Rettet die Rohmilch

Lange Zeit waren die handwerklich erzeugten und durch Herkunfts- bezeich­nungen geschützten Käsesorten der Stolz Frankreichs. Doch nun sind immer mehr unter ihnen durch industrielle Übernahmen gefährdet.

Zwei Mal am Tag verarbeitet Emmanuel Missillier die Milch seiner Kühe zu Käse. Dafür geht er morgens und abends ein paar Schritte auf die Almweiden hinter seinem Haus in der französischen Region Savoyen und treibt die Tiere zusammen, um sie zu melken. Sofort danach kommt die rohe, also nicht erhitzte – im konkreten Fall aber auch nicht gekühlte – Milch körperwarm und gänzlich unbehandelt in einen Kessel, wird dort mit Lab vermischt und eineinhalb Stunden später zu handgroßen Käselaiben geformt. Das war’s. Von nun braucht der Käse nur mehr zu reifen. „Ein Verfahren von nahezu biblischer Einfachheit, das vom Prinzip her seit Jahrhunderten unverändert geblieben ist“, betont Missillier.

Doch der am Hof und aus Rohmilch und handgemachte Reblochon, wie ihn Monsieur Missillier erzeugt, gilt inzwischen als Ausnahme unter den 45 Käsesorten, die in Frankreich mit einer Appellation d’origine protégée (AOP), also einer geschützten Herkunftsbezeichnung, ausgezeichnet wurden. „Mittlerweile sind 70 Prozent der unter einer AOP erzeugten Käse in den Händen großer Firmen“, betont Véronique Richez-Lerouge. „Auf diese Art verkommt die Herkunftsbezeichnung zu einem Marketingtool, das vielleicht besagten Firmen etwas bringt, keinesfalls aber den kleinen Produzenten, dem Geschmack, der Vielfalt und der Unterstützung eines Territoriums, zu deren Schutz sie ­ursprünglich gedacht war.“

Als negatives Gegenbeispiel zum Reblochon nennt die streitbare Journalistin mit der roten Mähne und den strahlend blauen Augen ausgerechnet den Camembert. Jenen weltberühmten Käse also, der seit Beginn des 18. Jahrhunderts rund um die gleichnamige Ortschaft in der nordfranzösischen Region Normandie hergestellt wird und inzwischen als eines der Symbole Frankreichs seinen Platz behauptet neben Baskenmütze, Rotwein und Baguette.

Nach einem jahrzehntelangen Rechtsstreit einigten sich vor wenigen Monaten industrielle und handwerkliche Käsemacher auf ein gemeinsames neues Erzeugerregelwerk für den berühmten Käse in der runden Schachtel.

Dieses besagt, dass künftig nicht mehr ausschließlich Camembert aus roher, sondern auch solcher aus pasteurisierter Milch das gleichsam exklusive wie wirtschaftlich einträgliche Siegel der Europäischen Union tragen darf, das echten normannischen Camembert von zahlreichen und weltweit erzeugten „Plagiaten“ unterscheidet. Im Gegenzug verpflichten sich die industriellen Pasteurisierer, in ihrem Käse mindestens 30 Prozent Milch von Kühen der lokalen normannischen Rinderrasse einzusetzen, die auch auf Weiden der Region grasen müssen. Ein fairer Kompromiss also, sollte man meinen. Zählt doch die Bewahrung alter Nutztierrassen zu den Hauptaufgaben der AOPs. So darf beispielsweise der Roquefort, um seinen berühmten Namen zu tragen, ausschließlich aus der Milch der einst bedrohten Schafrasse Lacaune erzeugt werden.

Doch damit, dass das neue Regelwerk für den Camembert eine zumindest anteilige Verwendung von Milch der lokalen normannischen Rinderrasse vorschreibt, gibt sich Madame Richez-Lerouge nicht zufrieden. „Auch der Roquefort ist inzwischen eine Ausnahme und eines der wenigen Beispiele, wo die AOP noch die traditionelle und handwerkliche Produktion aus Rohmilch schützt und so die alte Rasse und mit ihr die Wirtschaft einer ganzen Region unterstützt, in der zahlreiche Bauern und Käsemacher von dem berühmten Käse leben“, sagt sie. „Aber im Fall von pasteurisierter und somit homogenisierter und gleich schmeckender Milch bringt das Bestehen auf alte und lokale Rassen ja kaum etwas und könnte allein deswegen schon in naher Zukunft als Auflage gleichfalls fallen.“

Die Situation für den Camembert sei jedenfalls dramatisch, fährt sie fort. Dramatisch für den Konsumenten, dem man damit auch falschen, also industriell hergestellten Camembert als echten verkaufen kann; dramatisch für die Milchproduzenten, die mittelfristig weniger für ihre Milch bezahlt bekommen; und dramatisch für die verbliebenen Erzeuger von echtem, handgeschöpftem Camembert aus Rohmilch, deren Produkte nun nicht mehr deutlich genug gekennzeichnet sein werden, um sich von industrieller Ware abzuheben.

So drohe dem Camembert das Schicksal eines weiteren AOP-Käses namens Salers. Dieser wird in Zen­tralfrankreich erzeugt und sollte, wie sein Name vermuten lässt, aus der Milch von Kühen der gleichnamigen Rasse erzeugt werden. Doch das ist nur mehr bei lediglich sechs Produzenten der Fall. Alle anderen sind, wie es die AOP erlaubt, längst auf die mehr Milch gebenden Holstein-Rinder umgestiegen. Einer der letzten Bewahrer der alten Rasse ist Géraud Delorme, der auf den grünen Hochplateaus der zentralfranzösischen Region Auvergne die prächtigen langhaarigen Rinder mit ihrem rotbrauen Fell und den lyraförmigen Hörnern züchtet.

„Bei der Qualitätskontrolle fiel unser Käse durch, weil kleine Löcher im Laib waren“, erzählt der Züchter, „deswegen schlug man uns vor, entweder mit pasteurisierter Milch zu arbeiten oder aber auf die AOP zu verzichten. Doch pasteurisierte Milch kommt für uns nicht in Frage, da bräuchten wir ja keine Kühe mehr zu halten und könnten die Milch gleich im Supermarkt im Tetrapak kaufen.“ Zählten nicht einige treue Spitzenrestaurants zu seinen treuesten Kunden, so der Käsemacher weiter, hätte er die Produktion wohl längst einstellen müssen.

Doch nur für die Spitzengastronomie zu produzieren, könne es ja wohl nicht sein, findet Véronique Richez-Lerouge. „Diese alten ­Käsesorten sind ein nationales Kulturgut, das für alle Franzosen zugänglich bleiben muss“, betont sie.„Wenn Sie Freunden zuhause eine Käseplatte ­servieren, werden Sie feststellen, dass sich die Stimmung augenblicklich entspannt und die ­Konversation angeregter wird. Das liegt zum einen am Vergnügen, am Genuss und an der Freude, die Käse fähig ist zu erzeugen. Aber auch am starken Geruch, der die Nähe zu etwas Ländlichem und Rustikalem vermittelt. Und uns unseren Bezug zum ländlichen Raum, zu den Tieren und zur Natur in Erinnerung ruft.“ Und in der Bewahrung dieses Erlebnisses sollte in Wahrheit die eigentliche Aufgabe der Herkunftsbezeichnungen liegen.