Kulinarische Seidenstraße

Wie ein junger Afghane und ehemaliger Flüchtling mit einem originellen Konzept die Lokalszene Venedigs aufmischt und dabei fünfzig Flüchtlingen einen Job verschafft.

Nach Italien kam Ahmed Ahmadi nicht als Flüchtling, sondern als Teil einer Film-Crew, um im Jahr 2006 und anlässlich der Biennale von Venedig einen Film zu präsentieren. Doch dann bekam er es mit der Angst zu tun. „Der Film hieß Maama, Buddha, The Girl and the Water und war manchem Afghanen wohl allzu korankritisch, weil er die Grundaussage enthielt, dass Gott einem nur dann hilft, wenn man sich selbst bemüht“, erzählt der Afghane. „Zuhause in Afghanistan löste das eine heftige Diskussion aus, und plötzlich erhielten wir Drohungen von Leuten, die den Film gar nicht gesehen hatten.“

Da solche Drohungen in Afghanistan naturgemäß ernstzunehmend sind, entschlossen sich die Filmer, auf eine Rückkehr zu verzichten und in Italien um Asyl anzusuchen. „Damals war das noch einfacher, die Zahl der Asylwerber geringer, und einen triftigen Grund hatten wir ja auch vorzuweisen“, erzählt Ahmadi, der in Folge als anerkannter politischer Flüchtling Aufnahme in einem Flüchtlingszentrum in der Nähe von Venedig fand. Dort durfte er aber nur ein paar Monate bleiben und wusste danach nicht, wie es weitergehen sollte.

„Zum Glück suchten sie gerade einen Sprachtrainer für die vielen Minderjährigen im Zentrum. Ich sprach zwar kein Italienisch, aber immerhin Englisch, und so bekam ich den Job“, sagt der heute 36-Jährige. Als Betreuer, Übersetzer und Ansprechperson der jungen Flüchtlinge war er zudem zuständig für die Veranstaltung von Festen. Und für ein gelungenes Fest braucht es bekanntlich vor allem zwei Dinge, nämlich Musik und Essen.

„Also hatte ich die Idee, die jungen Leute aufzufordern, Essen aus ihrer Heimat für die Feste zu kochen, und bemerkte dabei, dass die meisten Gerichte, die sie zubereiteten, sich im Laufe ihrer Flucht wesentlich verändert hatten, sozusagen kontaminiert waren von den Küchen der Länder, durch die sie gereist waren“, erzählt Ahmadi.

Die meisten der jungen Leute hatten eine extrem lange Reise hinter sich, bis zu acht Länder durchquert, in denen sie in vielen Fällen mehrere Monate festsaßen. Rezepte hatten sie in der Regel keine, lediglich die Erinnerung an die Lieblingsgerichte aus der Heimat, die ihnen abgingen, und die sie nachkochen wollten. Zudem fehlten zahlreiche Originalzutaten, Geld war auch knapp, und so begannen sie einfach zu improvisieren.

„Daraus entstand in gewisser Weise ein eigener Kochstil, eine Küche der Flucht und der Reise. Afghanische Gerichte wurden etwa mit Zutaten aus dem Iran, der Türkei, dem Irak oder aus Griechenland zubereitet. Wenn beispielsweise kein Lammfleisch vorhanden war, nahm man eben billigeres Hühnerfleisch, wenn es keinen frischen Koriander gab, eben Petersilie“, erklärt der Wirt.

Bald wurden die Feste im Flüchtlingszentrum auch bei der einheimischen Bevölkerung immer populärer, und so entschloss sich Ahmadi, zusammen mit drei Gesellschaftern und mit finanzieller Unterstützung durch den Flüchtlingsfonds der Gemeinde Venedig ein Lokal mitten in der Lagunenstadt zu eröffnen. „Im Jahr 2012 fanden wir eine Kebab-Bude, die uns ideal erschien und preisgünstig genug war“, erzählt er. „Als erstes verkauften wir den elektrischen Kebab-Spieß, danach eröffneten wir eine Art Take-away mit nichts weiter als zwei Stehtischen und nannten das Ganze Orient Experience.“

Dass sich die Begeisterung der Italiener für exotische Küchenstile in der Regel eher in Maßen hält, war ihm dabei freilich wohl bewusst. Auch hätten ihm viele Leute dezidiert abgeraten davon, sich auf ein derartig gewagtes Experiment einzulassen. Doch Ahmadi blieb unbeirrbar und von seinem Projekt überzeugt.

