Zuckerbrot und Peitsche

Angeblich kommt das Beste zum Schluss. Patissiers sorgen für den furiosen Schlusspunkt eines Menüs. Trotzdem ist der süße Berufsstand arg gefährdet: Kostenbewusstsein und Nachwuchsmangel sind dafür verantwortlich, dass nicht mehr jedes Restaurants süße Spezialisten beschäftigt.

Zuckerbrot und Peitsche

Text von Viola Cornel Fotos: Thomas Apolt
Zur A-Klasse in der Spitzengastronomie zählt das "Ikarus" im Hangar-7 am Salzburger Airport. Unter der spektakulären gläsernen Hülle wird Monat für Monat nach der Vorgabe eines Weltstars aufgekocht, für die Umsetzung dieses Chamäleon-Konzepts zeichnet Executive Chef und Witzigmann-Schüler Roland Trettl verantwortlich. Neben ihm steht ein zweiter Mann am Herd: Chefpatissier Christoph Lindpointner.
Nach zehn Jahren im Ausland war dem gebürtigen Salzburger das ewige Kofferpacken zu viel. "Es war ein Riesenglück. Zwei Stunden bevor wir uns bei ihm melden wollten, hat er bei uns angerufen und gefragt, ob wir nicht einen Job für ihn hätten", so Trettl. Über neun Jahre Erfahrung kann der Weltenbummler als Chefpatissier vorweisen, darunter finden sich Topstationen wie das "Dieter Müller" in Bergisch Gladbach, das "Marstall" in München oder das Restaurant im Hotel Villa Belrose in Saint Tropez. Im "Ikarus" ist Lindpointner seit zwei Jahren der Mann fürs Süße. Den Posten des Patissiers zählt Roland Trettl zu den schwierigsten und wichtigsten. "Der Gast merkt sich, was er am Anfang bekommt und was er am Ende bekommt. Das ist es, was in den Köpfen am meisten hängen bleibt." Dennoch will Trettl die Nachspeise nicht als das Highlight einer Menüabfolge sehen: "Das Dessert muss etwas sein, das dich nach einem sechsgängigen Höhepunkt zum Orgasmus führt."
Eine eigene Dessertkarte gibt es in dem 5-Stern-Restaurant nicht. "Wir machen vier Menüs, die drei Desserts von den Gastköchen werden so nachgekocht, wie sie in den jeweiligen Restaurants gemacht werden." Bei den Vorgaben der internationalen Größen ist Lindpointner immer wieder gefordert: "Bei Jean-Georges Klein mussten wir am Anfang ein bissl kämpfen. Wenn du ein Dessert in drei Gängen schickst, ist das natürlich ein enormer logistischer Aufwand. Es dauert schon manchmal eine Woche bis alles rund läuft."
Grenzenlos austoben kann sich Lindpointner beim "Ikarus"-Menü. Traditionelle, heimische Desserts reizen ihn besonders: "Wenn du ständig alles ganz modern machst, mit Kugeln, Schaumzeug und komischen Nudeln, dann kocht ganz Europa gleich. Spannend ist, worin sich die Länder unterscheiden." Bei ihm können es auch Schmarren und Marillenknödel sein. "Wenn man den Gast mit etwas beeindruckt, wo er Vergleichsmöglichkeiten hat, dann hat man’s richtig gut gemacht." Ein Faible hat der Durchtrainierte für Schokolade. Laufend besucht er Seminare bei dem für ihn besten Schokoladepatissier, Frédéric Beau von Valrhona.
Roland Trettl ist von dem Fanatismus des 34-Jährigen beeindruckt: "Dazu musst du geboren sein. Jeden Tag mit süßen Sachen arbeiten, jeden Tag die Schokolade riechen." Lindpointner nimmt’s gelassen: "Ich hab‘ kein Problem damit. Obwohl, manchmal gibt’s schon Zeiten, da trink‘ ich gerne einen ordentlichen Schluck Salatmarinade, wieder mal was richtig Saures."
Über den Dächern der Salzburger Altstadt laufen die Rührmaschinen den ganzen Tag. In der Küche von Sepp Schellhorns "M32" wird nonstop der Teig für den Apfelstrudel gezogen und die Masse für Linzer Torte, Marmorgugelhupf und Kuchen produziert. Unter einer Lichtinstallation aus 500 Hirschgeweihen treffen Business-People auf Festspielgäste und Touristen – zum Frühstück, zum Mittag- oder zum Abendessen. "Wir haben hier eine moderne Art von Gastronomie und das ist das Witzige. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen", sagt Schellhorn. Für seine Patisserie hat er Anna Weichselbaumer engagiert. "Eigentlich hat sie bei mir gelernt, im ,Seehof‘ in Goldegg. Nach der Lehrzeit, einem Jahr als Jungköchin und einer Zwischenstation im Schlosshotel Fuschl ist sie zur Eröffnung vom ,M32‘ wieder zu mir gekommen." Mittlerweile hat die ehrgeizige Patissière auch die Souschef-Position inne. Die Gerichte wechseln täglich. "Es gibt eine Lunch- und eine Fine-Dining-Karte, mit je vier Desserts. Wobei immer auch ein Käsegang dabei ist, den auch der Patissier macht, karamellisierte Äpfel mit Ziegenfrischkäse etwa." Die Desserts sind sowohl international als auch österreichisch inspiriert. Klassiker wie Salzburger Nockerl dürfen natürlich nicht fehlen.
