Château Jurassique

Reblaus? Was war das? In ihrem Streben nach Terroir und immer mehr Naturbelassenheit pflanzen ein paar Winzer wieder europäische Direktträgerreben aus. Die Weine daraus wirken ein wenig wie ein Gruß aus einer untergegangenen Welt und sind stark nachgefragt. Einer davon gilt gar als der teuerste der Welt.

Foto von The Vineyard by Loïc Pasquet
Text von Georges Desrues

Bei Direktträgerweinen denkt man hierzulande in erster Linie an den Uhudler. Also an einen Wein mit durchwegs bescheidenen organoleptischen Qualitäten, der seine Berechtigung noch am ehesten in den urigen Buschenschanken des Südburgenlands findet. Oder aber man spricht von den sogenannte Piwis, also von Hybridsorten mit obskuren Namen wie Roesler, Souvignier gris, ­Johanniter, Maréchal Foch oder Lucie Kuhlmann, die sich trotz ihrer starken Resistenzen gegen Rebenkrankheiten schwertun, ins Hochpreissegment des Weinmarkts vorzudringen. Umso erstaunlicher, dass der teuerste Ab-Hof-Wein der Welt gleichfalls in die Kategorie der Direktträger fällt.

Um das zu verstehen, bedarf es eines kurzen Exkurses in die Geschichte des Weinbaus. Über Jahrhunderte wurden in Europa nur die Sorten aus einer einzigen Gattung der Weinrebe angebaut, nämlich der Vitis vinifera. Laut Wissenschaftern wurde sie bereits einige Jahrtausende vor Christi Geburt im Südkaukasus angebaut, im Laufe der Zeit veredelt und gekreuzt, und brachte alle vertrauten und bis heute weltweit verbreiteten Sorten wie Cabernet Sauvignon oder Grünen Veltliner hervor.

Zeitgleich existierten auf dem amerikanischen Kontinent weitere, wilde Gattungen der Rebe, darunter Vitis riparia, Vitis rupestris und Vitis berlandieri. Da diese niemals kultiviert wurden, sich folglich ohne menschliches Zutun durchsetzen mussten, entwickelten sie weit stärkere Resistenzen als die Vitis vinifera, unter anderem gegen Pilzbefall wie den Mehltau oder Schädlinge wie die Reblaus. Als dann Mitte des 19. Jahrhunderts sowohl Mehltau als auch Reblaus aus Amerika eingeschleppt wurden, befielen sie die heimischen, nicht resistenten Reben und breiteten sich in wenigen Jahren über nahezu sämtliche europäische Weinbaugebiete aus. Es war die Urkatastrophe des europäischen Weinbaus, der Millionen Hektar Rebflächen zum Opfer fielen.

Um die alteingesessenen Sorten zu ersetzen, reagierten die europäischen Winzer anfangs mit der Auspflanzung der gegen die Reblaus resistenten amerikanischen Reben. Wie beispielsweise jene, die zur Erzeugung besagten Uhudlers dienen. Doch die entpuppten sich bald als qualitativ minderwertig, mit unerwünschten Geschmacks- und Geruchsnoten. Bis man die Strategie änderte und dazu überging, die gewohnten europäischen Sorten auf amerikanische Unterlagsreben aufzupfropfen. Das Verfahren war erfolgreich, die Reben gewannen an Resistenz, die europäischen Sorten und mit ihnen eine Jahrtausende alte Kultur waren gerettet.

Doch die Technik hatte auch einen Haken. Zumindest sahen das damals und sehen das bis heute einige Winzer und Weinkenner so. „Alle Texte aus dieser Zeit sind sich einig, dass die Weine vor der Umstellung mehr Charakter, mehr Finesse, intensivere Aromen und ein ausgeprägteres, volleres Mundgefühl hatten“, sagt Loïc Pasquet, „was auch insofern logisch ist, als die Unterlagsreben als eine Art Filter zwischen Terroir und Wein wirken.“

Pasquet ist selbst Winzer, allerdings ein relativ spätberufener. Der heute 48-Jährige war als Werkstoffingenieur in Dijon im Burgund tätig. Dort kam er auf den Geschmack der lokalen Weine und gründete 2001 eine Weinhandelsfirma, bevor er im Jahr 2006 ins Bordelais übersiedelte, um, wie er sagt, das burgundische Prinzip des Lagenweins im Bordeaux anzuwenden. „Alle sprechen von der legendä­ren Bordeaux-Klassifizierung von 1855 und damit vom Geschmack des Bordeaux zu dieser Zeit. Doch den kennt ja in Wahrheit niemand, also wollte ich ihn wiederbeleben“, sagt Pasquet.

