Brot, Salz und unsere Herzen

Text von Andrea Jeska · Fotos von Klaus Petrus

Zwischen dem glitzernden Wasser der Adria und den dramatischen Gipfeln der Albanischen Alpen findet eine kulinarische Revolution statt. Die Slow Food-Bewegung Albaniens besinnt sich auf die autochthone Küche des Landes und stärkt das verarmte Bauerntum.

Als der albanische Fernsehkoch Armand Kikino die Küche seines Landes auf der Expo 2015 in Mailand vertrat, erwarteten die albanischen Politiker eine Art Haute Cuisine, mit der gezeigt wird, dass Albanien nun mehr ist als ein Bauernstaat auf dem Balkan. Groß, so wird es anekdotenhaft wiedergegeben, soll das Entsetzen ge­wesen sein, als Kikino auf den Tisch brachte, was seit Jahrhunderten in den Küchen der albanischen Dörfer gekocht und gereicht wird: Polenta und Lamm, Auberginenauflauf mit Joghurt, Waldpilze, Wildkräuter, Käse und Brot. Verfeinert, raffiniert, das ja, aber mit starken traditionellen Reminiszenzen. Dass der Fernsehkoch dann auch noch einen Begriff dafür prägte, der alles andere als fein klang, soll dem angereisten albanischen Landwirtschaftsminister damals den Rest gegeben haben. Cucina Povera, Küche der Armen, nannte Kikono seine kulinarischen Bestrebungen.

In den drei Jahren seit der Expo ist die Cucina Povera die Grundlage für eine Slow Food-Bewegung geworden, die noch nicht das Land, aber dessen Köche ergriffen hat. Von den Gipfeln der Albanischen Alpen bis zu den glitzernden Wassern der Adria entstehen Restaurants, in denen nach uralten albanischen Rezepten gekocht und Gastfreundschaft wiederbelebt wird – mit kleinen Gasträumen, wenigen Gästen und spartanischer, meist handgezimmerter Einrichtung. Dafür persönlicher Service und Speisen, in denen Jahrhunderte an Geschichte stecken.

2016 formierte sich nach italienischem Vorbild eine albanische Allianz der Chefköche von Slow Food (Aleanca e Shefave me Slow Food), die heute 41 Mitglieder hat. Jedes von ihnen verpflichtet sich, die Prinzipien dieser Bewegung zu verwirklichen: nach originalen Rezepten zu kochen, ausschließlich lokale Produkte zu verwenden, das Kleinbauerntum zu stärken und die Wurzeln der albanischen Küche wieder sichtbar zu machen.

Einer, dem dieses Sichtbarmachen so gut gelang, dass er damit zu Ruhm kam, ist Bledar Kola. Im Herbst 2017 wurde sein Restaurant „Mullixhiu“ in Albaniens Hauptstadt Tirana von einem amerikanischen Magazin als eines der zehn besten weltweit ausgezeichnet. Die Aufnahme in die Liste der weltbesten Restaurants kam für Kola über­raschend. Das „Mullixhiu“ gibt es erst seit Februar 2016, noch schreibt es keine schwarzen Zahlen und sein Besitzer verbringt viel Zeit damit, in alten Büchern nach traditionellen Rezepten zu suchen. „Ich weiß gar nicht, ob ich für Erfolg eigentlich schon Zeit habe“, sagt Kola lachend.

Entspannt sitzt der 33-Jährige an einem Tisch seines Restaurants, trinkt Saft aus frischen Granatapfelkernen und erzählt von der Renaissance alter Gerichte und einer erstarkenden Rückbesinnung auf Traditionen. Seine Produkte kauft Kola ausschließlich bei lokalen Bauern, die Speisekarte richtet sich nach den Jahreszeiten und der Verfügbarkeit von Zutaten. „Fleisch, Käse, Fisch, Brot, das sind unsere Hauptzutaten. Mit diesen experimentieren wir: Chutney aus Maulbeeren, Gnocchi mit Wildkräutern, Ziegen­fleisch auf einer Gemüsejus.“

Kola war 15 Jahre alt, als er sich Geld von einem Onkel lieh und ein Ticket nach London kaufte. Dort begann er als Tellerwäscher in Restaurants, schloss seine Schulausbildung ab, ging auf eine Kochschule und kehrte 2009 nach Albanien zurück. Was er in den Restaurants der Hauptstadt lernte und sah, befriedigte ihn nicht. Die Sommer 2011 und 2012 verbrachte er als Praktikant im weltberühmten Res­taurant „Noma“ in Kopenhagen – und erkannte sein Ziel. „Das ,Noma‘ hat mein Leben verändert. An unseren freien Tagen fuhren wir alle in den Wald und sammelten dort Beeren, Blätter, Moos und verwendeten all das in der Küche. Da begriff ich, dass gutes Essen einfach sein muss.“

Das „Mullixhiu“ ist untergebracht im Keller eines mehrstöckigen Hauses aus den 1970ern, doch innen sieht es aus wie eine albanische Bauernstube. Die Wände sind vertäfelt, die Tische und Stühle aus recyceltem Holz, die Decken aus grobem Leinen, und das Geschirr ist aus Keramik. Hinter einer Scheibe lagern Maiskolben als Dekoration, und im Vorraum stehen vier Getreidemühlen mit unterschiedlichen Härtegraden, in denen Kola Weizen, Mais, Gerste und Hafer zu dem Mehl mahlt, aus dem im „Mullixhiu“ die Brote gebacken werden. „Mehl aus Gerste und Hafer, das ist bei uns fast vergessen. Wir arbeiten daran, diese beiden Getreide wieder zu einem Teil der albanischen Küche zu machen.“

