Wo die Erdbeere weiß ist
Chile ist ziemlich weit entfernt, aber küchenmäßig ist es uns doch recht nah. Rodolfo Guzmán kocht in seinem Restaurant Boragó so wie andere revolutionär denkende Köche dieser Welt: radikal regional und mit einem gesamtkulturellen Ansatz – in diesem Fall mit den indigenen Ressourcen einer noch weitest unentdeckten Natur. Text & Fotos von Bernhard Rothkappel Redaktionelle…
Chile ist ziemlich weit entfernt, aber küchenmäßig ist es uns doch recht nah. Rodolfo Guzmán kocht in seinem Restaurant Boragó so wie andere revolutionär denkende Köche dieser Welt: radikal regional und mit einem gesamtkulturellen Ansatz – in diesem Fall mit den indigenen Ressourcen einer noch weitest unentdeckten Natur.
Text & Fotos von Bernhard Rothkappel Redaktionelle Mitarbeit: Carlos Álvarez
Chile – das ist jener Erdteil, der von Pablo Neruda als „Land mit einer verrückten Geographie“ beschrieben wurde. Hier befinden sich innerhalb der Landesgrenzen der trockenste Ort, die zweithöchste Bergkette und der kälteste Punkt der Welt. Keine Landschaft gleicht der anderen: Wüste im Norden, alpine Tundra und Gletscher im Süden, die Osterinseln mit ihrem feucht-subtropischen Klima mitten im Pazifik und mediterranes Klima rund um die Metropole Santiago. Und es ist genau hier in Chile, wo Rodolfo Guzmán, 32 Jahre alt und gelernter Biochemiker, die Inspiration für seine einzigartige Küche fand und die Kombination aus endemischen Zutaten – die von der indigenen Bevölkerung lange vor Ankunft der spanischen Eroberer verwendet wurden – mit modernsten Kochtechniken perfektionierte. Was Guzmán in dieser „verrückten Geographie“ findet? Weiße Erdbeeren aus Purén – die Großmutter unserer gewöhnlichen und hundertfach gekreuzten Erdbeere. Pilze aus Patagonien, die nur alle paar Jahre aus dem Boden schießen. Tausend Jahre altes Gletscherwasser aus dem antarktischen Eis. Regenwasser aus dem Valdivianischen Regenwald. Fisch von den Osterinseln. Und eine unglaubliche Vielfalt an Kräutern, wie das Oxalis Carnosa aus den Anden. Die Liste ist endlos, so wie die Menüs, für die Guzmán und sein ambitioniertes Team jeden Tag in Kleinstarbeit Zutaten sezieren und präparieren.
„Sammeln“ ist ein sehr oft gebrauchtes Wort in der Küche von Rodolfo Guzmán und hat das typische „Kaufen“ fast zur Gänze ersetzt. Welchen Wert haben gesammelte Zutaten für den Küchenchef? „Ich könnte mit Trüffeln arbeiten – ein Anruf, und zwei Tage später bekomme ich die kostbaren Knollen aus Italien oder Frankreich. Aber wieso soll ich Trüffeln verwenden, wenn ich mit einzigartigen weißen Erdbeeren arbeiten kann, die nur zwei Wochen im Jahr und nur in Chile zu finden sind? Welchen Wert hat die weiße Erdbeere im Vergleich zur Trüffel? Trüffeln sind teuer, aber weiße Erdbeeren sind unbezahlbar. Auch unsere Pilze aus Patagonien sind unbezahlbar. Mit viel Glück sind sie ein paar Wochen im Jahr zu finden. Manchmal vergehen Jahre, in denen wir keine finden.“ Nicht mehr wegzudenken aus seiner Küche ist die Frucht Piñones vom Araucaria Araucana, dem heiligen Baum der Mapuche und Nationalbaum von Chile. Dieser Baum wird auch „lebendes Fossil“ genannt, weil er schon zur Jurazeit existierte, als die Kontinente noch zusammen waren und Dinosaurier die Erde bevölkerten. „Wir verwenden hier im Restaurant teils Zutaten, die schon die Dinosaurier genährt haben. Ein Privileg, kein Luxus. Es ist doch absurd, das teuerste Mineralwasser der Welt zu importieren, wenn wir doch tausend Jahre altes Gletscherwasser vom ewigen Eis aus dem Süden trinken dürfen. Wasser, das immer da war, unberührt und rein ist. Zutaten zu verwenden, die seit Anbeginn zu Chile gehören, ist einzigartig und sogar bizarr, aber Teil unserer Kultur, unserer Völker und unserer Traditionen. Wir bieten der Welt den wahren Geschmack von Chile.“
