Zurück in die Zukunft mit Mehlspeisen im Gebäck

Jüngstes Gericht, Finale, Feuerwerk. Weiblich oder männlich? Die heimische „Nachspeise“ scheint sich in einer Krise zu befinden. Ihre emotionale Identität wird nicht oder falsch verstanden. Statt wohlig warm wird es immer häufiger eisig kalt in der Komfortzone des Menüs.

Text von Anna Burghardt Foto: www.bridgemanart.com

"Das ist kein Dessert.“ Das Objekt der Kritik?

Eine Kreation aus weißer Schokolade mit Gänseleber, bei einem internationalen Patisseriewettbewerb eingereicht. Die harten Worte kamen von Jordi Butrón, Chefpatissier des Dessertrestaurants „Espai sucre“ in Barcelona und Vorbild für zahlreiche junge Patissiers. Etwa für den amtierenden deutschen Patissier des Jahres, Christian Hümbs. Dieser experimentiert im Hamburger Restaurant „Haerlin“ auch mit Speck, für ein Predessert mit Kokos und Limette, und hat die Kombination des Kollegen aus weißer Schokolade und Gänseleber aromatisch absolut nachvollziehen können. „Fleischige Zutaten haben aber höchstens im Predessert einen Platz“, sagt er, „wo man die maskulinen Zutaten aus dem Hauptgang noch ein letztes Mal aufgreifen kann.“ Und: „Ich bin schon ein Freund von neuen Denkweisen“ – Hümbs selbst wird schließlich für seine teilweise fast entrückten gemüse­lastigen und herben Desserts gelobt, mit Zutaten wie Salat und Sauerteig – „aber ich kann diejenigen schon verstehen, die sagen, wenn wir jetzt in der Patisserie auch mit Fleisch anfangen, ist das Menü nicht mehr rund.“

Ein harmloses kleines Bisschen Gänseleber als Dessertbestandteil ist der Aufreger bei einem Wettbewerb, der doch die Avantgarde in der Patisserie versammelt? Was zeigt das? Es bedeutet: Das Dessert ist das letzte Tabu. Da können sämtliche anderen Schranken schon durchbrochen sein – Fleisch, Fisch und Blut haben in einem Dessert noch immer nichts verloren. Blutmacarons? Ja gern, aber nur als Amuse-Gueule, eine Idee des Spaniers Andoni Luis Aduriz vom „Mugaritz“. Sanguinaccio, ein altes italienisches Dessert aus Schokolade und Schweineblut? Die heutigen Ausführungen lassen das Schweineblut weg. Die Gänseleberaufregung zeigt aber noch etwas: Desserts sind eine hochemotionale Angelegenheit. Auch weil die Süße in der körperlichen Entwicklung etwas Hochemotionales ist. Stichwort Belohnung, Trost, Befriedigung. Und gerade diesbezüglich läuft zurzeit einiges falsch: zu viel Technik und Kälte, zu wenig Wärme und Flauschigkeit.

Das Dessert an sich ist der wahrscheinlich interessanteste Gang der klassischen Menüaufteilung, es ist übervoll mit Bedeutungsebenen. Kindheitserinnerungen sind so wichtig wie bei keinem anderen Gang, was sich etwa in den jüngsten Spielereien mit Knisterpulver, Zuckerwatte oder Marshmallows äußert. Das Dessert ist der Gang, an den schon wegen der exponierten Position am Ende eines Menüs andere Erwartungen als an den Rest gestellt werden. Mit dem Servieren des Desserts trat ein ­Menü immer schon in eine neue Phase. Salz- und Pfefferstreuer werden abserviert, so vorhanden, Brotbrösel vom Tischtuch gekehrt. Im Mittelalter wechselte man auch das Tischtuch. So erklärt sich das Wort Nachtisch. Das Wort Dessert wiederum kommt, wenig verheißungsvoll, von desservir – die Speisen abtragen.

Bei Desserts wird weiters unbewusst oder bewusst mit Geschlechterbegriffen hantiert, und das nicht zu knapp. Süße wird als weiblich empfunden, weniger Süße als männlich – siehe den Begriff Herrenschokolade beziehungsweise die noch immer hauptsächlich lieblichen Weinempfehlungen unbedarfter Sommeliers für Frauen. Derzeit sind männliche oder ­metrosexuelle Desserts, weil kühl-stählern und wenig süß, das Thema, ob mit Gemüse oder ohne. Und Desserts mit zurückhaltendem Einsatz von Zucker werden noch länger auf dem Vormarsch sein. Gemüsedesserts hingegen sind fast schon wieder out. Bei diesen, meinen der Südtiroler Norbert Niederkofler und sein österreichischer Patissier Phillip Sigwart vom „Hubertus“, sei einer der Kardinalfehler, zu glauben, dass sich alle Gemüsesorten eignen würden. „Es soll aber kein Salat werden, den man halt als Nachspeise serviert, nur ein bisschen süßer. Da wurde viel falsch gedacht. Wir nehmen nur Gemüsesorten, die sich aufgrund ihrer natürlichen Süße anbieten. Rote Rübe, Karotte.“ Phillip Sigwart ­arbeitet wie andere daran, den Zucker durch alternative Süße zu ersetzen. Und meint damit ausdrücklich nicht Stevia. „Weizengras zum Beispiel kann ­Zucker teilweise ersetzen. Da schaust, welche ­Süße sich am Gaumen entwickelt!“ Die Gleichung weiblich = süß gilt es übrigens womöglich neu zu definieren: Vordenker Heinz Reitbauer vom „Steirereck“ etwa spricht davon, die Weiblichkeit in Form von Blüten und besonders feinen Strukturen in den ziemlich männlich gewordenen Nachspeisenbereich zurückzubringen.

