Das fünfte Viertel

Text von Georges Desrues

Am Thema Abfallvermeidung kommt auch die Spitzengastronomie nicht vorbei. In seinem Buch Tempi di recupero sammelt ein ehemaliger Direktor der Slow Food-Uni Rezepte von Starköchen, die Abschnitte und Reste verwerten, und organisiert zu dem Thema ein weltweites Event, an dem höchst ange­sehene ­Restaurants teilnehmen.

Für Signora Munari käme es nicht infrage, auf die Stängel des Brokkoli zu verzichten. „Da verliere ich doch mindestens die Hälfte des Gemüses, für das ich den vollen Preis bezahlt habe“, sagt die pensionierte Köchin aus dem Veneto mit einem Kopfschütteln. Gleiches gelte auch für die Schoten frischer Erbsen, aus denen sie im Frühjahr einen Fonds für ihr Risotto mache. Und natürlich für die Stängel der Artischocken, die vielen Italienern aus Munaris Generation gemeinsam mit den Herzen oder Böden als des Distelgemüses allerbestes, zartestes und feinstes Teil gelten.

Doch das alles sind Denkweisen, die den jüngeren Menschen in Italien (und Europa) inzwischen abhanden gekommen sind. Und die auch in den Restaurants des Landes kaum mehr Anwendung finden. Was für Carlo Catani einer der Beweggründe war, im Vorjahr ein Buch herauszubringen. Unter dem zweideutigen Titel Tempi di recupero, der so viel bedeutet wie „Zeiten der Rückgewinnung“, aber auch „Nachspiel“, ver­öffentlicht der Autor Texte und Rezepte von mehr oder weniger bekannten italienischen Köchen, in denen vermeintliche Küchenabfälle die Hauptrolle spielen.

„Wir wollen die Leser dazu inspirieren, Abfälle in der Küche weitest möglich zu vermeiden“, sagt Catani, der auch fünf Jahre lang Direktor der Slow Food-Universität der Gastronomischen Wissenschaften im piemontesischen ­Pollenzo war. „Zumal wir heutzutage den großen Vorteil der Technologie haben“, fährt der Buchautor fort. „Während unseren Großmüttern ausschließlich eine Gemüsepresse oder ein Sieb zur Verfügung stand, um die äußeren Blätter eines Blumenkohls oder die härtesten Stücke einer Fenchelknolle zu verarbeiten, können wir solche Teile dank moderner Küchenroboter in wenigen Minuten in Cremen und Pasten verwandeln.“

Noch in den 1980ern habe das Verschwenden, also das Überladen und Weglassen, noch als Wesensmerkmal eines Fine-Dining-Restaurants gegolten. Doch das habe sich inzwischen radikal geändert. „Zuerst begannen viele Spitzenrestaurants damit, vom Tier auch das zu verwenden, was wir Italiener das ,fünfte Viertel‘ nennen, also die Innereien, aber auch die Füße, Schwänze und Ohren“, berichtet Catani. „Und jetzt erweitert sich dieser Trend auch auf die verschiedenen Gemüse, von ­denen die längste Zeit viel zu viel weggeschmissen wurde.“ Was umso bedauerlicher sei, als bedeutende Nährstoffe und Vitamine sich häufig gebündelt in Abschnitten wie etwa den Schalen befänden.

Und so finden sich unter den im Buch gesammelten Rezepten sowohl Gemüsegerichte, wie etwa jenes von ­Riccardo Agostini vom Sternerestaurant Il Piastrino bei Rimini, der ein Carpaccio von der Rübe mit Topinamburschalen anbietet, als auch Fleischspeisen, wie beispielsweise ein Ragout von Hühnerklein mit Lamminnereien und Kalbsdärmen von Lina Montini von der von Slow Food ausgezeichneten Osteria Azdora.

Erstmals wird heuer auch von 16. bis 24. November eine sogenannte Tempi di Recupero Week veranstaltet. Dabei bieten Restaurants auf der ganzen Welt ein Menü aus Gerichten an, die aus Resten und vermeintlichen Abfällen zusammengestellt sind. „Die Veranstaltung wird drei Hauptthemen beinhalten“, sagt Catani, „nämlich Resteverwertung, die Verwendung von Abschnitten von Fisch und Fleisch und die Wiederbelebung althergebrachter Wiederverwertungsrezepte.“

Dazu werden die teilnehmenden Lokale aufgefordert, das von ihnen entwickelte Menü einzusenden, damit das Team von Tempi di Ricupero eine für alle grafisch einheitliche Speisekarte gestalten kann. Auf der Homepage des Veranstalters werden die Restaurants und Menüs vorgestellt. Im Anschluss werden Preise für die überzeugendsten Gerichte verliehen und deren Rezepte auf der Homepage ­ver­öffentlich. Die Teilnahmegebühren ­betragen pro Lokal 100 Euro, von denen 60 an zwei Organisationen fließen. Nämlich zum einen an Food for Soul des italienischen Spitzenkochs Massimo Bottura, der bereits in mehreren Städten der Welt Restaurants betreibt, in denen nicht mehr verkaufbare Lebensmittel aus Groß- und Supermärkten in Menüs für Bedürftige verwandelt werden. Und zum anderen an die von Slow Food ins Leben gerufene Sensibilisierungskampagne Food for Change über den Zusammenhang zwischen Ernährung, Lebensmittelverschwendung und Klimawandel.

Zugesagt haben ihre Teilnahme an der Tempi di Recupero Week bereits zahlreiche Restaurants in Europa sowie in Nord- und Südamerika. Darunter auch einige schillernde Namen wie etwa die beiden Zweisterner Kadeau in Kopenhagen und Belcanto in Lissabon. Gleichfalls mit von der Partie ist auch das im vergangenen Juni in Helsinki neu eröffnete Nolla. Dabei handelt es sich um ein Zero-Waste-Lokal, ein solches also, das keinen oder fast keinen Abfall erzeugt. Herzstück des im schicken skandinavischen Design gehaltenen Nolla ist eine Kompostier­maschine, die mitten im Gastraum steht und in der die Essensreste landen, bevor sie an die Lieferanten zurück­gehen, die sie infolge als Düngemittel einsetzen.

Tatsächlich kommt in den Komposter nur, was allabendlich auf den Tellern übrig bleibt oder was einfach nicht essbar ist, wie zum Beispiel Eierschalen“, sagt Koch und Mitbesitzer Albert Franch Sunyer. „Alles andere wird im Vorfeld und in der Küche verarbeitet, sodass es gar nicht erst als Futter für die Kompostier­maschine anfällt.“

Sogar den Begriff „Abfall“ will man im Nolla tunlichst vermeiden. „Wir sprechen lieber von Nebenprodukten“, erklärt Sunyer, „weil sie ja zum Großteil auch essbar sind und in vielen Kulturen gegessen werden. Uns geht es darum, sie aufzuwerten, unseren Gästen zu offenbaren und zugänglich zu machen. Immerhin ist es ja auch ein Zeichen der Wertschätzung gegenüber der Arbeit des Landwirts, der so viel Zeit in Anbau, Pflege und Ernte gesteckt hat. Aber auch des Respekts gegenüber der Natur.“ Denn die Natur, so schließt der Koch, produziere nun einmal schlicht und ergreifend keinen Abfall.

www.tempidirecupero.it
www.tempidirecupero.it/tempi-di-recupero-week
www.foodforsoul.it
www.slowfood.com/get-involved/food-for-change-campaign