Mit Herz und Seele Bauer sein

Michael Wilhelm ist Bergbauer im Windachtal in Sölden. Es ist die stille Seite des Ötztals. Der ruhige Gegenpol zum Ski- und Pistenwahnsinn auf der anderen Seite. Seit 20 Jahren züchtet Wilhelm hier Yaks und Zackelschafe. Was als waghalsige Idee begann, ist mittlerweile ein respek­tables Projekt alpiner Kulinarik. Jürgen Schmücking war für slow am Berg und hat den Yeti und die Yaks besucht.

Wenn man mit Michael unterwegs ist, empfindet man in erster Linie Verblüffung und Bewunderung. Der Weg von Sölden hinauf ins Hochtal, wo seine Alm liegt und die Tiere weiden, führt über einen schmalen Forstweg. Rechts vom Weg sind steile Hänge, links davon geht es nicht weniger steil bergab. Auf die Straße achtet der Bergbauer kaum. Großen Schlaglöchern weicht er blind aus, über herabgefallene Äste fährt er einfach drüber. Seine volle Aufmerksamkeit gilt seiner Umgebung. Sieht er einen Pilz, springt er in die Bremsen. Ein Raubvogel wird so lange mit dem Fernglas verfolgt, bis er ihn identifiziert hat. Auf einer Lichtung am gegenüber­liegenden Hang entdeckt er drei Stiere. Es sollten vier sein. Nach etwa zehn Minuten hat er den vierten Stier ausgemacht. Er lag im Schatten ein paar hundert Meter von seinen Genossen entfernt. Weitergefahren wurde aber erst, als der abtrünnige Stier aufstand und Michael Wilhelm sicher sein konnte, dass alles in Ordnung ist. Noch weiter oben, schon über der Baumgrenze, entdeckt der Bauer ein Lamm im Fels. Mit freiem (und ungeübtem) Auge sind dort, wo er hinzeigt, nur weiße Flecken erkennbar. Weiße Flecken, wie sie über den ganzen Hang verstreut sind. Steine, Geröll, hin und wieder ein kleiner Schneehaufen. Das ungeübte Auge bekommt Unterstützung. Durch das Fernglas werden die weißen Flecken größer. Aber es bleiben weiße Flecken. Keiner davon kann als Lamm identifiziert werden. Bis sich einer dieser Flecken plötzlich bewegt und den Kopf hebt. „Das sollte dort nicht sein. Das werd’ ich holen müssen.“ Er steigt in seinen Geländewagen und fährt weiter. Nachdenklicher als davor.

Leidenschaft und Gegenwind
Michael Wilhelm ist ein wacher und feinsinniger Geist mit künstlerischer Ader. Nachdem die Eltern früh starben, musste er den Hof in sehr jungen Jahren übernehmen. Er war damals 16 Jahre alt. Die Entscheidung für die Landwirtschaft, für seine Tiere, bereut er bis heute nicht. Keine ­Sekunde. Und obwohl ihm die Landwirtschaft oder vielmehr das „Bauersein“, wie er es nennt, in die Wiege gelegt wurde, schuf er sich ein zweites Standbein. Er studierte Holz- und Steinbildhauerei und wurde darin so gut, dass er für einen von ihm gebauten Altar ausgezeichnet wurde. Irgendwann wurde ihm aber klar, dass er sich zwischen Künstler- und Bauersein entscheiden muss, und diese Entscheidung war kristallklar. Zu sehr lagen ihm seine Tiere am Herzen, zu sehr fühlte er sich dem Hof und der Alm verpflichtet.