Jede Woche machen sich Rodolfo Guzmán und sein Team auf die Suche nach Essbarem. Nur 90 Autominuten von der Hauptstadt Santiago entfernt befindet sich an der Pazifikküste ein intaktes Ökosystem, das Heimat unzähliger Pilzarten, Kräuter, Algen und Meerestiere ist. Der Kiefernwald nahe dem kleinen Fischerdorf Quintay ist mit seinem einzigartigen Mikroklima – feuchte, nebelige Morgen und warme, sonnige Nachmittage – sowie der salzigen Meeresluft und seinem sauren Boden einer der beliebten Sammelorte: Aus der zerdrückten Oxalis Carnosa-Pflanze entsteht eine köstliche Sauce, deren Säure perfekt mit Fisch harmoniert; Kiefernöle und der Hongos de Pino-Pilz, der als Parasit auf den Kiefern wächst. Diese speziellen Zutaten verleihen Guzmáns Küche das unverwechselbar salzige Aroma der Pazifikküste. Die Suche in den Bergen gestaltet sich umso zäher: Sobald der stockende Morgenverkehr der Metropole gemeistert ist, steuert Guzmán im rasanten Tempo seinen 4×4 die kurvigen Bergstraßen auf die nahe gelegenen Anden zu. Die Spannung steigt bei jedem zurückgelegten Meter, ist doch gerade der Beginn des chilenischen Sommers Ende Dezember die ergiebigste Zeit für wilde Kräuter. Die Fahrt auf fast 4.000 Meter wird immer wieder durch abrupte Stopps unterbrochen, Guzmán und sein Souschef Serge springen aus dem Auto und verschwinden im Gestrüpp: „In einer Woche müssen wir nochmals hierherkommen, dann sind die Aromen für unsere Küche perfekt gereift.“ Es werden Fotos gemacht, die GPS-Daten der Stelle gespeichert, und es geht weiter. Nächster Stopp auf 2.500 Metern, wo die Landschaft immer mehr von Kakteen geprägt ist. Gerade diese Kakteen hat Rodolfo im Auge. Oder besser gesagt, die Parasiten, die auf den Kakteen wachsen. Er reißt einen ab, prüft dessen Konsistenz und Geschmack und entscheidet, ihn noch weiter wachsen zu lassen. Der Rest der Strecke zum Gipfel auf fast 4.000 Meter besticht durch seine karge Vegetation, die Luft wird immer dünner. Doch gerade unter diesen schwierigen Bedingungen wachsen Kräuter und Blumen, die in ihrem Geschmack einzigartig sind und jahrzehntelang von der Landesküche ignoriert wurden. Stolz und sichtlich aufgeregt zeigt der chilenische Küchenchef eine sehr entfernte Art des Korianders. Nicht der übliche Koriander aus dem Supermarkt, sondern eine Pflanze, die nur auf über 2.500 Metern in den Anden wachsen kann. „Ein toller Fund im Tresor der Anden. Der erstaunlich intensive Geschmack harmoniert bestens mit dem Kra-Kra-Fisch von den Osterinseln“, schwärmt Guzmán, während er sich Notizen für sein „Sommer-Endémica-Menü“ macht. Serge hat eine kleine grüne Pflanze gefunden, zerreibt die Blätter zwischen den Fingern, riecht daran und schließt die Augen. Der intensive Ananasgeruch versetzt ihn auf die karibischen Inseln. Neue Kombinationen für das „Naturalización Local-Menü“ entstehen dabei in seinem Kopf. Zeit, nach erfolgreicher Ernte den Rückweg anzutreten.
