Von der Hand in den Mund

Sie ist dünn, die Decke der Zivilisation. Wir merken das, wenn wir einmal fünf Zentimeter vor der Garageneinfahrt des Nachbarn parken oder wenn wir ein paar Mahlzeiten in den Avantgarde-Restaurants von Kopenhagen zu uns nehmen.

Text von Alexander Rabl Foto: beigestellt

Zum Beispiel die Sache mit dem Besteck. Zurück in Mittelosteuropa, also Österreich, greift der Gast beim ersten Gang schon zu Messer und Gabel, und es kommt ihm (erstmals) komisch vor. Wie schnell man sich doch Tischsitten, eingelernt über Jahrzehnte, wieder abgewöhnen kann. Rasmus Kofoed, gefeierter Küchenchef des Geranium in Kopenhagen auf die Frage, warum das Essen mit Fingern gerade so ein Thema sei an den Kopenhagener Spitze: „Schon als Kinder tasten wir gerne herum. Alles greifen wir an. Auch das Essen, und was für ein herrliches Gefühl das ist. Es verleiht dem Essen eine neue Dimension.“ Er serviert sogar das Brot so, dass man beim Essen ohne Besteck auskommt: einmal als Teil eines Weizenstraußes, beim zweiten Gang als Miniaturlaib in der Größe eines Daumennagels, den der Geranium-Gast in die Butter eintaucht. Essen mit den Fingern und gleich ein paar Klarstellungen für den Leser, der uns mit Einwänden kommen könnte. Naturgemäß ist hier nicht die Rede vom Essen der Naturvölker, also der Zufuhr von Käsekrainern, Pommes frites oder Chips, bei der wir uns maximal der Hilfe eines Zahnstochers bedienen.

Auch der lächerlich ungenaue Begriff des Fingerfoods ist nicht gemeint, mit dem die Caterer ihren Kunden alte Hüte und Brötchen von gestern verkaufen. Intererssant: Beim Fingerfood ist fast immer eine Gabel oder ein Löffel dabei, klein wie ein Puppenbesteck, das beim Essen fast aus den Fingern fällt. Das Essen mit Besteck und noch mehr Besteck gilt als Distinktionsmerkmal der Gäste in der gehoben abgehobenen Gastronomie. Du kannst nicht mit Stäbchen oder Krebsenbesteck umgehen, dann bleib doch gleich zu Hause und schau „Dancing Stars“. Den Dänen ist das egal. Silberbesteck wie in Paris – dafür haben die jungen, mediengerecht hergerichteten Küchenstars nur mehr ein Lächeln übrig. Ronny Emborg serviert in seinem AOC, einem wie in einem geheimnisvollen Treffpunkt einer Loge von Fressianern gelegenen, von allem dekorativen Ballast befreiten Restaurant, Blätter gefüllt mit Krabbenfleisch. Nach ersten Tastversuchen habe ich kein Problem damit, mir das kleine grüne Päckchen mit der Hand in den Mund zu stecken.

Der Finger und sein Gespür für Sensorik werden sehr unter ihrem Wert gehandelt. Was er zu spüren kriegt, sind Computertasten, der Touchscreen des iPhones, U-Bahnhaltegriffe und andere Dinge, die jedenfalls nicht so sexy sind wie zum Beispiel dieses herrlich knusprige, aus Erdäpfeln und nicht Brot hergestellte Doppelsandwich, das mit Pilzpulver bestreut ist und einer cremigen Pastete und sich wirklich teuflisch gut angreift. Serviert und genossen im Noma, wo von einem Zwanziggänger die ersten zehn Dishes als Snacks serviert werden, Minihappen zum Essen mit der Hand, die auf einem Teller herumgereicht und wie in Südchina in hohem Tempo fast gleichzeitig serviert werden. Die Finger, wenn sie was zu sagen hätten, vielleicht würden sie anmerken, dass sie das gerne öfter hätten. So etwas wie Blumentopferde aus Malz, in die der neugierige Finger eintaucht und eine göttlich schmeckende knallgrüne Creme aus Sauerampfer zu Tage fördert. Oder die karamellisierte Milch, die sich angreift wie eine Mischung aus Perlmutt und Palatschinke, auf der eine eiskalte Scheibe von der rohen Leber eines Codfishs serviert wird. Was für ein Gefühl zuerst, was für ein Geschmack danach.

Es ist uns beim Tasten durch den Alltag abhanden gekommen, das Gefühl, wie es ist, ein Stück Wald zu greifen. Holz, Erde, ein Stück rohes Fleisch haben wir selten in den Fingern. In einen Blumentopf zu fassen, wer macht das schon so oft. Schon, ja: Manche wühlen sich und ihre Hände gerne in ihrer Freizeit durch die Blumen- und Kräuterbeete ihres Gartens. Erdige Hobbys. Seit zwanzig Jahren sagen sie uns, die Trendmenschen, dass der Rückzug ins Grüne schwer angesagt ist. (Währenddessen boomen die Innenstädte und immer mehr ziehen in die Zentren des Geschehens. Der Trend ins Grüne – hauptsächlich ein Wunschtraum der Immobilienabzocker.) Ein, sagen wir, dunkler Rand unterm Fingernagel war bisher immer das Zeichen einer besonderen Verbundenheit mit Wald und Wiese oder eines ehrbaren Berufs als Handwerker oder Automechaniker. Ab jetzt auch ein geheimer Code unter Gourmets, die gerade bei Redzepi oder einem seiner Kollegen gespeist haben.

