft schwer zu durchschauen.

Das älteste – und bis heute unumstrittenste – Tischgerät ist der Löffel. Er begleitet uns täglich, ein Leben lang, von der Wiege bis zu jenem Augenblick, in dem wir ihn, eben den Löffel, wieder abgeben. Nach dem gestalterischen Vorbild der hohlen, zu einer Kelle geformten Hand, dient er schon seit Jahrtausenden dazu, um flüssige und breiige Nahrung zum Mund zu führen. Rund und stumpf, ist er gleichzeitig auch das einzig harmlose

Besteckteil, denn sowohl die Gabel als auch das Messer haben sich aus Waffen heraus entwickelt. Im Mittelalter war das Privileg, bei Tisch ein Messer zu benutzen, deshalb auch nur wenigen Teilnehmern vorbehalten. Alle anderen mussten ihre Speisen mit dem Löffel, den Fingern oder Brotscheiben in den Mund schaufeln. Sogar heute noch wird die Benutzung des Messers durch verschiedene Vorschriften stark eingeschränkt: So darf Brot bei Tisch stets nur gebrochen und niemals geschnitten werden, ebenso wie Knödel oder Salat.

Die jüngste Errungenschaft der europäischen Besteckstrilogie ist die Gabel. Die Römer benutzten zwar zweizinkige Spieße zum Tranchieren und Vorlegen, aßen ihre Gerichte bei Tisch aber vorgeschnitten und steckten sie mit den Fingern oder mit Hilfe von Brotstücken in den Mund. Geboren wurde die Idee der Gabel als Tischgerät zunächst in der Renaissance und zwar von italienischen Adelsdamen, die Dessertgabeln verwendeten, um sich mit stark färbendem Obst wie Heidelbeeren die Finger nicht zu beschmutzen. Katharina von Medici brachte die Gabel dann, wie so viele andere kulinarische Sitten, nach Paris, als sie 1533 den französischen König ehelichte. Und da Frankreich zu jener Zeit in Sachen Modeströmungen und Anstandsfragen maßgebend war, setzte sich von dort aus schließlich auch die Gabel langsam – sehr langsam, um genau zu sein – in ganz Europa durch.

Ihre Gestalt wurde im Laufe der Zeit von einfachen Spießen über ein zweizackiges Gerät bis hin zum heutigen, drei- oder vierzackigen, Werkzeug mit schaufelartiger "Ladefläche" verfeinert. Dennoch geisterte die formale Assoziation zum Teufelsspieß noch lange durch die Köpfe vieler gläubiger Menschen. Die Kirche tat ihr Übriges, um das neue Tischgerät ordentlich zu diffamieren. Man befürchtete durch ihren Gebrauch den Verfall der Tischsitten, sodass sich die Gabel erst im 18. Jahrhundert endgültig durchsetzen konnte! Ähnlich emotional diskutieren wir heute über Fastfood, Hamburger, Pommes oder Essen vor dem Fernseher: die vorgetragenen Argumente sind dabei oft erstaunlich ähnlich …

Teufel hin oder her, heute ist die Gabel im westlichen Kulturkreis das Essgerät schlechthin, auch wenn sie bei Leibe nicht überall in der gleichen Weise benutzt wird. In den USA zum Beispiel schneidet man das Steak zuerst in kleine Stücke, legt dann die linke Hand aufs linke Knie und isst nur mit der Gabel in der rechten Hand weiter. Wenn Europäer in den USA auf europäische Art – also mit Messer UND Gabel – essen, so stößt das auf Empörung und so mancher amerikanische Tischgenosse entwickelt das Bedürfnis, seinem Gegenüber erst einmal "richtige" Manieren beizubringen. Und tatsächlich bestätigt Thomas Schäfer-Elmayer auf unsere Frage hin, dass es ein Gebot der Höflichkeit sei, sich im Ausland den jeweiligen Tischsitten anzupassen. Demnach sollte man in Asien möglichst mit Stäbchen, in Indien mit den Fingern und in den USA mit der linken Hand unter dem Tisch essen!

Neben den drei Grundtypen, Messer, Gabel und Löffel, kommt Esswerkzeug heute in nahezu endlos vielen Variationen auf den Tisch. Während sich im 18. Jahrhundert Besteck noch auf die wesentlichsten Teile beschränkte und selbst das persönliche "Mundzeug" des Kaisers nur aus Messer, Löffel, Markzieher, einer zweizinkigen und einer vierzinkigen Gabel bestand, etablierte sich im Bürgertum des 19. Jahrhunderts die Mode, für jede Speise ein spezielles Werkzeug zu kreieren. Erfindungen wie das Fischbesteck, der Knochenhalter oder der Fett-Mager-Saucenlöffel stammen aus dieser Zeit. Und bis heute hat die Innovationslust in Sachen Essgerät nicht nachgelassen: Zu den neuesten Erfindungen zählt etwa die oder der "Spork" (vgl. engl. spoon and fork), eine Kombination aus Löffel und Gabel, meist in Plastik ausgeführt und hervorragend für den Konsum von Fertigsuppen, Currys oder anderem halbflüssigen Fastfood geeignet.

