Das Schöne ist kompliziert

Wie schmeckt Geschichte? Und wie die Liebe? Wer das wissen möchte, sollte in die Welt von Jerez eintauchen und auf eines der letzten ­großen Mysterien der Menschheit treffen.

Foto von Conzalez Byass
Text von Nina Wessely

Jerez ist wie ein glücklich verliebter Dichter. Etwas, das es nicht gibt und doch gibt. Jerez ist ein Weißwein, der auch tiefschwarz sein kann. Ein Tropfen, der mit 120 Jahren jugendlich sowie leichtfüßig ist und doch voller Melancholie des Aufstiegs und Falls einer ­Region als Weltweinmacht steckt. Wer durch diese Gassen im Süden Spaniens schlendert, findet nicht nur fruchtbehangene Orangenbäume in der Fußgängerzone, sondern stößt auch auf Herrenhäuser und Weinkeller, die die uralte Geschichte der Region zeigen. Bauten, die erahnen lassen, dass Jerez schon lange vor der modernen Globalisierung in allen Ecken der Erde getrunken wurde. Heute erscheinen diese überdimensioniert für ein Weinbaugebiet mit gerade einmal 10.000 Hektar Anbaufläche.

Der Weinspaziergänger sieht traditionelle Bodegas, wie etwa San Patrizio von Gavay, in der Autos parken. Das ehemalige Weingut ist heute die Garage eines Supermarkts. Er sieht aber auch, und kostet hoffentlich, eine sehr reiche Gastronomie, die von rustikal bis Fine Dining reicht und der der beste Partner, den man sich wünschen kann, zur Seite steht: Jerez. Denn eine harmonischere Partnerschaft von Wein und Speisen haben die wenigsten bis zu Momenten von Artischocke mit Amontillado, Seeigel mit Manzanilla Pasada oder schlicht Fino mit Jamón-Serrano gekostet. Versprochen.

Wieso hier von Jerez und nicht von Sherry die Rede ist, dazu mehr, wenn es um die Herkunftsfrage im Süden Spaniens geht, die die jahrtausendealte Tradition beutelt (sagen die einen) beziehungsweise wachrüttelt (sagen die anderen). Vor wenigen Wochen wurde wieder eine Neuerung im Weingesetz beschlossen, mit der die Geschichtsbücher der Region ab jetzt anders geschrieben werden. Besonders von der neuen Weinmachergeneration.

Wenn man in unseren Breitengraden über Sherry spricht, heißt es meist: Das ist der aufgespritete, also mit Weingeist versetzte, Wein aus Andalusien, der unter der Florhefe im Fass oder oxidativ reift. Fragt man Juan Luis Fernández, Koch und Besitzer des Sternerestaurants Lú Cocina y Alma sowie der Bina Bar in Jerez de la Frontera, sagt er: „Jerez ist Magie. Die Weine sind sehr komplex, voller Zuneigung für den Weinbau sowie für die Region und: Sie sind großzügig. Jeder, der heute diesen Wein produziert, weiß, dass er das Ergebnis nicht mehr kosten wird. Er macht es für die kommende Generation.“

Die Großen sind bescheiden
„Schon für sich allein glänzt Sherry, er küsst den Gaumen“, sagt der andalusische Koch. Noch lieber aber sieht er die 250 offenen Positionen in seinem Restaurant mit Essen vermählt. Beispielsweise mit Schwertmuschel in Grenoble-Sauce oder gebratener Taubenbrust in Salbeibutter oder Innereien-Terrine. 250 Sherrys sind es bisher, die Juanlu, die ehemalige rechte Hand von Dreisternekoch Ángel León aus dem Dreisterne­restaurant Aponiente, offen anbietet. 500 dürften es wohl werden, meint er. „Wir möchten unsere ­Region und unseren Wein ganzheitlich abbilden“, sagt er. Und die ­Weintradition im ­Gebiet reicht bis vor Christi Geburt.

Viele Bodegas bestehen heute nur noch aus einem einzelnen Fass, das in einem anderen Weingut liegt. Aber sie bestehen weiter. Denn Sherry überdauert Jahrzehnte, braucht Zeit, um zu dem Wein zu werden, der er ist; braucht das Solera-System, bei dem Fässer aus verschiedenen Jahrgängen sich gegenseitig nähren. Zum Teil sogar mehr als hundert Jahre lang, wie es der 120 Jahre alte Palo Cortado zeigt, den Juanlu in seinem Restaurant ausschenkt.

