Wo bleibt die Gastlichkeit

Erneuerung und Kreativität waren schon immer Teil der High-Level-Cuisine. Doch inzwischen ist der Druck, sie zu liefern, so hoch, dass die Gastlichkeit darunter leidet. Über diskutable Tendenzen im internationalen Restaurantbusiness.

Text von Georges Desrues Illustration von Joel Spector

Der Niedergang der Speisekarte begann im Jahr 1998, als sich Ferran Adrià entschied, in seinem Lokal „El Bulli“ auf eine solche zu verzichten – und künftig nur mehr ein einziges, alljährlich wechselndes Menü anzubieten. Adrià galt als der kreativste ­Küchenchef seiner Zeit, seine Gerichte als regelrechte Kunstwerke, die er über Monate in seinem Labor entwickelte und danach, gleich einem Modedesigner, wie eine Kollektion ­präsentierte. Sein avantgardistischer Stil wurde weltweit kopiert – und mit ihm auch der Verzicht auf die Speisekarte. Plötzlich gab es in kaum einem angesagten Lokal dieser Welt mehr die althergebrachte Liste an Vor-, Haupt- und Nachspeisen, aus der man auswählen durfte, sondern nur mehr ein vom Koch zusammengestelltes fixes Menü.

Es war der Beginn einer Zeit, in der die Küchenchefs nicht mehr danach trachten, ein möglichst wiedererkennbares Gericht, ihr sogenanntes Signature Dish, zu gestalten, das im besten Fall in die Geschichte eingehen würde, wie das etwa Paul Bocuse mit seiner „Soupe aux truffes VGE“ (für Valéry Giscard d’Estaing) oder etwa Alain Ducasse mit seinem „Baba au Rhum comme à Monaco“ gelang. Ab nun hieß das Ziel, die gesamte Palette ihrer offenbar überschäumenden Kreativität jedes Jahr aufs Neue unter Beweis zu stellen. Auch auf die Gefahr hin, den Gast damit heillos zu überfordern.

Als sich dann ein paar Jahre später die skandinavischen Köche und allen voran der Däne René Redzepi, ein Schüler Adriàs, von dessen sogenanntem Molekular-Stil mit seinen Eprouvetten und chemischen Reaktionen abwendeten, neue Natürlichkeit predigten und ein radikales Umdenken einleiteten, behielten sie zumindest eine von Adriàs Neuerungen bei – nämlich das fixe Menü. Und sie ergänzten es durch eine weitere Inszenierung, die den Gast noch ein Stück mehr in den Hintergrund drängte, indem sie die Speisen nicht von den Kellnern, sondern von den Köchen servieren ließen. Von nun an paradierte am Tisch die gesamte Küchenmannschaft, aus der jedes einzelne Mitglieder seine jeweiligen Kreationen präsentierte und ­erklärte, was es sich dabei dachte, als es das Elchfilet mit Sanddorn und frischem Moos kombinierte, oder warum die Pastinake von einem Gärtner bezogen wurde, der in seinem „früheren Leben“ Zeichenlehrer war.
Daraus entwickelte sich ein Stil von Restaurants, der bis heute vorherrscht: Während die Köche bisweilen etwas krampfhaft ihre Kreativität zur Schau stellen, bleibt dem Gast als einzige Freiheit, sich zwischen acht, zwölf oder zwanzig Gängen zu entscheiden, auf deren Inhalt er keinerlei Einfluss hat. Zudem wird die Speisenabfolge häufig auch noch eingeleitet und beschlossen von einer kaum überschaubaren Fülle an Amuse-Bouches, Grüßen aus der Küche, Petits Fours und Ähnlichem, das sich von den Menü-­Gängen vor allem dadurch unterscheidet, dass es nicht auf der Menükarte steht. Lediglich wegen der Zunahme an Allergien, Unverträglichkeiten und moralischen ­Bedenken wird noch gefragt, ob man auf auf gewisse Lebensmittel lieber verzichten möchte.

Zwei Komponenten des Essens leiden ganz besonders unter dem vorherrschenden System, nämlich das Tischgespräch und die Geselligkeit – beide grundlegende Stützen einer gepflegten Mahlzeit. Zwar beschwerten sich Gäste von Spitzenrestaurants in früheren Zeiten häufig über einen Service, der ihnen zu förmlich, zu steif und zu allgegenwärtig erschien. Woraus eine – auch soziale – Hemmschwelle entstand, die so manchen davon abhielt, solche Restaurants überhaupt erst zu betreten. Die Hemmschwelle ist inzwischen zum Glück weitgehend überwunden. Ersetzt aber wurde sie durch die bisweilen als aufdringlich empfundenen Köche, die immer wieder aufs Neue zwischen den Gästen aufpoppen, das Gespräch unterbrechen und die servierten Teller kommentieren. Dass dafür vom Gast bedingungslose Bewunderung oder zumindest ehrfürchtige Anerkennung erwartet wird, versteht sich freilich von selbst.