Nahe der Ortschaft Landiras im Anbaugebiet Graves fand er einen für seine Zwecke idealen Weingarten, den er ausschließlich mit Direktträgern auspflanzte; und zwar in erster Linie mit alten lokalen Rebsorten wie Saint-Macaire, Tarnay und Marselan, die heute, um eine Appellation d’Origine Contrôlée (AOC), eine geschützte Herkunftsbezeichnung, zu erhalten, zum Teil gar nicht mehr zugelassen sind. „Wegen des Klimawandels werden immer wieder neue Sorten für den Bordeaux bewilligt, im vergangenen Jahr sogar die portugiesische Traube Touriga Nacional. Aber der Tarnay, der 1855 hier noch auf 20 Prozent der Rebflächen stand, bleibt ausgeschlossen. Wo soll da der Sinn sein?“, fragt Pasquet, der seinen Wein folglich nicht als Graves und nicht einmal als Bordeaux handeln darf, sondern lediglich als Vin de France, also mehr oder weniger als Tafelwein.

Das jedoch hindert ihn nicht daran, seinen Liber Pater seit dem Jahr 2015 um den Rekordpreis von sagenhaften 30.000 Euro pro Flasche zu verkaufen. Womit der Wein, der nach dem römischen Gott der Befruchtung benannt ist, einen Preis erzielt, der Weine der prestigereichsten Châteaus im Bordeaux wie Haut-Brion, Mouton Rothschild, Latour, Pétrus und sogar den Kult-Burgunder Romanée-Conti als regelrechte Discounter-Schnäppchen erscheinen lässt.

Genieren würde er sich für den Preis mit Sicherheit nicht, betont Pasquet. Das seien eben die Gesetze des Marktes, sagt er mit einem Achselzucken und einem zufriedenen Lächeln. „In schlechten Jahren erzeuge ich gar keinen Wein, in guten gerade einmal 500 Flaschen eines äußerst speziellen Weins, der überhaupt kein Problem hat, Abnehmer zu finden, und zwar ganz ohne Presseattaché oder kaufmännische Beratung. Verkauft wird ausschließlich ab Hof, um einen direkten Kontakt zu meinen Kunden herzustellen.“

Preisbewusstere Liebhaber von Direktträgerweinen wird es freuen, dass der Winzer noch einen weiteren Wein erzeugt. Der nennt sich Denarius und kann bereits um vergleichsweise läppische 500 Euro die Flasche abgeholt werden. Angebaut wird auch er in einem biologisch zertifizierten und mit dem Maultier bearbeiteten Weingarten. Genauso wie der Liber Pater ist er spontanvergoren, kommt ohne Zusatz von Hefen oder Schwefel aus und lagert drei Jahre in Sandstein-Amphoren, bevor er in die Flasche kommt. Von den im Bordelais üblichen Barriques hält der Winzer nämlich überhaupt nichts. Habe doch auch deren Holz keinen anderen Effekt, als den Geschmack des Terroirs zu verfälschen, wie er findet.