Von Hochmut und Fall
Angeblich hat schon Christoph Columbus auf die Entdeckung Amerikas mit einem Sherry angestoßen. Wasserdicht überliefert ist das nicht. Sicher ist, dass Sherry insbesondere in englischen Adelskreisen ab dem 15. Jahrhundert hoch im Kurs stand. Der ­Pirat, der mit dem Kapern eines mit Sherry beladenen Schiffs die Tradition des Getränks in England mitbegründete, wurde als Dank für seine tollen Diebstähle sogar zum Ritter geschlagen. Das war Sir Francis Drake. Weitere Jünger der „drops of heaven“, der vom Himmel gesandten Tropfen, waren mehr oder weniger glücklich verliebte Dichter von Shakespeare bis Hemingway.

Der Hype um den Wein aus dem Süden führte dazu, dass Sherry in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts nahezu überall war. Masse statt Klasse war bald das Credo in den Bodegas im Süden Spaniens. Das Ende dieser Geschichte findet sich auch heute noch in der untersten Reihe des Weinregals im Supermarkt. Aufgesüßter Sherry, zum Kochen. Auch der kommt aus dem Gebiet, hat aber mit den Tropfen aus dem Himmel wenig am Hut.

Von den damals 30.000 Hektar ist das Anbaugebiet auf heute knapp 10.000 Hektar geschrumpft. Die Reben wachsen vorwiegend auf den kalkreichen, zum Teil kreideweißen Albariza-Böden. Von denen nicht nur ein Typus existiert, sondern Dutzende verschiedene. Macharnudo Alto, Miraflores und Bilbaína sind Lagen, die auf ihre Berechtigung pochen, auf dem Etikett angeführt zu werden. Weil große Weine die Landschaft, aus der sie stammen, den Jahrgang und die Handschrift des Winzers in sich zu tragen pflegen. Und richtiger Sherry ist groß. In der traditionellen Art, Sherry zu produzieren, sind Lagenangaben nicht vorgesehen. Vorwiegend die Entscheidungen, die im Keller ­getroffen werden – wann versetze ich mit Weingeist, wie hoch setze ich den Alkohol an, wie lange lagere ich, wie oft pumpe ich innerhalb der Solera um –, bestimmen den Stil des Sherrys.

Die Herkunft im Wein
Zumindest war das die letzten 50 Jahre so. „Davor wurden nur minderwertige Qualitäten mit Weingeist versetzt“, sagt Ramiro Ibáñez. Der junge Winzer betreibt sein Weingut Cota45 seit zehn Jahren. Ein Wimpernschlag an Zeit in Jerez. Das Weingut liegt in Sanlúcar de Barrameda, einem der Hauptorte im Sherry-Dreieck, wie man das Gebiet zwischen Jerez, Puerto de Santa María und Sanlúcar zu nennen pflegt. Ramiro Ibáñez versetzt seine Weine nicht mit Weingeist. Es ist nicht notwendig. So zeigen sie ihre Herkunft besser. Daher sind terroirbewusste Winzer auch mit dem Begriff Sherry nicht glücklich. Das Wort ist negativ besetzt, steht für eine Weinmarke, die an die süßen (die meisten hochwertigen Sherrys sind knochentrocken) Weinverschnitte erinnert, die mit den Topweinen aus dem Gebiet nichts zu schaffen haben.

Noch dürfen Weingüter Trauben aus den Teilregionen in Jerez mischen. Damit sind Winzer wie Ibáñez oder Willi Pérez ebenso wenig einverstanden. Immerhin: Seit wenigen Wochen darf auch aus anderen traditionellen weißen Rebsorten im Gebiet, abgesehen von Palomino Fino, wieder Sherry produziert werden. „Vor der Reblaus gab es in Jerez 48 verschiedene Weißweinsorten. Heute ist der Großteil mit Palomino bestockt“, erklärt Ibáñez.

Aus eins mach fünf
Wobei schon Palomino Fino, eine einzige Rebsorte, einen derartig breiten Fächer an Weinstilen hervorbringt, wie es kaum eine Region vermag: vom blassgelben, erdigen, mandelduftigen Fino über den mineralisch-salzigen Manzanilla, trockenfruchtigen, hefigen Amontillado, nussige Olorosos, das Zwischenstück aus Amontillado und Oloroso, den Palo Cortado bis hin zum schwarzen Pedro Ximénez. Dieser zeigt auch im Aroma, dass er aus an der andalusischen Sonne getrockneten Trauben gekeltert ist.