Das Dessert wurde schon als das „jüngste Gericht“ bezeichnet – weil es ­jenes ist, das in der Erinnerung am frischesten ist – oder als Henkersmahlzeit: weil danach wieder der Ernst des Lebens beginnt. Es wird oft großspurig als „Finale“, als „Feuerwerk“ angekündigt und bleibt oft umso weiter hinter den Erwartungen zurück.

Daran ist nur bedingt der oft beklagte Zustand schuld, dass es nur sehr ­wenige ausgebildete Patissiers und Patissières gibt. Dessertkarten sind vielfach bereits mangelhaft konzipiert: Wenn von drei Nachspeisen zur Auswahl drei den Haupt­bestandteil Eis oder Sorbet haben – und das kommt nicht selten vor –, hat die Küche das Wort Auswahl nicht verstanden. Irgendwann herrschte einmal das ungeschriebene Gesetz, dass eine Dessertkarte immer etwas mit Schokolade enthalten müsse, eine Mehlspeise, etwas Leichtes, zum Beispiel aus Frucht und Joghurt, und einen Eisgang. Davon ist heute wenig zu bemerken. Ein ­Pacojet steht mittlerweile in jeder Küche, mit ihm kann man in Windeseile ­alles zu Sorbet machen. Man kann damit originell sein – Bier oder Senf als Eis servieren – und man kann es sich einfach machen. „Hausgemachtes Kalamansi­sorbet“ steht dann auf der Karte. Klingt fantastisch und nach hoher Kunst! Tatsächlich ist die Kalamansi eine kleine Zitrusfrucht mit unangenehm vielen Kernen, die im Handel nur in Püreeform von der Firma Les vergers Boiron zu haben ist. Das fertige Püree wird also in den hauseigenen Pacojet geworfen. Und fertig ist das „hausgemachte“ Kalamansisorbet, mit dem auf der Speisekarte der hohe Selbermachgrad betont werden soll. Tatsächlich ist es reine Convenience. Das hat mit Kochen nichts mehr zu tun. Nichts gegen ein erfrischendes Kalamansisorbet an sich, aber darf man hier leise von Irreführung sprechen?

Auch dieser leichtfertige Einsatz von Küchentechnik zeigt: Das Dessert ist in der gehobenen Gastronomie vor allem deshalb in einer Krise, weil seine emotionale Identität nicht oder falsch verstanden wird. Es sollte die Komfortzone eines Menüs sein, das Sofa, der Feierabend. Wir wollen uns fallenlassen, verwöhnt werden (so abgedroschen das klingt). Und bekommen zu oft einen ­Arbeitsauftrag. Da müssen wir uns durch rohe Fenchelhobel kiefeln, weil Gemüse­nachspeisen in sind. Müssen die Witzigkeit von Gerichtnamen wie „love is in the air“ würdigen. Sollen schon wieder zig originelle Bestandteile wie Macarons oder „Schnee“ aus Ölen, die dank Maltodextrin zu leichtem Pulver werden, auf dem Teller zusammensuchen und bei jedem einzelnen winzigen Geleetupfen genau hinschmecken, sollen die Narrativität von Desserts bewundern, die „Felder“ aus süßer „Pumpernickelerde“ bauen und diverse Elemente darin einpflanzen. Heutige Desserts sind oft kühne Meisterwerke an Präzision, vielteilige Tellerlandschaften, ein Aufmarsch aller verfügbaren Küchentechnologien und aus diesen resultierender Trendelemente. Der Arbeitsaufwand ist riesig, der Hilfsmittelbedarf hoch, der Wow-Effekt am Gaumen bleibt aber bei aller Bewunderung für die Kreativität und technische Könnerschaft der Küche aus. Diese Techno-Desserts, in denen man ganz und gar nicht schwelgen kann, sind austauschbar, national wie international.
Und das ist für den Mehlspeisenhort Österreich das wirklich Tragische.