Dass die Slow Food-Bewegung in Albanien das Ziel hat, das Kleinbauerntum nicht nur als Quelle aller Speisen zu sehen, sondern nach Kräften zu unterstützen, macht sie zu mehr als einer kulinarischen Mode, erhebt sie in den politischen Bereich. Wegweisend waren und sind die Brüder Aitin und Anton Prenga. Sie verließen Albanien, wie vor ihnen und nach ihnen Zehntausende anderer Landsleute in den 1990er-Jahren, als es nach dem Ende der kommunistischen Diktatur viel Arbeitslosigkeit und wenig Hoffnung gab. Vor allem der Bauernstand verarmte, und das, was die traditionelle albanische Küche ausmachte, kam aus Not nicht mehr auf den Tisch. Mühsam ernährten sich die Bauern in Subsistenzwirtschaft oder flohen in Scharen aus den Dörfern.

Die Brüder jobbten sich mehr als ein Jahrzehnt in anderen Ländern durch, bis sie, von Heimweh getrieben und von einem neuen Hoffnungsschwung in Albanien angelockt, zurückkehrten. Im gottverlassenen, verarmten Dorf Fishtë im Norden des Landes eröffneten sie 2011 ihr Restaurant „Mrizi i Zanave“ und nahmen Dutzende von Kleinbauern als Lieferanten unter Vertrag. Auf die Speisekarte setzten sie autochthone Gerichte wie die Käsepastete Fli oder Tavë kosi, einen Auflauf aus Lammfleisch, Joghurt, Mehl, Reis und Butter. Nach und nach überredeten sie die Bauern der Umgebung, Touristen aufzunehmen, und lehrten sie wieder, die alten Gerichte zu kochen. Heute ist Fishtë ein albanisches Musterbeispiel für Agrotourismus.

„Brot, Salz und unsere Herzen.“ Ded Nika schenkt Raki in die Gläser seiner Gäste und erhebt seines auf die drei Ingredienzien der albanischen Gastfreundschaft. So sei es immer gewesen und so solle es immer sein, sagt er, auch wenn es den Bauern in Albanien heute nicht mehr möglich sei, Gäste umsonst zu beherbergen, so seien sie alle noch immer so willkommen, als gehörten sie zur Familie.

Weit im Norden Albaniens, in einem lang gestreckten Tal, das von hohen Gipfeln umgeben ist, die auch im Sommer noch Schnee tragen, liegt das Dorf Theth. Und am Ende dieses Dorfes, dort, wo der Weg schon wieder hoch in die Berge führt, wo man bei Nacht die Milchstraße sieht und in der Stille hört, wie die Flusskiesel aneinander reiben, steht das Bauernhaus von Ded Nika, seiner Frau, seiner Mutter und seinen vier Kindern. Weiß gekalkte Wände, ein Schindeldach, drum herum ein üppiger Garten, in dem Paprika, Tomaten, Kürbisse, Kartoffeln, Gurken und Kräuter wachsen.

Ded Nika und seine Familie haben nie von der Slow Food-Bewegung gehört. Was sie für ihre Gäste kochen, ist nichts anderes als das, was schon die Mütter, die Großmütter und vor ihnen Hunderte von Generationen kochten. Doch gäbe es nicht die Renaissance der Traditionen, die Rückbesinnung auf alles Alte, wäre Ded Nika noch ein ­armer Bauer in einem fast verlassenen Dorf. Denn dieses idyllische Theth mit seinen Wiesen und Bächen, seinen Gipfeln und Wasserfällen war bis vor zehn Jahren ein vergessener Ort. Gerade einmal zehn Familien lebten noch dort, und diese auch nur von Mai bis Oktober, denn in den restlichen Monaten ist die einzige Straße in das Tal zugeschneit und niemand hatte genügend Gemüse in seinem Garten, genügend Tier auf der Weide, um für den Winter Vorräte zu schaffen. Und also gingen die Thether in die Stadt und nahmen Arbeit an.

Bis man einen Wanderweg eröffnete, den „Peaks of the Balkans“, und Wanderer nach Theth kamen. Diese wollten keinen Komfort, sondern nur die Schönheit der Landschaft und gutes Essen, albanische Gastfreundschaft und die Stille der Natur. Nika baute Badezimmer in sein Haus, kaufte Betten und Matratzen, brannte Raki, seine Frau besann sich auf die alten Rezepte und vergrößerte den Gemüsegarten. Fast alles, was bei den Nikas auf den Tisch kommt, stammt aus dem eigenen Garten, aus eigener Schlachtung oder wurde von Ded Nika geangelt.

Mit den Gästen verging die Armut. Jene, die einst gingen, sind nach Theth zurückgekehrt und verdienen ihr Geld mit Agrotourismus. „Meine Mutter hat zwar gesagt, es sei eine Schande, Geld von Gästen zu nehmen, aber froh, dass wir nicht mehr arm sind, ist sie doch“, sagt Nika und schenkt noch einmal Raki ein.

Restaurant Mullixhiu
Shëtitorja Lasgush Poradeci, Hyrja e Parkut tek Diga e Liqenit Artificial
Tirana 1019, Albanien
Tel.: +355 69 666 0444
www.mullixhiu.al