Pilar Garcia von der Bodega Valdespino, die mit einer Geschichte, die bis ins Jahr 1430 zurückreicht, als eines der ältesten Weingüter der Region gilt, sagt: „Es ist schwer, unsere Weine verständlich zu machen. Die Bandbreite ist enorm. Besser läuft es, wenn unseren Weinen Essen zur Seite steht, das zeigt, wozu Palomino fähig ist.“ Auch Jesús Barquín ist der Meinung: Jerez braucht jemanden, einen Kenner der Weine, der einen Neuling heranführt. Ihm zeigt, wie man sich diesem großen unbekannten, aber unendlich komplexen Wein nähert. Ablegen sollte man die Idee, die Weine und die Region gleich nach dem ersten Besuch zu verstehen, am besten schon zu Hause, so Barquín. „Das Schöne ist kompliziert.“ Barquín begann im Jahr 2005 mit Geschäftspartner und Kellermeister Eduardo Ojeda, Fässer aus aufgelassenen Bodegas aufzu­kaufen und als Einzelfass-Flaschen zu verkaufen. Auch die Idee der ungespriteten Weine liegt Barquín am Herzen, solche finden sich in ihrem Sortiment. „Sherry ist eine Herkunft, keine Marke.“ Ramiro Ibáñez sagt wiederum, dass nicht aufgespritete Weine aus Jerez keine moderne Idee sind, sondern immer schon da waren. Eben vor 1950, bevor Sherry an seinem eigenen Erfolg zu scheitern begann.

Klein, aber sehr fein
Doch auch wenn die Stilistik in Jerez sich den heute gefragten, herkunftsbetonten, im Alkohol leichteren Weinen zum Teil anpasst, „international hat Sherry stark an Bedeutung verloren“, sagt Frank Smulders, Master of Wine. „Die Niederlande haben eine mehr als 500 Jahre alte Geschichte mit den Weinen aus der Region. Und nicht einmal bei uns ist Sherry heutzutage noch leicht erhältlich.“ Auch wenn spezielle Weine wie die von Cota45, also die von Ramiro Ibáñez, in allen guten Restaurants weltweit erhältlich seien, so der Master of Wine. Dazu passt auch die Rechnung von Ibáñez, der meint, dass mehr als 85 Prozent seiner Weine im Export landen.

Sherry hat sich zum hochgeschätzten Nischenprodukt für Weinliebhaber, die das Besondere lieben, entwickelt. Das gilt sowohl für unaufgespritete Weine als auch für traditionelle, elegante Vertreter wie die Tropfen von El Maestro Sierra, wo der höchste Anspruch der Kellermeisterin Ana Cabes­trero der ist, „dass die Weine, die ich mache, genau so schmecken wie die meiner Vorgänger“. Weiße Blüten, Bittermandeln und getrocknete Früchte, Nüsse, Salz, nasser Stein und Hefezopf sind wohl dabei bei den Weinen, die erahnen lassen, wie Geschichte oder Liebe schmecken könnte. Aber eben nicht nur.

Große Weine tragen ihre Herkunft in sich. Beim Kosten können wir uns vorstellen, ob das Meer oder ein anderes großes Gewässer in der Nähe ist. Ob es heiß ist und oft die Sonne scheint sowie ob es der Rebe dort, wo sie steht, gefällt. Und wie der Winzer mit den Trauben, aber auch dem Most und Wein im Keller umgeht. Die Weine aus dem Marco de Jerez transportieren darüber hinaus ihre besondere Geschichte im Glas. Jerez lässt das Feuer und die harten Kämpfe bei der Schlacht von Trafalgar 1805 erahnen, wenn einem ein einziger Tropfen eines Weins aus demselben Jahr den Gaumen füllt: eine unglaubliche Wucht an Umami und Jod, die ewig anhält. Jerez ist ein emotionaler Wein, weil ihn Generationen für andere Generationen keltern, eine ganze Region durch ihren Wein wirtschaftlichen Aufstieg und Fall erlebte und diese Melancholie in den Weinen irgendwie mitschwingt. Und das bei all der Frische und Unbeschwertheit, die die oft schon mehrere Jahrzehnte gereiften Weine beim Öffnen offenbaren. —

Adressen

Bodegas

El Maestro Sierra
Traditionelle Bodega im Zentrum von Jerez, seit 1830. Nach dem frühen Tod ihres Mannes übernahm Pilar Plá Pechovierto 1976 die Führung des Familienunternehmens. Heute führt ihre Tochter, Maria del Carmen Borrego Plá, mit Kellermeisterin Ana ­Cabes­trero die Bodega. Feine Sherrys von besonderer Eleganz.
Pl. Silos, 5, 11403 Jerez de la Frontera, Cádiz
T +34/956/34 24 33
maestrosierra.com

