Wovon Kellner träumen

Köche und Kellner sind die natürlichen Feinde in der Gastro-Landschaft. Im kleinen Universum zwischen Bratpfanne und Dessertbesteck spielt es sich, wenn man genauer hinsieht, gehörig ab. Und wie sonst auch in der Natur, geht es um Nahrung, Konkurrenz, Rangordnung (das mit der Fortpflanzung wollen wir ausnahmsweise weitgehend ausblenden).

Wovon Kellner träumen

Text von Eva Rossmann Illustration: Auge
Eigentlich ist es unfair, wenn eine wie ich über Kellner schreibt. Denn ich arbeite in der Küche. Klarerweise stehe ich auf dem Standpunkt, dass ohne gute Küche gar nichts geht. Allerdings muss ich zugeben, dass es immer wieder Lokale gibt, in denen es irgendwie anders läuft. Sie sind gerammelt voll, und das kann nichts mit kulinarischem Genuss zu tun haben. Beim Essen geht es eben doch auch um Illusion, und gute Kellner verstehen es, sie zu erzeugen. Es ist eben ein Unterschied, ob ein alter Ober zum Tisch schlurft und die Paradeisersuppe so einparkt, dass sie weit an den Tellerrand schwappt oder ob dieselbe Suppe von einem Maître gebracht wird, der sie elegant mit einer kleinen, aber keinesfalls unterwürfigen Verbeugung und dem hintergründigen Lächeln, als ginge nichts über diese Suppe und als sei man unter den vielen der einzig auserwählte Gast, sorgsam, beinahe zärtlich serviert. Auch wenn das noch lange nicht bedeuten muss, dass der Grandseigneur in jeder Situation hochvornehm ist.
Da gibt es solche, die gleichzeitig die kompliziertesten Gäste befriedigen und ihren Lehrling, der in Stehschlaf verfallen ist, in den Knöchel tretend auffordern, den Aschenbecher zu tauschen. Von gewissen Witzen, die so mancher Maître drauf hat, wenn er eine Minute im Gang steht und an seinem – hoffentlich – alkoholfreien Getränk nippt, ganz abgesehen. Drehen sie sich ausnahmsweise nicht um das Paarungsverhalten und alles, was so dazu gehört, dann handeln sie von Köchen. Was ist die Kochhaube? Die Fortsetzung eines Hohlraumes. Bruhaha.
Weil wir in der Küche arbeiten ja bloß mit Bons, zehn, zwanzig, dreißig Speisen gleichzeitig, meine Güte, was soll das sein? Ist bereits alles aufgenommen und notiert, man arbeitet sie einfach ab. Und dauert es zu lange, und geht etwas schief, wer kriegt das Fett ab? Die Leute an der Front.
Wir brauchen unseren Kopf zu mehr, als eine Haube daran zu befestigen, sagen sie.
Abgesehen davon, dass einem trotzdem auch im Service Hohlköpfe begegnen können (es soll sogar solche geben, die nach drei Wochen das gegrillte Reh noch immer nicht vom Veltlinerlamm unterscheiden können): Versuchen Sie durch einen Gastraum mit lediglich sechs Tischen zu gehen und drei Teller zu tragen (große, schicke, schwere natürlich, das gehört sich inzwischen so). Sie meinen, die bräuchte man nur dort – elegant – abzustellen, wo sie hingehören? Ja schon, aber auf dem Weg bittet Sie die Dame von Tisch 2 mit den friseurblonden Haaren um eine frische Stoffserviette, ihre sei zu Boden gefallen. Der Bub neben ihr fragt nach dem gelben Fanta, der ältere Herr auf Tisch 3 möchte gerne ein Seidl Hausbier, Tisch 4 gibt Ruhe und studiert erstaunlich konzentriert die Rechnung – verdammt, hat der Lehrling oder die Aushilfskraft etwas falsch boniert? –, die blonde Dame auf Tisch 5, die der Dame auf Tisch 2 erstaunlich ähnlich sieht, möchte gerne wissen, woraus die Kruste beim knusprig gegrillten Fisch besteht und außerdem hätte sie gerne einen Wein dazu empfohlen, trocken soll er schon sein, aber auch fruchtig und doch nicht zu sauer.