Nach dem Ausflug im Restaurant angekommen, das sich im schicken Bezirk Vitacura befindet, werden Blumenbeete bewässert, Gräser geschnitten und Blüten gezupft. Rund um das durch verschiebbare Glaswände abgegrenzte Esszimmer befinden sich Kräutergärten und Blumenbeete, wo chilenische Kräuter wie Oxalis (Sauerklee), Borágó officinalis (Borretsch, auch Namensgeber für das Restaurant), Lobularia maritima (Strand-Silberkraut), Tulbaghia violacea (Tulbaghia) und Plantago major (Breitwegerich) wachsen. Mit Hilfe von Pinzetten werden in chirurgischer Präzision Blüten und Blätter gesammelt, um die äußere Schönheit sowie die wichtigen Inhaltsstoffe im Inneren zu erhalten. Wissenschaft, Kochkunst und jahrhundertealte Traditionen werden im Boragó vereint. Nicht nur die Verwendung von Pinzetten erinnert bei der Zubereitung der Gerichte an ein Labor, auch so manches Gerät. Gläser, Tuben und allerhand wissenschaftliche Geräte zeugen von Rodolfos Liebe zur Wissenschaft. In der Küche und im Keller wird experimentiert, um das Beste aus jeder vegetativen Zutat herauszubekommen. Die daraus gewonnenen Aromen werden bis zur Verwendung in medizinischen Gefrierschränken konserviert.
Guzmáns Leidenschaft für die Natur und wilde Ingredienzien geht auf seine Ausbildungszeit in Chemical Engineering and Bioprocess an der Pontificia Universitad Católica de Chile zurück. Unter Federführung des renommierten Bildungszentrums soll noch heuer ein Laboratorium im Boragó errichtet werden. Gemeinsam mit Wissenschaftlern sollen essbare, aber bisher unbekannte Pflanzenarten, Kräuter, Baumrinden und Pilze getestet und katalogisiert werden. Gerade die vielfältige Flora des Naturreservats Parque Oncol im Valdivianischen Regenwald ist für sie von großem Interesse, denn durch die isolierte Lage konnten bis heute entwicklungsgeschichtlich sehr alte Formen überleben: „Wir wollen die klimatische Vielfalt des Landes und die verschiedenen Texturen, Gerüche und Geschmacksrichtungen der autochthonen chilenischen Zutaten zu hundert Prozent repräsentieren.“
Nach einem gemeinsamen Mittagessen und der obligatorischen Siesta trifft sich die ganze Boragó-Mannschaft am frühen Nachmittag auf der Terrasse, um die Menüs des Abends zu besprechen. Es ist überraschend, dass das Team nicht nur aus Chilenen besteht, sondern aus einer wahrlich internationalen Gruppe. Serge, ursprünglich aus Mexiko, erinnert sich: „Ich hatte die Möglichkeit, in vielen großen Restaurants in Europa oder den USA zu arbeiten. Aber ich wollte nicht ,más de lo mismo‘, ich wollte etwas ganz Neues kennenlernen – Boragó ist für mich der einzige Ort dafür – ein Ort, der inspiriert, der eine neue Kochkunst bietet.“
Señora Ximena Araya, welche die Agenden von Guzmán koordiniert, erhält jede Woche unzählige Bewerbungen von jungen Menschen aus der ganzen Welt, die im Restaurant einen Ausbildungsplatz suchen. Das derzeitige Team besteht aus Mitarbeitern aus Chile, Mexiko, Argentinien, Peru und der Schweiz.