„Nicht zuletzt deswegen, weil Venedig im Laufe der Geschichte immer als Tor zum Orient galt“, sagt er. „Orientalische Einflüsse gibt es hier zuhauf, vor allem natürlich in der Architektur, aber bei genauerem Hinsehen auch in der Küche.“ Darum dachte er an eine Art kulinarische Seidenstraße, wie er sich ausdrückt, an deren Ende Venedig als ideales Reiseziel liege.

Abgesehen davon sei er viel mehr zusätzlich motiviert gewesen durch die Tatsache, dass es in Venedig wie in ganz Italien verhältnismäßig wenige Lokale gibt, die sogenannte ethnische Küche anbieten. „In einer solchen Situation kann man sehr wohl auch eine Marktnische erkennen – und nicht zwangsweise ein Handicap“, sagt der Unternehmer.

Die Rechnung ging jedenfalls auf. Und zwar noch besser, als ursprünglich erwartet. Heute betreiben Ahmadi und seine Partner vier Lokale in Venedig und ein weiteres im nahen Padua.

Während er spricht, werden kräftiger Pfefferminztee und Speisen aufgetischt, darunter Kabuli, also Basmatireis mit Lammfleisch, Karotten und Rosinen; Couscous mit Gemüsebouillon; Byriani mit Hühnerfleisch; Melanzani mit Joghurtsauce und Kreuzkümmel sowie ein Linsencurry mit Tomaten und Karotten. Und dazu frisch gebackenes Fladenbrot. Das alles serviert von augenscheinlich sehr motivierten jungen Leuten, die allesamt in Italien gelandet sind auf der Suche nach einer besseren Zukunft – und diese hier offenbar auch gefunden haben.

Wie zum Beispiel Mohammed Husseini, der sich um das Lokal beim Campo Santa Margherita kümmert. „Eigentlich wollte ich damals nach Großbritannien und war sogar schon ein paar Monate im sogenannten Dschungel von Calais, aber den Sprung über den Ärmelkanal hab ich einfach nicht geschafft“, erzählt der 32-jährige Afghane, „irgendwann verließ mich dann die Kraft, und ich kehrte widerwillig zurück nach Italien.“ Das sollte sich allerdings als Glücksfall herausstellen. Denn hier traf er auf Ahmadi, begann in dessen Lokal zu arbeiten und brachte es bis zum Teilhaber.

„Im Ganzen sind wir nun fünfzig Mitarbeiter, von denen vierzig Teilhaber sind und sechs auf dem Sprung dazu“, fährt Ahmadi fort. „Der Andrang aus den Flüchtlingsheimen ist natürlich groß, leider können wir nicht allen einen Job anbieten.“ Stattdessen veranstaltet man eine Art Koch-Contest nach dem Modell erfolgreicher Fernsehshows, bei denen eine Jury entscheidet, welches Gericht gut genug ist, um in einem der Lokale serviert zu werden. Veranstaltet werden diese Contests in der Regel in Kochschulen, die den Flüchtlingen ihre Einrichtungen zur Verfügung stellten.

Während in vier Lokalen orientalisch gekocht wird, spezialisiert man sich im fünften und jüngsten Restaurant auf afrikanische Küche. „Wir dachten uns, dass man das Projekt auch auf unsere afrikanischen Freunde ausweiten sollte und eröffneten im Vorjahr das erste Africa Experience, um die Reise sozusagen auch nach Afrika zu bringen“, erzählt Ahmadi. Nun will er das Konzept auch in weiteren Städten wiederholen. Etwa in Palermo, Neapel und Rom, wo es überall Organisationen gebe, die sich an einer Zusammenarbeit und einer Restauranteröffnung interessiert zeigten. Das Ganze sei eben außerordentlich befriedigend für alle Beteiligten, fügt der Unternehmer an, dessen Gesellschaft inzwischen alljährlich mehrere Zigtausend Euro an Steuern an die Stadt Venedig zahlt.

Orient Experience
Rio Terà Farsetti 1847/b
Cannaregio, Venedig 30121
Tel.: +39/041/822 43 37

Orient Experience II
Dorsoduro 2920, Venedig 30121
Tel.: +39/041/520 02 17
und
Dorsoduro, 2928,Venedig 30123
Tel.: +39/041/241 26 69

Africa Experience
Calle Lunga S. Barnaba, 2722, Venedig 30123
Tel.: +39/041/476 78 65

Peace & Spice
Dondi dall’Orologio, 13, 35139 Padua
Tel.: +39/049/66 34 50