Für Küchenchef Walter Hintner ist das Dessert der krönende Abschluss eines Menüs. "Wenn alles super war, aber das Dessert war wow, dann geht der Gast auch mit einem Wow-Effekt raus." Bei ihren Kreationen stellt die 24-jährige Patissière das Grundprodukt in den Mittelpunkt: "Wenn auf meiner Karte Mangoterrine mit Orangensorbet steht, dann möchte ich auch, dass die Terrine nach Mango und das Sorbet nach Orange schmeckt." Der krampfhafte Versuch, etwas besser zu machen, geht manchmal in eine falsche Richtung. "Da gibt man in ein Topfennockerl einen Haufen Gewürze rein und danach schmeckt’s gar nicht mehr nach Topfen." Verspieltes Anrichten kommt bei Weichselbaumer nicht in Frage. "Sicher zieh‘ ich auch manchmal Zuckerfäden oder lege selbstgemachte Hippen aufs Dessert, aber das gehört genauso zu einer Nachspeise wie eine gute Sauce zum Hauptgang." Hintner sieht’s pragmatisch: "Wir machen a guats Soufflé, a guats Sorbet und a guats Finish. Wir brauchen kane zehntausend Sachen am Teller, wo nix nach etwas schmeckt."
Bei Johanna Maier gibt es keinen eigenen Patissier. Die Rezepturen kommen von ihr selbst und ihre Küche versteht sie als eine Art Durchlaufstation für die Köche von morgen. "Es ist nicht so, dass ich mich dazu entschieden habe, keinen Patissier zu haben. In meiner Küche arbeiten eben fast nur junge Leute, die ausgelernt sind oder die Hotelfachschule abgeschlossen haben. Sie kommen zu mir, um meine Küche und meine Patisserie kennenzulernen und gehen dann nach einem Jahr zu anderen Kochstars."
Die Leidenschaft für Desserts hat die Köchin erst mit der Zeit entwickelt. Möglicherweise waren’s die Mehlspeisen der Großmutter: "Meine Oma hat bescheiden, aber sehr gut gekocht. Rohrnudeln oder Buchteln. Im Reindl hat sie die leckersten Sachen gemacht, ohne viele Zutaten." In der "Hubertusstube" werden die Desserts – derzeit etwa "Variation von Mohn, Tahitivanille und Passionsfrucht" oder "Ein süßer Traum von Apfel und Marzipan" – seit über zwei Jahren in zwei Gängen serviert. "Ich seh‘ ein Menü als Musikstück, das zart und leicht ist, aber auch Kraft hat und impulsiv ist. Wenn ich zwei Desserts serviere, dann passiert das schon mit einem Hintergedanken. Es muss einerseits etwas Warmes, Molliges sein, das einem ein Wohlgefühl gibt, aber es soll auch etwas Frisches sein." Nach dem Dessert verteilt Johanna Maier persönlich hausgemachte Pralinen, Schokogugelhupf als Give-away und den berühmten Liebestrunk an ihre Gäste. Der erotisierende Cocktail wird mit Zimt, Nelken, Ingwer, Sternanis und Vanille angesetzt und noch warm serviert. "Ich interessiere mich sehr für Ayurveda und TCM, und das nicht erst seit gestern. Bei einem Urlaub in Sri Lanka habe ich nur Ayurveda-Bücher gelesen und bin alle Gewürze durchgegangen. Da hab‘ ich gedacht, nachdem dieses und jenes Gewürz aphrodisierend wirkt, könnte ich sie doch alle zu einem Liebestrunk mischen."
Permanent wird in Maiers Küche getüftelt und experimentiert, mit Stillstand gibt sich die Meisterin der Aromen nicht zufrieden: "Es ist ein ständiger Lernprozess. Nachdem ein Dessert zwei, drei Monate auf der Karte steht, überlege ich mir, wie ich es besser machen könnte." Als Künstlerin hat sich die Spitzenköchin früher nie gesehen. Heute ist das anders: "Ich richte unwahrscheinlich gerne in Farben an. Diesen Winter mach‘ ich sicher noch was mit Lila und Grün." Trotzdem ist bei ihr Minimalismus angesagt. "Ich habe beim Anrichten eine klare, moderne Linie. Das Verschnörkelte mag ich überhaupt nicht. Und altmodisch mag ich auch nicht. Alt werde ich von alleine."
