Wenn der Fisch sauer wird

Pur wie in Peru oder bunt wie in Mexiko: Säuregegarter Fisch alias Ceviche ist derzeit auf dem Siegeszug durch die Küchen. Und wenn Binnenländer experimentieren, sieht das so aus: Huchen und Hecht statt Mahi Mahi, Sanddorn und Verjus statt Limette. Seeviche eben!


Text von Anna Burghardt Fotos von Michael Reidinger

Reden wir doch über mein Lieblingsessen.“ Alexander Theil meint Ceviche und ist damit nicht der Einzige. Roher Fisch, in kleinen Stücken mit Zi­trussäure statt mit Hitze gegart und manchmal mit Würzingredienzien vermischt, ist weltweit immer öfter auf Speisekarten zu finden. Auch, weil immer mehr ­Restaurants mit lateinamerikanischer Küche eröffnen –für sie ist Ceviche dann automatisch Teil der kulinarischen Visitenkarte. Hierzulande etwa das Mercado von Klaus Piber am Wiener Stubenring, wo Alexander Theil Küchenchef ist. In anderen Städten haben namhafte Lokale Ceviche schon etwas länger auf dem kulinarischen Radar (übrigens mit uneinheitlicher Aussprache, von „Sewisch“ über „Sewitsche“ bis zu „Tschewitsche“): das Raymi oder die Lokale der Sushi-Samba-­Kette in New York, das Ceviche 103, das Pakta von den Adrià-Brüdern, das Tanta in Barcelona, das Coya oder das Ceviche in London. Um nur einige zu nennen. Der Begriff „Nikkei“ wird unter Foodies wohl auch noch bekannter werden. Er bezeichnet die Küche der japanischen Auswanderer, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Peru kamen. Sie griffen – naheliegend – die dortigen Gerichte mit rohem Fisch auf und wandelten sie etwa mit Mirin, Ingwer, Sesamöl oder Sojasauce ab.

Im Ceviche-Ursprungsland Peru wird klassischerweise eine Leche de tigre, Tigermilch, angerührt und mit ihr der Fisch mariniert. Das Grundrezept sieht neben Salz und Chili natürlich Zitrussaft vor: Meistens ­verwendet man Limettensaft, bisweilen nimmt man auch den Saft aus ­Bitterorangen oder Clementinen. Mit Knoblauch, Koriander, Ingwer und anderen ­Zutaten kann die Leche de tigre variiert werden. Während es Chili­schoten in Peru schon vor der Kolonialisierung durch die Spanier gab, wurden Zitrusfrüchte erst im 16. Jahrhundert eingeführt, neben Zwiebeln und Koriander. Einen Vorläufer von Ceviche gab es freilich schon vor den Spaniern: Man marinierte den rohen Fisch mit dem Saft aus Tumbo, einer Art Passionsfrucht. Als Zitrusfrüchte verfügbar waren, verwendete man zunächst vor allem Bitterorangensaft, die Limette wurde erst später zur Hauptfrucht für Ceviche. Mit etwas Pisco, dem peruanischen Traubendestillat, wird die Tigermilch übrigens zur Panthermilch. Und was vom Marinieren übrig bleibt, gilt als Wundermittel gegen Kater.

Der junge Alexander Theil, der lange in Mexiko für Jean-Georges ­Vongerichten gearbeitet hat, hat schon viel Erfahrung gesammelt mit Ceviche. Der Küchenchef des ­Mercado verwendet fast ausschließlich Meeresfisch. Plus „Rotwels aus oberösterreichischer Zucht“. Warum ausgerechnet diesen Fisch? „Rotwels ist neutral. Und für Ceviche ist besonders wichtig, dass die Textur nicht zu fasrig ist und der Fisch leicht durchmariniert.“ Derzeit hat das Mercado drei verschiedene Gerichte mit zitrusgegartem rohen Fisch auf der Karte. Und die Auswahl hier zeigt gleich, wie halbjapanisch Ceviche sein kann: Als Tiradito – der Fisch wird in Scheiben statt in Würfel geschnitten. In ­Mexiko hat Theil für diese Zubereitung den Namen ­Suviche erfunden, aus Sushi und Ceviche. Für sein Tiradito verwendet der Mercado-Küchenchef, zu Japan passend, Lachs, den er in dünnen Scheiben auflegt und mit Yuzusaft gart. Dazu kommen ein Hauch Knoblauch, in Essig eingelegte Chipotle-Chilis, die typischerweise ein rauchiges ­Aroma haben, Avocadopüree und Radieschenwürfel. Quasi Rettich zu Japan, das passt. Damit ist sein Tiradito aber noch nicht fertig, die Ceviche-Versionen im Mercado sind generell aufwendiger: Alexander Theil brät Knoblauch zu goldenen Splittern und macht damit sowie aus Zitruszesten, Sesam und Arbol-Chili Knusperbrösel, die er neben dem Fisch anrichtet. Ein kleines Kunstwerk mit, so merkt man bald, ordentlich Schärfe. Mit jeder ­Minute, die man das Gericht stehen lässt, wird der Lachs durch den Yuzusaft mehr gegart. Beim rosa Fischfleisch sieht man das besonders gut, das Eiweiß verändert sich, der Lachs wird immer heller, cremeweiß. „Die Wahl des Fisches ist prinzipiell sehr wichtig. Lachs eignet sich gut, weil er fett ist, nicht zu faserig. Magerer Fisch muss länger durchziehen, damit er nicht trocken wird, bei fettem Fisch reicht kurzes Marinieren.“

