Der Kaviar des Balkans

Ai­var ist langsam eingekochter und für den Winter haltbar gemachter Paprika. Es ist stark in der kulinarischen Tradition Südosteuropas verankert. Leskovac und die kleinen Orte rund um die Stadt gelten als Zentrum der Ai­var-Produktion. Jürgen Schmücking war für slow im Süden Serbiens unterwegs und hat den rührenden Frauen von Lebane in die Töpfe geschaut.

Früh am Morgen steht Danijela Bankovic an der Straße nach Lebane und wartet auf ihre Kolleginnen. Jeden Morgen finden sich in der kleinen Manufaktur Radanska Ruža etwa 30 Frauen ein. Sie kommen mit kleinen Bussen oder haben Fahrgemeinschaften gebildet, und sie haben eines gemeinsam: dass es das Leben nicht immer gut mit ihnen gemeint hat. Es sind Frauen mit körperlicher Behinderung, langzeitarbeitslose Frauen und Frauen, die mit ihren Familien auf Kleinst­bauernhöfen leben. Nach Lebane kommen sie, um das zu tun, was die Frauen seit Generationen in dieser Region machen. Sie machen den Paprika, der hier üppig wächst, winterfest und erzeugen damit etwas vom Feinsten, das der Süden Serbiens zu bieten hat. Wir sind im Kerngebiet der serbischen Aivar-Produktion, und bei Radanska Ruža dampfen die Töpfe.

Das Betriebsgebäude der Manufaktur liegt im Osten der Stadt. Die Grenze zum Kosovo liegt westlich davon und ist nur wenige Kilometer entfernt. Unwesentlich weiter, aber Richtung Osten, verläuft die Grenze zu Bulgarien. Lebane ist eines der Dörfer rund um Leskovac. Dass diese Gegend so etwas wie die Heimat des Paprikas und des Aivars ist, haben auch die Leute von Slow Food erkannt und den „Aivar von Leskovac“ als Passagier in die Arche des Geschmacks aufgenommen.

Die Geschichte des Aivars ist so komplex und vielschichtig wie der Balkan selbst. Mit im Spiel sind Kroatien, Bosnien, Albanien, Mazedonien und letztlich sogar die Türkei, weil der Name selbst – vermutlich – auf das türkische Wort „havjar“ zurückgeht: Kaviar. Was einen Hinweis auf die Wertigkeit des Aivar in der byzantinisch-osmanischen alt-österreichischen Fusionsküche gibt. Letztlich ist Aivar, manchmal übrigens auch Aiwar, in all jenen genannten Gebieten bekannt und beliebt. Was das Aivar von Leskovac so einzigartig macht, sind die autochthonen Paprikasorten und die klare Rezeptur. Vor allem der völlige Verzicht auf Tomaten und Auberginen unterscheidet den südserbischen Aivar von vielen anderen. Und da kennen die Frauen von Radanska Ruža keinen Spaß. Alleine die Frage, ob vielleicht Melanzani im Rezept verwendet werde, wird mit ­eisigem Blick und einem knappen „ne“ beantwortet.

Der Rohstoff für das Aivar kommt von etwa 50 Klein- und Kleinstbauern in der unmittelbaren Umgebung. Im Oktober liefern sie an, was sie im Mai gesät haben. Für die Frauen von Radanska Ruža beginnt jetzt die arbeitsreichste Zeit des Jahres. In dieser werden die Holzöfen durchgehend befeuert, das Personal röstet, schält, kocht und rührt im Dreischichtbetrieb und schafft trotzdem nicht die ganze Menge. Ein Teil der Paprikaernte wird zur späteren Verarbeitung eingefroren.

Das Rührwerk im Detail
Um Aivar herzustellen, werden die Paprikaschoten erst einmal geröstet. Der Vorgang ist essenziell, weil dabei ein charakteristisches Aroma entsteht, das dem späteren Aivar seine dezente rauchige Note gibt. Danach wird der Paprika gehäutet und entkernt und kommt in die großen Töpfe. Jetzt beginnt das lange Rühren. Langsam, kräftig und gleichmäßig. Im Kern geht es darum, dass das Wasser der Schoten verdampft, die Zellen zerfallen und der Paprika weich wird. So weich, dass er – durch das ständige Rühren – den Aggregatzustand von fest auf dickflüssig wechselt. Quasi streichfest wird.

Wir (in Österreich) kennen das eher mit Zwetschken: so lange unter ständigem Rühren ein­kochen, bis eine süße, tiefdunkle und zähe Masse übrig bleibt. Powidl. Wobei auch Powidl eher slawische Wurzeln hat. Wenn auch deutlich weiter nördliche.

Zurück zum Aivar. Hin und wieder muss das Rühren unterbrochen werden, weil es Zeit braucht. Um die Hitze aufzunehmen oder um sein feines Aroma zu entwickeln. Den Takt für diese Pausen gibt das Aivar vor. Danijela Bankovic und ihre Kolleginnen kennen den Takt und geben dem Aivar genau, was es braucht. Fällt eine der Frauen einmal für ein paar Minuten aus, übernimmt die Herdnachbarin das Ruder bzw. den Kochlöffel und rührt synchron in zwei Töpfen. Fast synchron. Es könnte nämlich gut sein, dass die beiden Aivars in den verschiedenen Töpfen zum selben Zeitpunkt unterschiedliche Rühr­geschwindigkeiten brauchen.

Seit 2017 ist das Aivar übrigens biozertifiziert. Abgefüllt wird es für den serbischen Markt in 700-g-Gläsern, was ungefähr der Menge entspricht, die eine durchschnittliche vierköpfige serbische Familie an einem Abend löffelt. Für den österreichischen Markt gibt es das Bio-Aivar von Radanska Ruža allerdings auch in kleineren Abfüllungen. Womit wir beim Thema des österreichischen Engagements wären.

Hans-Jörg Hummer war Entwicklungshelfer und kennt den Balkan wie seine Westentasche. Gemeinsam mit ein paar Freunden wurde die Marke Bio ­Balkan ins Leben gerufen, um Produkte vom Balkan nach Österreich zu importieren. Bei der Suche nach interessanten Partnern und Projekten wurde das Team in Lebane fündig: ein Social Business, das seine Wurzeln – genau wie die Leute rund um Bio Balkan – im NGO-Bereich hat und nach ­Lösungen für brennende soziale Fragen sucht. Dann ein hervorragendes Produkt, noch dazu in der gewünschten Bioqualität. Es musste einfach klappen mit Radanska Ruža, Hans-Jörg Hummer und seinen Freunden.

Lebane ist eine von wirtschaftlicher Tristesse gezeichnete Stadt. Die Menschen sind arm, aber der Boden ist reich. Das wissen die Frauen von Lebane, das haben auch Slow Food und Bio Balkan erkannt. Ob das Aivar die ökonomischen Probleme der Region lösen wird? Wohl eher nicht. Aber es trägt dazu bei, dass kulinarische Traditionen und Vielfalt erhalten bleiben.Dafür sorgt Slow Food. Es trägt auch zur kulinarischen Völkerverständigung und zur Erweiterung unseres geschmacklichen Horizonts bei. Dafür sorgen Hans-Jörg Hummer und die Marke Bio Balkan. Und letztlich trägt es dazu bei, dass es Danijela Bankovic und den anderen Frauen besser geht. Und dafür sorgt schließlich Radanska Ruža, die Rose des Radan-Gebirges.