Und was unterscheidet die Weine, bei denen es sich in beiden Fällen um eine Cuvée handelt? „Einzig und allein die Lage“, antwortet Pasquet, „ich mache Weine, die Ausdruck des Ortes sind, aus dem sie kommen. Deswegen interessiere ich mich – und interessieren sich auch meine Kunden – nicht dafür, welche Sorten sie genau enthalten und zu welchen Anteilen. Die Rebsorten suche ich lediglich danach aus, wie sie zum Weingarten, zum Mikroklima, zur Bodenbeschaffenheit passen.“

In der konservativen Welt der eleganten Châteaus und manikürten Weingärten rund um die Stadt Bordeaux sorgten Pasquets gerade-zu revolutionäre Auffassungen und unkonventionelle Methoden erwar-tungsgemäß für gehöriges Aufsehen. Auch dauerte es nicht lange, bis der Querdenker ins Visier der Behörden geriet. So strebte etwa das INAO, das mächtige Institut national de l’origine et de la qualité (dt.: Nationalinstitut für Herkunft und Qualität), das in Frankreich über die Lebensmittelerzeugung wacht, gleich mehrere Prozesse gegen ihn an. Zudem musste er an einem Wintertag vor wenigen Jahren feststellen, dass Unbekannte in einem seiner Weingärten über 500 Rebstöcke einfach abgeschnitten hatten.

Auch ist die Frage nicht restlos ­geklärt, ob die Auspflanzung von Direktträgern überhaupt gesetzlich erlaubt ist. In einigen Weinbauländern Europas, wie etwa Deutschland oder Österreich, ist sie das nämlich ausdrücklich nicht (auch nicht die der amerikanischen; für die Trauben, die im erwähnten Uhudler Verwendung finden, gibt es Ausnahmeregelungen). Und zwar, weil man befürchtet, dass die Reblaus, die niemals ausgestorben ist und gegen die es bis heute kein Mittel gibt, wieder aktiv werden könnte. Dass so mancher Winzer sich über das Gesetz hinwegsetzt, ist allerdings ein offenes Geheimnis.

„In Wahrheit sind ja auch nur jene Reben gefährdet, die in Lehmböden stehen“, erklärt Pasquet, „in Vulkan- oder Sandböden etwa gibt es kaum Pro­bleme, weil sich die Reblaus dort nicht ausbreiten kann.“ Das erkläre auch, warum einige Direktträger die Plage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überlebt hätten. Darunter etwa Weingärten in Vulkangesteinsböden wie auf den griechischen Inseln Santorin und Naxos sowie am Hang des Ätna in Sizilien und in den Muschelkalk- und Schieferböden an der Mosel. Dass bestimmte Länder den Anbau solcher wurzelechten Reben verbieten, sei auch einer der Gründe, warum er gemeinsam mit gleichgesinnten Winzern die Vereinigung Les Francs de pied gründete, deren Ziel sei, die alten Direktträger auf die Kulturgüter-Liste der UNESCO zu bringen.

Unter den Mitgliedern findet man gleich mehrere klingende Namen, darunter die Domaine Egon Müller in Deutschland, die St. Jodern Kellerei in der Schweiz, Fattoria di Lamole in Chianti sowie die Maison Bollinger in der Champagne. Wobei Letztgenannte mit den Vieilles Vignes Françaises sogar immer wieder (das letzte Mal allerdings vor mehreren Jahren) einen Jahrgangschampagner auf den Markt bringt, der aus einem ummauerten Weingarten mit wurzelechten Reben stammt. Ein österreichisches Mitglied gebe es bislang noch nicht. Aufgenommen würden eventuelle Interessenten und Anwärter allerdings mit offenen Armen. Denn mit Sicherheit gebe es auch in Österreich interessierte Winzer, die sich für Direktträgerreben begeistern können oder solche gerne anbauen würden, glaubt Pasquet. Womit er aber wohl kaum den Uhudler meint. —

Liber Pater heißt der teuerste Wein der Welt. Sagenhafte 30.000 Euro erzielte er ab Hof. Es handelt sich um eine Cuvée aus alten Sorten, die Loïc Pasquet (oben) in seinem Weingarten im Bordeaux-Gebiet Graves anbaut.
© The Vineyard by Loïc Pasquet
Garagenwinzer Loïc Pasquet vor den Amphoren, in denen seine Weine mindestens drei Jahre lang reifen, bevor sie ausschließlich ab Hof ­verkauft werden.
© The Vineyard by Loïc Pasquet
© The Vineyard by Loïc Pasquet