Immer wieder wird beklagt, dass Österreich international zwar mit ­einigen Lokalen Aufmerksamkeit erlangt, aber mit keiner wie auch immer gearteten Prägung auffällt, wie sie etwa die Spanier oder die Skandinavier mit Molekularküche oder roher Naturküche vorweisen ­können. Dabei hat Österreich eine Mehlspeisenkultur, die international ­unvergleichlich ist. Emotional berührend, weil mit warmen, flauschigen Elementen. Regional oft genau zuordenbar – Stichwort Kärntner Reindling, obersteirischer Fedlkoch, Salzburger Nockerln. Enorme Variationsmöglichkeiten bei kleiner, völlig unkomplizierter Zutatenliste – was man allein mit Grieß, Topfen, Bröseln und Mohn alles machen kann! Aber diese Mehlspeisenkultur geht in der Spitzengastronomie derzeit völlig unter. Natürlich mit Ausnahmen, etwa Thomas Dorfer vom „Landhaus Bacher“ mit Scheiterhaufen, Andreas Döllerer mit Gebackenen Mäusen, Rainer Melichar vom „Nibelungenhof“ mit einem überirdisch köstlichen böhmischen Powidlfladen, Heinz Reitbauer mit diversen Ideen aus Milchreis.

Anderswo wird Regionalität vielfach nur in Form von Zutaten gelebt, nicht in Form von Gerichten. Regionalität wird also nicht wirklich ­gekocht. Aus regionalen Zutaten werden international austauschbare ­Elemente gefertigt, die aromatische Anpassung ist leicht: Ausgestochene Geleekreise werden eben aus Dirndln gemacht, „Schnee“ aus Kürbiskernöl, Sorbet aus Uhudler, der allgegenwärtige Crumble mit Mohn. Das ist nett, aber eine auch international abgedroschene Taktik. Die Dessertteller sind optisch austauschbar.

Was spricht dagegen, die Mehlspeisentradition wieder in den kulinarischen Denkfokus zu rücken, um eine eindeutig österreichische Dessertküche der Zukunft zu entwickeln, mit Potenzial zur internationalen Adap­tierung, und diese entsprechend zu vermarkten? Variation vom Topfenknödel oder geeister Kaiserschmarren können nicht alles gewesen sein. Diesmal reicht es nicht aus, sich auf ein paar Klassiker zu verlassen. Es gilt, tatsächlich vergessene alte Rezepte ins österreichische Kochbewusstsein zu holen und auf ihnen zeitgemäße Gerichte aufzubauen. Ein Dessert, das auf ­einer alten österreichischen Mehlspeise basiert, auf ­jeder Speisekarte, und es wäre eine Linie da.

Die Sinnhaftigkeit dieses Konzepts lässt sich schon mit einem einzigen alten Kochbuch ­belegen: Allein im Kochbuch der Katharina Prato, in der Neuauflage von Christoph Wagner, ist eine unglaubliche Vielzahl an Nachspeisen und süßen Hauptspeisen zu finden, an denen entlang man eine neue österreichische Dessertküche denken kann und die per se schon irgendwie modern sind. Kindskoch mit gebranntem Zucker – Crème brûlée können wir schon lange. Ausgedünstete Regenwürmer sind Nudeln aus Rahmteig, mit Schmalz und Zucker ausgedünstet, „bis sie Rammeln bekommen“. In Model (Küchenspielzeug!) eingelegte Palatschinken werden mit Füllungen wie Nudeln mit Pomeranzen oder Milchreis ergänzt. Ein Trompe-l’œil-Gericht sind die schmalzgebackenen Reisbirnen mit einer Gewürznelke als Stiel. Chocolate-Würstchen aus einer Reismehl-Obers-Schokoladen-Creme geformt und paniert – wie gut würde sich dieser Name auf heutigen Speisekarten ­machen! Schwammerl mit Chaudeau: in schwammerl­förmigen Modeln gebackener dünner Schmarrenteig, gefüllt mit Weinchaudeau. Das Kapitel „Aufläufe, ­Köche, Puddings“ enthält sogar ein Gemüsedessert: Erbsen-Koch, mit ordentlich Zucker und Gewürzen. Außerdem zu finden: Pignoli-Pudding, Brot-Koch, schwarzer Pudding, Mohn- oder Haselnusskoch „mit Pomeranzen-Geruch“. Das Prato-Kochbuch und andere listen zeitgemäße, weil schräg wirkende Rezepte wie süßen Grammelstrudel, den etwa Max Leodolter beim „Lurgbauer“ schon wiederbelebt hat, Sauerkraut-Torte oder Krebsbuchteln mit Zimt und Zucker. Letztere waren im Barock zwar nicht als Dessert ­gedacht, sondern wurden in einer früheren „Tracht“ des Menüs serviert. Würden Krebsbuchteln aber ­heute als Dessert auf einer österreichischen Speisekarte ­stehen – womöglich mit kurzem Kommentar und Quellennachweis –, hätten die heimischen Mehlspeisen ein neues Kapitel aufgeschlagen. Apropos Fleisch und Fisch im Dessert als letztes Tabu.