Bitter Sweet Symphony

Alles kommt irgendwann mal wieder. Auch Dinge, von denen man wirklich nicht erwartet hätte, dass sie jemals wiederkommen, ja, auch der Wermut. Und der bittere Likörwein ist nicht nur wieder da, er könnte sogar der neue Gin werden.

Text von Florian Holzer Foto The Ritz-Carlton, Vienna | Pastamara – Bar con Cucina

Der junge Herr mit der weißen Jacke und der gut gebundenen schwarzen Krawatte fährt den Wagen vor. Funkelnd rot, goldene Details, chromblitzende Felgen, schlichtes, perfektes Design … Der Negroni-Wagen im Pastamara hat zwar null PS, aber dennoch ganz schön was unter der Haube, nämlich die augenblicklich beste Negroni-Zeremonie, die man in Wien bekommen kann, und so ziemlich sämtliche Zutaten, die es dafür braucht: Orangenlikör von St-Germain aus ­Aquitanien, eine rare Sonderabfüllung von fassgelagertem Campari, ­Malfy-Gin aus Moncalieri und neben dem Mancino aus Canelli Asti noch 21 weitere Wermuts. Die Zubereitungs-Show dauert fünf bis sechs wunderbare Minuten und kostet 19 Euro pro Glas.

Negroni ist nämlich gerade das heiße Ding an den Theken der Stadt. Jeder Stadt. Und zwar eher nicht, weil der Cocktail vor genau hundert Jahren im Caffè Casoni in Florenz erfunden wurde. Sondern eher, weil der rasante Gin-Hype der vergangenen Jahre so viele Gewürz-Schnäpse auf den Markt spülte, mit denen nun ja auch einmal etwas anderes als immer nur Gin To­nic gemacht werden muss. Und auch weil das Publikum von diesen sogenannten „Botanicals“ schlicht und ergreifend angefixt wurde und mehr davon will; oder auch, weil der Wermut plötzlich von sehr vielen verschiedenen Menschen gleichzeitig neu entdeckt wurde.

Wermutlich zum Beispiel, eine Kooperation des Barkeepers Hubert Peter mit dem Winzer Michael Andert und Sommelier Thomas Juranitsch; oder der rote und weiße Wermuth des steirischen Wildbret-Handels Alles Wild; der First Austrian Wermut, für den der Linzer Weinhändler Jürgen Penzenleitner mit dem Kremstaler Winzer Josef Dockner und Meisterbrenner Hans Reisetbauer zusammenarbeitet; der Vreimuth Vintage, eine Kooperation von Freihof und dem Weingut Fidesser; der Pontica des Barkeepers und Sensorikers Reinhard Pohorec; der Bio-Wermutwein des Weinguts Warga Hack; der WERhatMut des kulinarischen Gesamtkunstwerkers Sven Strasser; der Wermut der Genussfreundin und Quereinsteigerin Karin Stainhauser oder Wermut & Perlmut der ­Gaumengut-Kochkurs-Veranstalter Lorenz und Heike Krumpusch. Die Küchenchefs Richard Rauch, Harald Irka, Lukas Nagl, Raetus Wetter, Norbert Thaller und Walter Leidenfrost haben auch ihre eigenen bitter-süßen Likörweine angesetzt.

Wermutlich: Die Avantgarde

In den Regalen des im Jänner von Hubert Peter gemeinsam mit Küchenchef Lucas Steindorfer eröffneten Lokals Bruder stapeln sich 200 verschiedene Kräuter-Ansätze und Mazerationen. Damit ist der Mann, der sich in den vergangenen Jahren zu einem der interessantesten Barkeeper des Landes entwickelte, seinem Ziel, „eine Bar aufzumachen, in der alles, jedes Produkt, selbst gemacht ist“, jedenfalls schon recht nahe.

Irgendwann hatte Hubert Peter die Idee, drei verschiedene Wermuts aus einer Rebsorte zu machen, einen weißen, einen Rosé und einen roten. Mit dem biodynamisch arbeitenden Winzer Michael Andert fand er den richtigen Agronomen dafür, mit Sommelier Thomas ­Juranitsch den richtig geschulten Gaumen – das Projekt Wermutlich war geboren. Das Wermut-Kraut, erzählt Hubert Peter, wachse aus Pflanzenschutzgründen ohnehin gleich neben den Zweigelt-Reben, Tausendguldenkraut, Beifuß, Schafgarbe und noch ein gutes Dutzend mehr wilde Kräuter gehen größtenteils wild auf, „wir haben da einen riesigen Kräutergarten“.