Der Ober-Über-Mensch notiert also im Geiste (weil in der Hand hat er ja die Teller): eine Serviette der Blonden auf 2, dem Buben statt dem gelben Fanta ein oranges oder ein Maracuja-Kracherl anbieten, den Lehrling fragen, ob er auf Tisch 4 korrekt boniert hat, dem Grauhaarigen mit der Brille auf 3 ein Seidl Hausbier, für die Blonde auf 5 irgend einen offenen Weißwein, der eher nicht zu trocken ist und vorher noch in der Küche vorbeischauen und fragen, was die verdammten winzigen Kugerln sind, die die Hautseite des Wildkarpfens hoffentlich knusprig machen, warum sich der Küchenchef auch jeden Tag einen neuen Unsinn einfallen lassen muss. Und natürlich müssen die drei Teller, wegen denen man ja eigentlich gestartet ist, in passendem Tempo zielstrebig mit entsprechender Hingabe serviert werden. Ja, selbstverständlich, einen großen Blattsalat ohne Rucola, dafür aber doch mit ein paar von den marinierten Kürbisstreifen, die vor zwei Wochen so köstlich waren – wird sofort nachgeliefert.
Als er dann vergisst, das Hausbier zu servieren, weil er sich zu merken versucht, dass das knusprig gegrillte Getreide auf dem Fisch Quinoia heißt, erntet er Kopfschütteln. Sechs Tische, das mache ein Profi doch mit Links, noch dazu, wo er einen Lehrling an der Seite hat und auch die Chefin immer wieder zu sehen ist. Dabei ist das Hühnerauge auf der rechten kleinen Zehe schon wieder aufgerissen, er muss sich um neue Schuhe kümmern, aber wann geht sich das aus, noch dazu, wo er seiner Frau versprochen hat, mit ihr am freien Tag endlich zu ihren Eltern zu fahren, Christa will er nicht auch noch verlieren, nachdem ihn Petra verlassen hat, obwohl: In letzter Zeit hat sie so einen abwesenden Blick, als würde sie am Wochenende, während er nicht zu Hause ist, Dinge tun, von denen er nichts zu wissen hat. Selbstverständlich, das Hausbier kommt schon! – Da kann es schon sein, dass man nach einem heißen Fußbad nach Mitternacht noch von Blonden und Grauhaarigen und Gelben und Servietten und der Liste an offenen Weinen und – wie heißt das Getreide noch einmal? – träumt.
Manchmal hilft nur mehr der Blick am Gast vorbei, zuerst das eine und dann das andere erledigen, auch als "die alte Kellner-Krankheit" überliefert: das Wegschauen. Es soll allerdings Fälle geben, in denen es chronisch geworden ist …
Auch rufen hilft dann nicht immer, man kann ja nicht nur wegschauen, sondern auch weghören. Und überhaupt: Das mit dem Herbitten ist so eine Sache. "Kellner!" ist in schlichten Lokalen durchaus möglich, in den so genannten besseren ist es von Vorteil, man verlangt nach dem "Ober!", es soll ja auch eitle Menschen dieser Profession geben. Aber wie verhält man sich bei weiblichen Wesen, deren Namen man nicht kennt?
"Kellnerin", das geht – aber kaum soll es etwas vornehmer sein: "Oberin"? Oder als Pendant zum Maître vielleicht gar "Maîtresse"? Oder sollte man sich an den korrekten Ausdruck "Servicemitarbeiterinnen und Servicemitarbeiter" halten? Das klingt ähnlich attraktiv wie "Sättigungsbeilage" für ein Erdäpfel-Trüffel-Soufflé.
Jedenfalls, gesucht: devotes Genie mit Sinn für Humor und maximaler Flexibilität, das sowieso von sich aus erkennt, was man von ihm oder ihr möchte, ob der "gute Tisch" in diesem Fall in der Mitte, also im Zentrum des Geschehens oder am Rand liegt, ob er eher hell oder romantisch beleuchtet sein soll. Vom legendären Oberkellner eines großen Hotelrestaurants wird erzählt: Eine Dame ruft an, "Herr Ober, ich bräucht‘ für heute Abend einen Tisch für 100 Personen, geht das?" – "Selbstverständlich gnädige Frau, da schieben wir einfach zwei 50erTische zusammen."