Wer sich mit Alexander Theil unterhält – in der Küche des Mercado wird freilich Spanisch ­gesprochen –, merkt bald, wie wichtig ihm die Chilivielfalt für Ceviche ist. „Wir haben sicher zwanzig verschiedene Chilisorten hier, getrocknet und frisch. Und wir nehmen für jede ­Ceviche eine andere. Habanero, Chipotle, Arbol – der sieht aus wie ein Tannenbaum, daher der Name.“ Klaus Piber wirft ein, dass Chilis ja anderswo auch wegen des Aromas verwendet werden, nicht wie bei uns meistens nur für die Schärfe. Dieser Zugang wird erst langsam bekannt, die ­Vorbehalte gegen Chilischärfe sind hierzulande trotz diverser medial ­ausgeschlachteter Mutproben noch immer groß.
Für seine mit Calamansi-Saft gegarte Seafood-­Ceviche nimmt Ale­xander Theil Venusmuscheln, Shrimps, Calamari, Lachs, Rotwels und Oktopus, „je nach Marktlage“. Das Mercado trägt schließlich den ­Untertitel „Latin inspired Market Cuisine“. Meeresfrüchte oder Oktopus müssen deutlich länger mariniert werden. Insofern ist die Ceviche, anders als man glauben könnte, nicht immer ein unkompliziertes ­Gericht. Meistens aber doch. „In Mexiko“, erzählt Theil, „bekommt man entlang der Küste überall Ceviche als Streetfood, Ensenada ist ein besonders ­guter Ort ­dafür.“ An eigenen Ständen, „wie Hotdog-Ständen“, gibt es in Plastikbechern den fangfrischen Fisch aus dem Hafen, das Fleisch ­gewürfelt und à la minute mit ­Chilisaucen und Limettensaft mariniert. „Manche werden auch in großen Muschelschalen serviert.“

Nicht zuletzt weil seit den letzten zwei, drei Jahren Spitzenköche aus Lima oder Mexico City international im Fokus stehen, ist das Interesse für Ceviche auch bei nicht-lateinamerikanischen Köchen gestiegen. Sie entdecken in zunehmendem Maße die Zubereitungsart mit Säure. Gerade auch für Süßwasserfisch und mit heimischen sauren Alternativen zum Zitrussaft. In Österreich hat etwa Hubert ­Wallner vom Saag am Wörthersee Ceviche aus heimischem Fisch auf der Karte, ebenso Hannes Müller von der Forelle am Weißensee und Alain Weissgerber vom Taubenkobel. Sie alle haben einen eklatanten Vorteil gegenüber Kollegen und Kolleginnen an anderen Standorten: die Nähe zum Wasser, enge Beziehungen zu den ­lokalen Fischern und somit zu absolut frischem Fisch.

Hubert Wallner, Chef des Seerestaurants Saag direkt am Wörthersee, arbeitet mit zwei Fischern am Wörthersee zusammen, zweien am Millstätter See und vier weiteren, die ihn mit Hecht und Krebsen aus Kärntner Flüssen beliefern. Für einen Ceviche-Fan, wie Wallner einer ist, ist die Kärntner Seenlandschaft ein glücklicher Standort. Hubert Wallner hat aber noch ein weiteres Ass im Ärmel: Er bekommt als einer von ganz wenigen die Faakersee-Zitrusfrüchte von Michael ­Ceron. Auch wenn manche, wie etwa die Buddha’s Hand, weniger für den Saft denn für die Schale gezüchtet werden – mit den Kärntner Früchten variiert Wallner seine Ceviche. Neben der Buddha’s Hand kommen in seiner Küche etwa auch die Zitronatzitrone oder die Florentina zum Einsatz. „Wenn wir Ceviche auf der Karte haben, ist sie der Renner bei unseren Gästen. Die wissen: Frischer geht es kaum.“ Wallner verwendet vor allem dickfleischige Fische wie Seeforelle oder Huchen. Reinanke beizt der Saag-Chef im Vakuum mit Caipirinha. Aber auch mit Verjus oder der sauren japanischen Ponzu-Sauce hat er schon experimentiert.