Vor ungefähr 20 Jahren stand die nächste Entscheidung an. Wobei „Entscheidung“ vielleicht der falsche Begriff für die Aktion ist. In einem Anfall jugendlichen Leichtsinns kaufte er fünf Yaks. Kleinwüchsige, zottelige Rinder, die ihren Ursprung in Zentralasien haben. Man findet sie im Hochland des Hi­ma­la­ja, in den Steppen der Mongolei bis hinauf in den Süden Sibiriens. Ihre Herkunft machte sie jedenfalls der heimischen Bürokratie verdächtig. Schroffe Ablehnung seitens der Landwirtschaftskammer. Mit Begründungen, die, wohlwollend ausgelegt, zumindest abenteuerlich waren: „Gehören nicht hierher“, „Was, wenn sich diese Yaks mit unseren Grauvieh-Rindern kreuzen?“, „Braucht kein Mensch“. Die offene Ablehnung durch die Bauernvertretung führte dazu, dass die Yaks anfangs nicht auf die Alm durften und in den Stall mussten. Worauf die Tiere kurzerhand krank wurden und ihr Fell verloren. Mittlerweile verbringt die Herde (aus den fünf Tieren wurde eine stattliche Gruppe von ungefähr 40 Yaks) den Sommer hoch droben im Windachtal und den Winter in Längenfeld, weiter unten im Ötztal. Für Michael Wilhelm war die xenophobe Argumentation der Kammer (und mancher Kollegen) nie nachvollziehbar. Schließlich finden seine Yaks im Windachtal genau jene Bedingungen, die sie brauchen: trockenes, kühles Klima und hochalpine Landschaft. Wenn es ihnen auf 2.500 Metern zu warm ist, kann es durchaus sein, dass sie noch weiter hinaufgehen. Auf etwa 2.700 Metern liegt die Siegerlandhütte und hinter ihr ein (auch im Sommer) eiskalter Bergsee. Immer wieder kommt es vor, dass die Yaks Abkühlung suchen und sich darin baden. Yaks haben eher kurze Beine, und in Verbindung mit dem langen Fell sieht das aus, als würde es ihnen an Bodenfreiheit fehlen. Dabei bewegen sie sich im Gelände unglaublich schnell und geschickt. Wenn Michael sie besucht, kommen sie angetrabt. Sie kennen seinen Wagen, und sie kennen ihn.

Tiefrot und wild
Vermarktet wird das Fleisch. Das Schlachten fällt Michael Wilhelm auch nach 20 Jahren noch schwer. Was nachvollziehbar ist. Vier Mal pro Woche sucht und besucht er die Herde. Einige Kälber hat er mit der Hand aufgezogen. Fürs Schlachten hat er klare Richtlinien. Jedes Tier darf – zumindest – einen Sommer auf der Alm verbringen. Das bedeutet, dass die Yaks frühestens mit 18 Monaten geschlachtet werden. Eine Yak-Kuh hat dann etwa 300 Kilo. Deutlich weniger als eine Fleckvieh-Kuh. Zum Schlachthof werden die Tiere einzeln gebracht. Das hat zur Folge, dass es bei der Schlachtung selbst keine Wartezeiten gibt und die Tiere dadurch weniger Stress empfinden. Besonders ängstliche Tiere werden direkt auf der Weide geschlachtet. Michael Wilhelm sagt, dass er das den Tieren schuldig ist. Die industrielle Schlachtung und ihre Methoden sind ihm zutiefst zuwider.

Das Fleisch der Yaks ist aufgrund seines hohen Myoglobingehalts wesentlich dunkler als klassisches Rindfleisch. Das Fett wiederum ist durch den höheren Carotingehalt leicht gelblich. Eine Marmorierung, wie sie typisch für einige andere Rinderrassen ist? Fehlanzeige. Yakfleisch ist mager und erinnert ein wenig an Wild. Vielleicht auch an Bison oder Pferd. Verkauft wird es ausschließlich an private Kunden ab Hof sowie an Gastronomen, die den Wert des Produkts erkannt haben und schätzen. Einige der besten Köche des Landes haben seine Nummer unter „Yak-Michel“ abgespeichert: Andreas Döllerer in Golling zum Beispiel, der zum einen immer wieder Yak-Wochen im Programm hat, zum anderen aber auch ein Gericht mit Michael Wilhelms zweitem Standbein, der Kreuzung aus Tuxer Rind und Wagyu, auf der Karte hat. Aber auch Richard Rauch vom Steira Wirt oder Thomas Kluckner und Waal Sterneberg vom Zomm. im Meilerhof kaufen regel­mäßig in Sölden ein. In den meisten Fällen ganze Tiere.

Neben den Yaks und den gerade erwähnten Tuxer- bzw.Wagyu-Rindern hat Michael Wilhelm noch Zackelschafe am Hof. Das sind – wie die Yaks – langfellige, zottelige Schafe mit langen, kerzengeraden, aber schraubförmig gedrehten Hörnern. Es ist die letzte erhaltene Rasse mit diesen Schraubenhörnern, der Bestand gilt als hochgradig gefährdet. Arche Austria schätzt, dass es etwa noch 3.500 Tiere gibt.

Man kann Michael Wilhelm übrigens auf seiner Alm besuchen. Der Anstieg zur Windachalm von Sölden aus dauert etwa zwei Stunden. Es ist eine urige Alm, ohne Strom, ohne fließendes Wasser. Michael ist gerne dort. Wobei, bei aller Naturverbundenheit, rückständig ist der Bergbauer keinesfalls. Nur wenige Tage nach der gemeinsamen Fahrt und nachdem er das verletzte Lamm am Felshang entdeckt hat, postet er ein Bild von der Rettungsaktion auf Instagram. In einer Hand einen Hirtenstab, im anderen Arm das Lamm.