Neben Sporks und Eislöffeln, Steakmessern, Austerngabeln und Hummerpickern besticht der Minimalismus an asiatischen Tischen: Sie ziert ein einziges, schlicht geformtes Essgerät, das paarweise verwendet und nur in seltenen Fällen durch einen Löffel ergänzt wird. Essstäbchen wurden in China bereits 1500 v. Chr. zur Nahrungsaufnahme benutzt, seit dem 7. Jahrhundert sind sie auch in Japan gebräuchlich. Ähnlich wie bei uns gelten auch in Asien minutiöse Regeln, wie das einzige Tischwerkzeug richtig zu handhaben ist. So dürfen Essstäbchen nur als Zange oder Schaufel benutzt werden, niemals jedoch, um etwas aufzuspießen. Einen noch schlimmeren Fauxpas begeht der ahnungslose Ausländer, sollte er seine Stäbchen senkrecht in die Reisschale stecken. Diese Geste stammt aus dem japanischen Totenritual und ist bei Tisch absolut tabu!

Ursprünglich wurden Essstäbchen aus Bambus hergestellt, heute sind sie meist aus anderen Hölzern, Plastik oder auch Metall gefertigt. Die Materialfrage ist neben Form und Gebrauchsweise der dritte große Diskussionspunkt rund ums Essbesteck. Historisch wurden so unterschiedliche Werkstoffe wie Knochen, Horn, Elfenbein, Holz, Silber oder Gold zur Besteckproduktion herangezogen. Der heute bei uns übliche Edelstahl steht immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik, denn das Material des Bestecks beeinflusst natürlich den Geschmack der damit genossenen Speisen.

Dieses und andere Argumente führen fanatische Anhänger von Fingerfood gerne ins Treffen. Tatsächlich unterstützt das Besteck als solches natürlich die Triebkontrolle beim Essen und hilft, leibliche Begierden, wie hemmungsloses in sich Hineinschlingen oder mit bloßen Fingern in Breis, Puddings oder Torten herummantschen, zu unterbinden.

Esswerkzeug fungiert nämlich auch als Trennung von Nahrung und Körper. Der unmittelbare Kontakt zum Essen und sein haptischer Genuss gehen mit dem Gebrauch von Tischwerkzeugen verloren. Wenn niemand zusieht, be­tasten wir daher gerne heimlich die Oberfläche von

Speisen und Leckerbissen mit den Fingerspitzen und können dabei bereits Rückschlüsse auf den zu erwartenden Geschmack ziehen. Wir fühlen, ob etwas brennheiß oder eiskalt, cremig oder hart, die Oberfläche porös, matschig oder pelzig ist.

Mit den Fingern zu essen macht Spaß, gerade weil es uns unsere Erziehung im Normalfall verbietet. Und nachdem jahrhundertelang (fast) ohne zusätzliche Hilfsmittel, also mit den Fingern, gegessen wurde, sind viele Gerichte von ihrer Gestaltung her ohnehin prädestiniert dazu, mit der Hand in den Mund gesteckt zu werden. Pizzen beispielsweise eignen sich hervorragend als Trägermaterial für andere flüssige oder fettige Zutaten, wodurch sich der Gebrauch von Tellern, Messern oder Gabeln eigentlich erübrigt. Nicht umsonst sind sie heute als Fastfood (wieder) so erfolgreich, denn die runden Teigfladen wurden ebenso wie Pasta oder Sushi traditionell mit der Hand gegessen. Vermutlich verwenden bis heute weltweit etwa genauso viele Menschen ihre Finger, um zu essen, wie andere Metallbesteck oder Holzstäbchen benutzen.

Und dennoch: Auch wenn heute in den Industrienationen immer mehr Fastfood und damit wieder zunehmend mit den Fingern gegessen wird, kommt dem Umgang mit Esswerkzeugen selbst im Zeitalter moderner Lebensmittel nach wie vor eine große Bedeutung zu. Bei der Gestaltung von Fertiggerichten zum Beispiel.

Große Konzerne müssen ihre Produkte bei der Internationalisierung nämlich nicht nur an regional spezifische Geschmacksvorlieben, sondern auch an die ortsüblichen Essgewohnheiten anpassen. In den Bechern von Instant­Ramen-Suppen beispielsweise variiert die Nudellänge von Land zu Land, um dem jeweiligen Esswerkzeug gerecht zu werden. In Stäbchenländern sind die Nudeln mit 30 cm am längsten. Für Gabelesser in Europa und den USA werden sie auf 20 cm geschnitten und für Mexikaner, die gerne Löffel verwenden, gar nur auf 10 cm. Und letztlich kann die Wahl des Esswerkzeugs sogar die Gesundheit beeinflussen. Essen mit Stäbchen beispielsweise hält schlank. Entsprechende Studien haben gezeigt, dass man mit Stäbchen deutlich mehr Zeit benötigt, um die gleiche Kalorienmenge in den Körper zu befördern als mit Löffel oder Fingern. Durch das langsamere Essen stellt sich das Sättigungs­gefühl früher ein und die Gefahr, sich zu überessen, sinkt. Esskultur bedeutet eben nicht nur, zu wissen, was man isst, sondern vor allem auch, wie man es tut.