Kurz vor dem Eintreffen der ersten Gäste wird von Barkeeper Dennis nach traditioneller Mapuche-Art die Guillatún-Zeremonie durchgeführt, bei der geheimnisvolle Pflanzen und Baumrinden wie Boldo, Ruda, Canelo, Llantén und Palqui angezündet werden und damit der ganze Restaurantbereich geräuchert wird. Der einheimische Tribus will mit dieser Tradition die Gemeinschaft stärken und Mutter Natur für das Essen danken. Während Dennis die Zeremonie durchführt, herrscht in der Küche bereits Hochbetrieb. Steine werden auf dem Gasherd erhitzt, Äste werden in stundenlanger Handarbeit arrangiert. Das Endémica-Menü zeigt in acht Gängen, was das Land zu bieten hat: der Starter „Quintay Bosque Tatar“, eine aufwendig arrangierte Hommage an den Wald, „Curanto mit patagonischem Regenwasser“, eine Speise, deren Ursprung zur präkolumbianischen Ära zurückreicht, und weiße Erdbeeren aus Purén zum Abschluss. Alle Gerichte werden von perfekt abgestimmten Weinen begleitet, die übrigens speziell für Boragó produziert werden – Weine, die in eher unüblichen Lagen wachsen, wie etwa der Sidra, Misia Rosario, 2012 vom Weingut Sagrada Familia, der extra für das Zusammenspiel mit den Schnecken „Pichanga“ hergestellt wurde. Das Naturalización Local-Menü ist ein Best-of der gerade erhältlichen Zutaten, das in noch mehr Gängen als das Endémica-Menü einen tiefen Einblick in die Küche von Chile gibt. Weitere interessante Gerichte, wie etwa das Dessert mit Maqui-Beeren aus dem Süden, die wegen ihrem intensiven Geschmack und ihrer positiven Auswirkungen auf die Gesundheit weltweit von Interesse, aber nur in Chile frisch zu haben sind, werden à la carte angeboten. Nicht nur der Geschmackssinn wird im Laufe des Abends angesprochen, sondern auch alle fünf Sinne – sogar der Tastsinn wird im Laufe der vielen Gänge ordentlich gefordert. Jedes Gericht wird auf typischen chilenischen Mineralsteinen serviert, händisch geschliffen von Handwerkern des Landes.
Guzmán geht unbeirrt seinen Weg. Jeden Abend präsentiert er aufs Neue die vielfältigen Schätze des Landes vor den Augen seiner enthusiastischen Gäste, die dafür sogar eine 17 Stunden lange Reise von Madrid nach Chile auf sich nehmen. Joan Roca vom spanischen Restaurant El Celler de Can Roca ist gerade gemeinsam mit der gesamten Mugaritz-Mannschaft Gast im Boragó. Zwischen Mugaritz-Chefkoch Andoni Luis Adurit und Guzmán existiert eine ganz besondere Verbindung: „Mugaritz war der entscheidende Punkt in meinem Leben. Das Arbeiten mit Andoni war etwas ganz Besonderes. Aber zur selben Zeit habe ich darüber nachgedacht, dass ich etwas total anderes machen möchte. Im Mugaritz habe ich viel über Philosophie und die Verbindung zwischen Mensch und Natur erfahren. Das hat meine Augen geöffnet, und ich habe begriffen, dass wir hier in Chile kulinarische Multimillionäre sind. Ich habe mich dafür entschieden, den ganzen Reichtum meines Heimatlandes zu zeigen. Mein erstes Restaurant befand sich anfangs in einem ganz kleinen Haus. Das Geld reichte für drei Monate, danach war ich pleite. Jeder sagte mir, dass meine Küche nicht wirklich geeignet sei für die chilenische Klientel. Aber ich habe nicht auf sie gehört – ich wollte meinen Traum verwirklichen.“ Und heute, acht Jahre später, ist sein Traum Wirklichkeit geworden. Das Restaurant ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Die großen Glastüren zum Garten sind geöffnet und der intensive Duft der chilenischen Kräuter strömt durch Boragó.