Alain Weissgerber und Barbara Eselböck haben auf ihrer Mexikoreise Anfang dieses Jahres gesehen, wie allgegenwärtig Ceviche dort ist. „Das gibt’s dort ­absolut überall, wie die Guacamole“, sagt der neue Taubenkobel-Chef. „Und in Mexiko kommen generell mehr Zutaten hinein als in Peru. Fast immer mit roten ­Zwiebeln, Kirschparadeisern und Avocadowürfeln. Und entweder aus Mahi Mahi, also Goldmakrele, oder mit Garnelen gemacht.“ Weissgerber richtet sich bevorzugt nach der puren peruanischen Variante, regionalisiert sie aber. Er serviert zum Tonerdäpfelgericht aus dem neuen Taubenkobel-Ofen eine Ceviche aus kleinwürfelig geschnittenen Fischen aus dem Neusiedler See: Schleie, Hecht, Wels, Zander – ganz pur, nur mit Zi­tronensaft gegart und mit Öl verfeinert. Ebenfalls auf der Karte: Wildkarpfen, quasi zum Tiradito in Scheiben geschnitten und anders als die würfelige Neusiedler-See-Ceviche nur kaum gegart. Weissgerber nimmt für dieses Gericht nämlich nicht den puren Zitrussaft, er kocht eine Zitronenmarmelade als Gar-Marinade. „Mit Vanille, Honig, Zesten, Saft, Olivenöl. Die hat genug Säure, um den Wildkarpfen leicht zu garen, aber eben nicht durchzukochen. Man muss natürlich ­Wildkarpfen nehmen, mit Zuchtkarpfen geht das nicht, schon klar. Wildkarpfen aus dem Neusiedler See hat kaum Fett, die Fische werden auch nicht sehr groß, zweieinhalb, drei Kilo vielleicht. Unser ­Fischer lässt sie im Becken schwimmen, bis wir sie ­bestellen.“ Einen Tag vorher müsse man die Karpfen ordern, damit das Fleisch vor der Zubereitung ruhen und sich entspannen kann.

Trotz klarem Bekenntnis zur Regionalität verwendet Weissgerber ­derzeit noch Zitrusfrüchte für die Kaltgarung. „Aber mit Sanddornsaft geht es sicher. Sicher! Mit Sauerampfersaft auch, aber ob man da nicht Zitrone dazugeben müsste?“ Mit Verjus oder ­heimischem Essig könne man auch experimentieren. Je nach Säuregehalt würde der Fisch eben mehr oder weniger durchgegart. Bei derart frischem Fisch, wie ihn der Taubenkobel dank der Nähe zum See bekommt, ist eine teilweise Garung ohnehin kein Thema.

Absolut frischen Fisch bekommt auch Hannes Müller am Weißensee. Mit dem Fischbiologen Martin Müller hat der Chef der ­Forelle den idealen Partner für seine Süßwasserceviche. Müller beliefert Müller etwa mit dickfleischiger Seeforelle, die in der Küche zu grasgrüner Fenchel-Ceviche wird: mit Limettensaft, Fenchelpollenöl, hauchdünn gehobeltem und wie Krautsalat handgeknetetem Fenchel ­sowie selbst angesetztem, knallgrünem Petersilienöl. Farbe ist Müller bei der Ceviche generell wichtig: Balsamico hält er zunächst wegen des Brauns für eine wenig geeignete heimische Fischgarflüssigkeit, die rote Rübe darf hingegen eben wegen der Farbe zum Partner für den rohen Fisch werden. Interessant wird es da beim rosa Saibling, den Hannes Müller zuerst mit Limettensaft gart: „Der Saibling wird gleich heller, siehst?“ Die rote Rübe, die nachher als Saft unter die rohen Fischwürfel gemischt wird, wirkt daher noch knalliger. Hannes Müller ist selbst überrascht. Flugs errichtet er ein kleines Ceviche-Testlabor, bestehend aus kleinen Schüsseln: Saiblingswürfel, nur mit Limettensaft gegart. Saiblingswürfel, nur mit braunem Birnenbalsamico gegart. Diese beiden Saiblingswürfel jeweils mit Rote-Rüben-Saft gemischt. ­Erkenntnis: „Mit Limette wird’s schöner, aber der Balsamico, der ja super und vielschichtig schmeckt, wird durch die rote Rübe farblich gut erträglich. Schaut aus wie Heringssalat, nur frischer.“ Interessant: Innerhalb weniger Minuten ändert sich die Konsistenz der Fischwürfel deutlich. Sie werden fester. Und nachdem Schärfe bei der Ceviche ja klassisch ist, verschärft auch Hannes Müller seine magentafarbene Rüben-Ceviche: mit Kren. Was heißt doch gleich Tigermilch auf Kärntnerisch?

Mercado
Stubenring 18,
1010 Wien

Tel.: 01/512 25 05

www.mercado.at

See Restaurant Saag

Saag 11, 9212 Techelsberg
Tel.: 04272/435 01
www.saag-ja.at

Genießerhotel Die Forelle

Techendorf 80, 9762 Weißensee
Tel.: 04713/23 56
www.forellemueller.at

Taubenkobel
Hauptstraße 27, 7081 Schützen am Gebirge,
Tel.: 02684/22 97
www.taubenkobel.at