Doch worauf etliche Köche zu vergessen scheinen, ist, dass der Gast oft gar nicht ausschließlich wegen ihnen oder ihrer Kreativität gekommen ist. Sondern in vielen Fällen in erster Linie, um beispielsweise seinen Geburtstag oder einen Hochzeitstag zu feiern oder einfach einen geselligen Mittag oder Abend zu verbringen. Verlangt aber wird von ihm, dass er auf Geselligkeit und Genuss verzichtet und sich gleich einem professionellen Verkoster einem Menü unterwirft, das in ein Stak­ka­to aus kleinen Gänge aufgesplittet wird, die sich in der Regel eher dazu eignen, per Smartphone fotografiert und in sozialen Netzwerken geteilt zu werden, als dass sie tatsächlich einen bleibenden Eindruck vermitteln könnten über das Können und die Inspiration in der Küche. Dazu kommt auch noch die allgegenwärtige Weinbegleitung, die dazu führt, dass inzwischen jeder einzelne Tischnachbar vor seiner eigenen verwirrenden Wand an Gläsern sitzt, deren Inhalt schnell vergessen ist. Das lässt Sehnsucht aufkommen nach Zeiten, als man sich noch ein ganzes Mahl hindurch mit nur ein bis zwei Weinen eingehend beschäftigte und dabei gemeinsam erlebte, wie sie sich im Laufe des Abends entwickelten.

Endgültig überspannt aber wird der Bogen zurzeit gerade in Amerika, wo noch in diesem Jahr einige Spitzenrestaurants ein System einzuführen planen, bei dem im Voraus, also bereits bei der Reservierung, ein nicht zurückzuerstattender Fixpreis zu zahlen ist. Darunter auch Thomas Kellers zwei Dreisternelokale „French Laundry“ in Nappa und „Per Se“ in New York; so ziemlich das Beste also, was das Land gastronomisch zu bieten hat. Das wiederum widerspricht freilich allen bekannten Regeln der Gastlichkeit. Und es schafft eine Situation, in der man künftig Eintritt bezahlen muss, um an einer Degustation der virtuosen Kreationen des Kochs teilnehmen zu dürfen und seinem Genie zu applaudieren.

Der Trend zieht nicht nur in Metropolen seine Kreise, sondern auch auf kleinen Inseln. Wer im „Fäviken Magasinet“ von Magnus Nilsson speisen will, muss den nicht refundierbaren Rechnungsbetrag bereits bei der Reservierung überweisen.
Dabei ist es kein Geheimnis, dass dem Gastbetrieb aus einem fixen Menü einige Vorteile entstehen. Zum Beispiel ein vereinfachter Ablauf in der Küche und eine einfachere Berechnung des Wareneinsatzes. Einsparen lässt sich aber auch mit servierenden Köchen. So weiß man beispielsweise, dass in der Küche von René Redzepis „Noma“ zusätzlich zur Standard-Mannschaft bis zu 35 Köche gleichzeitig beschäftigt sind. Und zwar gänzlich unbezahlt (weil sie sich durch den daraus resultierenden Eintrag im Lebenslauf einen besseren Karriereverlauf erhoffen). Da liegt es wohl nahe, dieses Heer an Gratiskräften auch für die Arbeit im Service heranzuziehen. Womit zusätzlich zur Geselligkeit und Gastlichkeit auch der ehrenwerte Beruf des Kellners untergraben wird, der bisher als eine Art Medium zwischen Gast und Koch wirkte.

Nun ist es freilich auch zu begrüßen, dass der Kochberuf endlich und völlig zu Recht ­seinen Platz im Kreis der kreativen Berufe einnimmt. Gleichzeitig aber kann man bedauern, dass dabei die gemeinsame Mahlzeit zu einer Art unüberschaubar voluminösem und zugleich oberflächlich durchgeblättertem Katalog seines Schaffens verkommt. Spätestens hier stellt sich die Frage, wem damit eigentlich gedient sein soll? Mit Sicherheit nicht dem Genuss. Ist der doch etwas außerordentlich Komplexes, das erst durch das Zusammenspiel aller Sinne entsteht. Folglich auch nicht jenem Gast, der des Genusses und eines schönen Abends wegen ins Restaurant geht. Aber auch nicht unbedingt dem Koch selbst, dessen wahres Talent unterzugehen droht in der Vervielfältigung der Gänge und der Flüchtigkeit seiner Kreationen. Zu vermuten bleibt also, dass es ihm weniger darum geht, seinen Gästen einen memorablen Abend zu bereiten, als vielmehr Trends zu lancieren, um weiterhin angesagt zu bleiben. Also jene zu beeindrucken, die in einschlägigen Medien, Internetforen und auf Blogs dafür sorgen werden, dass dem Koch und seinem Lokal auch in diesem Jahr und bis zum nächsten die nötige Aufmerksamkeit zuteil wird, die in dieser vernetzten und von Kurzlebigkeit geprägten Zeit über Erfolg und Misserfolg entscheidet. Auf den Punkt gebracht aber hat es René Redzepi selbst, als er anlässlich der vielbeachteten zeitweiligen Übersiedlung seines Restaurants „Noma“ nach Tokio vor wenigen Wochen mit dem The Guardian sprach. Unmittelbar nach der von etlichen Mühen und Pannen geprägten Eröffnung sagte der Küchenchef zu der Journalistin der Londoner Zeitung: „Jetzt muss uns was einfallen, das wir als Nächstes machen könnten.”