Die Herstellung ist einigermaßen unkonventionell und definitiv nicht ISO-zertifiziert: Die Kräuter kommen zum Wein ins Fass, ein bisschen Honig dazu und mit hauseigenem Trebern-Brand auf 16,3 % aufspriten.

Das brauche es nicht zuletzt, um etwaige Nachgärungen zu verhindern. Die Herzen jener Barkeeper, „die über ihre Zutaten auch gerne eine gute Geschichte erzählen“ hätten die drei Wermutlich-Macher jedenfalls rasch gewonnen, allerdings weniger in Österreich als vielmehr in Skandinavien. 800 bis 1.000 Flaschen des blumig-milden, anregenden Wermutlich weiß, des knackigen, feinwürzig-holzigen Rosé und des mit Minze, Cola-Kraut und Wermut-Kraut schon recht kräftig dosierten roten Wermutlich werden derzeit ausgeliefert. Im Lokal Bruder mazeriert Hubert Peter übrigens auch noch je eine Bruder-Version in kleinem Maßstab, dafür kommen Kräuter von Evi Bach aus Wien in die Glasballons. Neue Fässer mit etwas größeren Spundlöchern haben sich die drei Wermutlich-Macher übrigens gerade machen lassen, anders sei es nämlich extrem mühsam, all die Kräuter und Zweige auch wieder herauszubekommen, „jetzt können wir auch ordentlich Rosmarin reinschneiden“.

Burschik: Der Pionier

Am Anfang war aber Burschik. Bis in die 70er-Jahre lief das Geschäft mit dem Wermut jedenfalls sehr gut, erinnert sich Leonhard Specht, des sen Familie die Wermut-Kellerei Burschik hinter dem Wiener Westbahnhof seit 1916 besitzt. Den heimischen Burschik-Wermut trank man traditionsgemäß nach dem Essen als Verdauungshilfe, und zwar gleich ein Achterl davon. Mit dem Eintritt der italienischen Marken in den österreichischen Markt wurde das Geschäft für den ehemaligen Platzhirsch allerdings härter, „nach Cinzano war’s für uns schwer“.

Ab 2001 begann Specht damit, dem alten Wermut eine neue Formel zu verpassen: mit weniger Zucker, mit besseren Grundweinen, mit einer angepassten Gewürzmischung, mit neuem Design und sogar mit ein bisschen Fassausbau. 2012 war das Produkt Burschik neu jedenfalls fertig. Es verkaufte sich anfangs eher schleppend, heute sind es immerhin knapp 10.000 Flaschen, die das Wiener Unternehmen pro Jahr absetzt.

Hergestellt werden der frische, weinige Wiener Klassik, der etwas bitterere, zimtige Burschik Dry und der sowohl noch süßere als auch noch Kräuter- und Gewürz-komplexere Burschik Red nach wie vor in den Kellergewölben des ursprünglichen Betriebs. Das jüngste Kind ist ein barriquegelagerter roter ­Wermut namens Oak Red, der die Bestimmung „Negroni“ schon sehr deutlich erkennen lässt. Und auch mit Klosterschwestern aus dem 17. Wiener Gemeinde­bezirk, die ihm das Wermut-Kraut eventuell in einem Wiener Klostergarten anbauen könnten, ist Leonhard Specht schon in Kontakt, was sich natürlich wiederum zu einem schlagkräftigen Marketing-Argument entwickeln könnte.

Die Kooperationen: Dockner & Reisetbauer, Gölles & Tement

In Winzer- und Brenner-Kreisen wird der Wermut jedenfalls zunehmend eine Option. Winzer Josef Dockner etwa lässt für seinen 1st Wermut ­Bianco, der exklusiv für den Linzer Weinhändler Weinturm produziert wird, Zitronengras und andere Kräuter für 48 Stunden in Grünem Veltliner mazerieren, „wie ein Teesackerl halt“, und bringt ihn mittels Hans Reisetbauers Axberg Vodka auf 17 Volumprozent.