Valdespino
Die Geschichte der Bodega reicht zurück bis ins Jahr 1430. Seit 1999 Teil der Gruppe Emilio Estevez. In Besitz einer Sherryhalle, in der man den Horizont vor Fässern kaum sieht.
José Estévez, S.A., Carretera Nacional IV Km 640, 11408 Jerez de la Frontera, Cádiz
T +34/956/32 10 04
grupoestevez.es

González Byass
Geburtsstätte des berühmten Tío Pepe Finos, dessen Leuchtreklame seit Jahrzehnten die Puerta del Sol in Madrid prägt. Traditionelles, großes Haus mit uralten Beständen. Besonders feine Linie: Tío Pepe Finos Palmas. Vier Weine zeigen die Evolution vom Fino zum knapp jahrzehntealten Amontillado.
C. Manuel María González, 12, 11403 Jerez de la Frontera, Cádiz
gonzalezbyass.com

Equipo Navazos
2005 beginnen Jesús Barquín und Eduardo Ojeda Fässer von aufgelassenen Bodegas zu kaufen und speisen diese in bestehende Solera-Systeme ein. Zum Teil sind die Sherrys als Single-Cask-Abfüllung erhältlich.
equiponavazos.com

Cota 45
Seit zehn Jahren keltert Ramiro Ibáñez ­un­aufgespritete Weine im Sherry-Gebiet. So war es laut dem Önologen im 19. Jahrhundert üblich. Es wurde auch nicht bloß eine ­Rebsorte, Palomino Fino, sondern es wurden mehrere Dutzend angebaut. Auch dieses Erbe findet sich in den Weinen von Cota 45.
Av. Bajo de Guía, 68, 11540 Sanlúcar de ­Barrameda, Cádiz

Restaurants

Lú Cocina y Alma
250 offene Sherrys, gepaart mit Juan Luis Fernández’ Michelin-besternter Meeresküche. Großes Wein-Speisen-Kino. Calle Zaragoza, 2, 11402 Jerez de la Frontera, Cádiz
T +34/695/40 84 81
lucocinayalma.com

La Carboná
Javier Muñoz, auch als Sherry-Chef bekannt, kredenzt Jerez und Meeresspeisen in einer aufgelassenen Bodega.
C. San Francisco de Paula, 2, 11401 Jerez de la Frontera, Cádiz
T +34/956/34 74 75
lacarbona.com

Casa Bigote
Klassiker in Sanlúcar de Barrameda. Meeresküche und gemütliches Ambiente seit 1951. Ein Muss.
Av. Bajo de Guía, 10, 11540 Sanlúcar de ­Barrameda, Cádiz
T +34/956/36 26 96
restaurantecasabigote.com

Casa Balbino
Typische Taverne in Sanlúcar de Barrameda. Keine Reservierungen, meistens sehr voll, dennoch haben dank der hohen Frequenz noch die meisten einen Platz bekommen.
Pl. del Cabildo, 14, 11540 Sanlúcar de ­Barrameda, Cádiz
T +34/956/36 05 13
casabalbino.em

Tabanco las Banderillas
Charmante Bar mit traditionellen Tapas und feiner Weinauswahl im Zentrum von Jerez.
C. Caballeros, 12, 11403 Jerez de la Frontera
T +34/619/00 69 88

Aponiente
11500 El Puerto de Santa María, Cádiz
T +34/956/85 18 70
aponiente.com

Die Florhefe auf den biologisch reifenden Sherrys bringt ein besonderes Aroma mit sich.
© Estanis Nuñez
Bodegas Barbadillo zählt zu den Topproduzenten in Sanlucár de Barrameda.
© www.coimagen.es
Jesús Barquín und Eduardo Ojeda sind das mittlerweile berühmte Equipo Navazos. Sie erhalten den Geist aufgelassener Bodegas, indem sie Fässer aus dem Altbestand aufkaufen
© Consejo Regulador
González Byass zählt mit seinem Fino Tío Pepe zu den ­ältesten und bedeutendsten Vertretern des Sherry-Gebiets.
© Gonzalez Byass
Javier Muñoz wird auch der Sherry-Chef genannt. Seine Kombinationen aus andalusischer Küche und den Weinen aus Jerez kredenzt er in einer ehemaligen Bodega.
© La Carboná
© La Carboná
Das kulinarische Aushängeschild der Region, Ángel León, kombiniert in seinem Dreisternerestaurant ­Aponiente eigens abgefüllte Sherrys der renommierten Bodega Lustau mit fantastischer Meeresküche.
© Aponiente