Als ersten Gang setzt man uns Blumentöpfe vor, in denen Knabbereien stecken, Teil einer witzig-einfallsreichen Tromp-l’œil-Küche, die im krassen Gegensatz zu dem steht, was die Franzosen gerade als neuen Purismus predigen. Kurze Zeit später holen wir knackige Gemüse aus der grünen Erde. Wir tasten und essen knuspriges Moos. Wir fühlen und schmecken knusprige Schweinehaut, die mit einem gelierten Gürtel aus Heidelbeeren überzogen ist. Wir tasten die weiche, schrumpelige Oberfläche der getrockneten Karotten. Dass man ein Wachtelei mit den Fingern greifen und essen kann, sind wir gewohnt. Etwas später werden wir auch nichts mehr daran finden, uns am Tisch ein Spiegelei in einer heißen Pfanne selbst zuzubereiten und mit der Hand Kräutersalat dazuzubetten, während der stets präsente Service eine von vielen knallgrünen Saucen dazugießt. Wir essen Muscheln, deren Boden aus einer Masse aus Sellerie und Muschel besteht.

Wir fühlen die glatte Oberfläche der getrockneten Jakobsmuschel, die wir gemeinsam mit Wasserkresse und Bioweizen verspeisen. Ein Teller wird serviert, darin zwei Stücke gerade heiß angekohltes Holz, dazu eine Sauce, in der geräucherte Butter eine Rolle spielt. Wie soll man das essen, wenn nicht mit Messer und Gabel? Redzepi hat dafür angespitzte Holzzweige vorgesehen, an deren Ende mit einer kleinen Schnur ­Holunderblüten befestigt sind. Man spießt die Kartoffeln mit dem Zweig auf, taucht sie in die Sauce und isst. Der nächste Teller bringt Schnecken und Petersilie. Wir tunken die Sauce mit der Holunderblüte und spießen die Schnecken mit dem Zweig. Erst nach dem zehnten Snack servieren sie im Noma das Brot. Dazu Butter und ein Buttermesser. Ein Buttermesser. Wie ungeheuer banal ist das denn jetzt!

Das Auge lässt sich täuschen, deshalb müssen wir das Gespür unserer Finger schulen. Gerne sieht einmal etwas aus wie eine Messermuschel und ist aber keine, sondern eine Mousse aus Muschelfleisch in einer hornfarbenen Schale.

Oder sieht aus wie ein waldgrüner Stein und ist aber keiner, sondern ein in Gelee aus vermentiertem Gemüse verpacktes Lachstatar mit Dille, das in eine leichte Crème double und etwas Keta-Kaviar getaucht und gegessen wird. Per Hand natürlich. Eine Eierschale, Teil eines genialen Gerichts rund um einen gestockten Eidotter, serviert im Sensorikmenü des Ronny Emborg, ist gar keine, sondern essbares Eiweiß. Für den Eidotter und die dazugereichten Austern kriegt der Gast dann übrigens einen Löffel. Der erweist sich dann auch nicht etwa als geliertes Austernwasser, sondern ist wirklich nichts anderes als ein Löffel.

Teure Silberbestecke sind bei der Kopenhagener Avantgarde also fürs erste einmal weniger angesagt. Wie lange es braucht, bis dieser nordische Brauch auch im Alpenraum sein Echo findet, ist schwer zu sagen. Wenn Sie nächstes Jahr ein Beuschel bestellen und der Ober Ihnen weder Löffel noch Gabel dazulegt, hat er es also entweder einfach vergessen oder aber Sie befinden sich gerade im Lokal eines österreichischen Kochs mit Bemühen um Fortschritt und Internationalität. Thumps up.

ADRESSEN

AOC
Ronny Emberg forciert eine geschmacksintensive, bunte Küche, in der sich viele Techniken und Methoden wiederfinden, die man aber woanders auch schon gesehen hat. Dennoch eine der aufregendsten Adressen, vielleicht sogar die spannendste, weil gerade jung und noch nicht auf Monate hinaus ausgebucht.

Geranium
Rasmus Kofoed bietet im Geranium die klassische Vorstellung von nordischem Luxus. Es wird viel geräuchert und mit Asche gearbeitet. Phantastische Ideen wie Gelee vom Schinkensud mit klarem Paradeisersaft und Thymianöl, die an die großen Zeiten der Molekularküche gemahnen.

Noma
Natürlich: die Nummer 1. Ein konzeptionelles Gesamtkunstwerk aus Ambiente, Service, Weinempfehlung und natürlich einem Essen, absolut perfekt zubereitet und angetan, viele bekannte Vorstellungen, wie ein Menü sein muss, im Nichts aufzulösen.