Die Brenner Alois und David Gölles wiederum arbeiten bei ihrem kurz vor Marktreife stehenden Wermut-Projekt namens Alfred mit Winzer Manfred Tement zusammen; es handelt sich dabei um eine trockene und eine halbtrockene Version, die geschmackstechnisch eher ins anregende, grapefruitartige tendieren.

Und wie zum Beweis, dass es sich hier auch um einen internationalen Trend handelt, bringt der französische Weinhandels-Gigant Lurton nach seinem Sorgin-Gin momentan gerade einen Wermut auf Sauvignon-blanc-Basis namens Leonce auf den Markt.

Die Wermuts der Köche: Wetter, Rauch, Irka

Und das Interessante an der neuen Wermut-Szene: Es spielen auch welche mit, die sich sonst eher um die feste Nahrung kümmern: Silent Cook Patrick Müller serviert in seinem soeben eröffneten Usus im Schauspielhaus selbst gemachten Wermut als Aperitif, für den Grüner Veltliner und Trebernbrand von Robert Karasek aus Unterretzbach Verwendung finden; oder Raetus Wetter vom Yppenplatz-Szene-Italiener Wetter, der schon seit 2016 kleine und saisonal wechselnde Wermut-Chargen ansetzt. Fixe Rezeptur gebe es keine, sagt er, die Mischung aus Grünem Veltliner, Kräutern und Früchten entstehe je nach Laune und Angebot. Beim gerade fertiggestellten Exemplar sorgt etwa die grüne Marille seines afghanischen Obsthändlers für die Bitternoten, und Hibiskusblüten sorgen für das Florale. Eine Wermut-Kooperation von Raetus Wetter und Gerhard Pittnauer auf Basis eines maischevergorenen Weins in größerem Maßstab stand bei Redaktionsschluss unmittelbar vor ihrem Abschluss.

Und wie kam Richard Rauch zu seinem Wermut? Das war schon vor längerer Zeit, erzählt er, als das Steirawirt-Team einmal für ein Catering engagiert wurde „und wir alles mitbringen durften, nur den Aperitif nicht, weil die Gastgeber einen eigenen Wermut angesetzt hatten“. Der habe den Rauchs schließlich so gut gefallen, dass sie beschlossen, so ­etwas ebenfalls herzustellen. Die Basis ist immer eine eher frische Cuvée aus Welschriesling und Sämling, die mit Orangenzesten, Ingwer, Kardamom, Holunderblüten und anderen „Botanicals“ angesetzt wird, „so acht bis neun Sachen, aber nie mit einer fixen ­Rezeptur“. Der Steirawirt-Wermut besticht durch „weihnachtliche“ Aromen und eine fein-knusprige Bitter­note. „Unser Anspruch für den Wermut ist: Man soll ein zweites Glas trinken wollen.“

Das wird bei Harald Irkas Saziani Bitter so nicht funktionieren, dazu ist er schlicht und ergreifend zu intensiv, eher ein Amaro, ein Bitterlikör, dazu gedacht, in Cocktails eingesetzt zu werden – aber was für ein grandioser Stoff! „Wir wollten einfach einen guten Wermut machen, weil’s so viele schlechte gibt“, bringt es der Saziani Stub’n-Küchenchef auf den Punkt.

Alles, was seinen Weg in die kleinen Flaschen mit der bernsteinfarbenen Bitter-Power findet, stamme „von rundherum“, so Irka: Weinraute, Löwenzahn, Brennnessel, Kirschblüten, Walnussblätter und der Honig. Vier bis fünf Monate darf das dann gemeinsam mit Alkohol mazerieren und seine Aromen preisgeben, 20 Volumprozent und ein bitterwürziges ­Crescendo, das man lange auf der Zunge hat, sind das Ergebnis. Und gar kein Wein drin? Nein, beim Saziani Bitter nicht, für Ende 2019, Anfang 2010 plant ­Harald Irka allerdings schon eine Kooperation mit dem Weingut Neumeister für einen aperitiftauglichen Wermut in Rot und Weiß.

Der Bitter-Boom wird bis dahin noch nicht vorbei sein, wie’s aussieht.