Warum wird jemand Kellner? "Shit happens", hat mir einer darauf gesagt, übrigens ein ziemlich guter. Vielen ist es tatsächlich passiert, aber das ist wohl generell bei der Berufswahl so. Neben einer guten Kondition gehört jedenfalls ein gewisses Selbstdarstellungstalent dazu, um sich in dem Beruf wohl zu fühlen. Ober Rudi* ist gelernter Schauspieler und Tänzer, aber als es in den 60er-Jahren weder in Belgrad noch in Wien ausreichend Engagements gab, wurde aus Slobodan Rudi ("Wenn du dir Slobodan nicht merken kannst, dann nenne mich Rudi, nach Kronprinz Rudolf.") und, ohne eigentlich seine Profession zu wechseln, tritt er seither als Kellner auf. Wenn das jeweilige Stück gut (Dinner for One wurde eigentlich für ihn geschrieben.) und das Publikum ihm (und uns in der Küche) gewogen ist, erntet er die verdienten Ovationen. Ansonsten ist er eben manchmal auf den Humor der Gäste – und des Küchenpersonals – angewiesen. Rudi: "Er will weißes Erdäpfelguylas, aber ohne Eierschwammerl." – "Will er es mit vegetarischen Grammeln?" – "Mach, was du willst, irgendwas drauf." – "Aber das mit den vegetarischen Grammeln haben wir auf der Karte, hast du ihm davon nichts gesagt?" – "Hab ich, natürlich, will er auch nicht." – "WAS DANN???" – "Irgendein Tschicksi-Tschacksi, mach, was du willst. Ich verkaufe schon." Zum Glück arbeite ich Mordphantasien in Kriminalromanen ab. Und ansonsten lieben wir ihn alle – meistens.
Außer dem Schauspieler lassen sich, ähnlich wie in der klassischen Temperamentelehre, noch andere Kellner-Typen unterscheiden: Da gibt es den "Champion", alles erledigt er mit Grandezza, manchmal macht er eine Drehung zu viel, er lebt davon, gut, schnell, elegant, der Beste zu sein – bloß manchmal ist ihm der Blick in den Spiegel wichtiger als jener auf die Gäste. Der "Knecht" ist gut ausgebildet, ein bisschen ein Streber, in jedem, auch im unnötigen Fall, unterwürfig. Der "Ländliche" hat häufig rote Backen, ist eifrig und bemüht, manchmal eine Spur klobig, aber immer guten Willens. Der Blick des "Intellektuellen" ist bisweilen umflort (was nicht vom Denken kommen muss), er gibt gerne seinen Senf zu dem, was Gäste sagen, und seine Körpersprache lässt erkennen, dass er eigentlich für Besseres geboren ist. Das hat man in der Küche so gerne wie jene, die ständig mit Sonderbestellungen kommen oder süffisant mitteilen, "Tisch dreizehn hat das Rindsfederl zäh gefunden, ich finde auch, das Zeug kann man nicht beißen." Manchmal soll darauf heiße Rache folgen: Man nehme einen servierfertigen Teller, mache ihn am Ofen auf der einen Seite glühend, greife ihn auf der kalten an und halte ihn dem Ober lächelnd entgegen.
Aber das ist ohnehin harmlos gegen die echten Service-Albträume, wie zum Beispiel der Sache mit den Fremdsprachen. Maître Walter* ist nicht nur ein Grand Seigneur der Servicekunst, sondern auch durchaus im Stande, mit Menschen anderer Muttersprache zu parlieren: vorausgesetzt, sie verstehen Deutsch (ersatzweise auch Englisch oder Französisch). Da war der elegante Italiener, noch dazu aus der Chefetage eines italienischen Gourmetführers, er schlug sich immer wieder mit großer Geste und rollenden Augen an die Brust. Womöglich hat er etwas mit dem Herz, der wird uns hoffentlich nicht eingehen, meldete Walter besorgt. Es war zum Glück anders: Der interessierte Gast hatte von Buchingers Bruckfleisch gehört, da ist unter anderem Herz drinnen und an dieses klopft man sich zur Untermalung dessen, was man will, eben leichter als gegen die Milz.
Oder: Zwölf Personen, die angeblich reserviert haben, aber nicht im Reservierungsbuch zu finden sind, und jetzt erstens einen Tisch, zweitens ein fünfgängiges Überraschungsmenü (zwei der Gäste sind Vegetarier, einer isst kein Lamm und die ältere Dame hat eine Zwiebel-Allergie) und das drittens mit Weinbegleitung wünschen. Und der Küchenchef ist schon seit der Früh unansprechbar.
War (trotzdem) alles zur Zufriedenheit? Vielleicht sogar mehr als das? Dann gibt es neben vielen guten einen unübertroffenen Weg, es mitzuteilen: Trinkgeld. Darüber sind sich so gut wie alle Kellner, egal in welchem Rang, egal, welchen Geschlechts und mit welchem Temperament, einig.