Für einen Luxusbetrieb wie das Wiener Hotel Sacher ist ein Chefpatissier Pflicht. Immerhin sind zwei Restaurants – das "Anna Sacher" und die "Rote Bar" –, das Café Sacher und das Sacher Eck inklusive der angeschlossenen Confiserie mit Torten, Kuchen, Pralinen, Konfekt und Desserts zu versorgen. Während täglich 3.000 Stück der weltberühmten Sachertorte von Chefkonditor Alfred Buxbaum in Simmering nach Originalrezeptur hergestellt werden, liegt die Produktion der Süßigkeiten – von den traditionellen Wiener Mehlspeisen im Kaffeehaus bis zu exklusiven Desserts in den beiden Restaurants – in der Hand von Chefpatissier Andreas Wuchta. Neben dem Patissierbereich in der Hauptküche, steht dem 32-Jährigen auch eine eigene Produktionsstätte zur Verfügung. Hier stapeln sich Petits-Fours-, neben Back- und Dariolförmchen, Bleche neben Tortenringen und Silikonmatten neben Spritzbeuteln und Konditorpaletten. Seit zwei Monaten ist der gebürtige Tiroler für die süßen Kreationen des Hauses verantwortlich. "Es ist grauslich schwer, einen guten Patissier zu finden, weil ein guter Patissier auch eine Ahnung vom Kochen haben muss. Mit Herrn Wuchta haben wir die goldene Mischung", so Küchenchef Hans-Peter Fink. "Du musst dem Druck standhalten können. Das ist beim Koch völlig normal, aber wenn ein Konditor plötzlich drei Kaiserschmarren und fünf verschiedene Desserts machen muss, steht er an. Für den A-la-carte-Patissier gibt’s keine Ausbildung, das muss man selbst erlernen."
Sonderwünsche sind in dem 5-Stern-Hotel die Regel. "Wenn der Oberkellner um 15 Uhr zu mir kommt und mir sagt, dass Gäste für heute Abend eine Crème-Caramel-Torte wollen, dann sagt man natürlich nicht nein, auch wenn’s von der Zeit knapp wird oder es eigentlich nicht mehr machbar ist." Selbst die ordinäre Palatschinke hat im Sacher ihren Platz: "Die isst der Schüssel so gern. Bei uns kriegt er die tatsächlich frisch gebacken, mit Butterschmalz, und mit einer hausgemachten Marillenmarmelade."
Neben den internationalen, trendigen und bewusst unverschnörkelten Dessertkollektionen von Andreas Wuchta wird aber auch weiterhin die traditionelle Schiene gefahren: "Altösterreichische G’schichten wie Somloer Nockerl gehören hierher und gehören auch gepflegt. Wir sagen da nicht ‚das ist keine Kreation, das ist nicht die Zeit‘. Das passt immer, weil die Klassiker kannst du einfach nicht neu erfinden." Unangefochten ist die "Dessertcreation Eduard Sacher", eine sündige Komposition aus Sachertorte, Schokoparfait, Pistazieneis, Maronimousse-Törtchen und Topfenknöderl. "Ein Standard bei uns, der ständig abgeändert wird und den der Großteil der Gäste bestellt." Von Molekularküche halten die beiden Köche nicht viel: "Alle Techniken, die zum Wohle des Lebensmittels sind und nicht zu einer Ver-E-isierung führen, sind willkommen. Aber wir verwehren uns dagegen, alles in Gelatine zu verpacken und zu schäumen", sagt Fink. Auch der Patissier kann mit dem derzeitigen Hype nicht viel anfangen: "Bei Heston Blumenthal dauert es zwei Tage, bis Röstkartoffeln fertig sind. Da frag‘ ich mich schon: Ist das eine Küche, ein Restaurant oder was ist das?"
Wuchta setzt eher auf einfache und ausgefeilte Rezepturen: Ein Schoko-Walnuss-Auflauf kommt bei ihm mit Safran-Vanille-Eis auf den Teller. Showeffekte liegen ihm nicht. Bei ihm wird’s eben ein schlichter Schokopinselstrich. Bescheiden klingt der Titel "Kokos & Ananas". Dahinter verbirgt sich ein Türmchen aus hauchdünnem Schokozylinder, Kokoseis und Gewürzananas. "Ich mag keine zehn Sachen am Teller. Lieber sind mir zwei, drei Komponenten; wichtig ist, dass alles zusammenpasst und harmoniert." Davon ist auch Hans-Peter Fink überzeugt: " Das Dessert ist zwar der Star, aber wichtig ist auch der Wohlfühlfaktor. Extreme Komponenten zum Abschluss mag ich nicht. Ich denk‘ mir, weniger ist mehr und der gerade Weg ist der g’scheitere."