Der Kapsel-Kaffee

Espresso aus Kapseln ist rasant im Vormarsch, kaum ein Anbieter kann es sich noch leisten, kein solches System anzubieten. Ist der perfekte Espresso somit gefunden?

Text von Florian Holzer Foto: Alexi Pelekanos
Die Zahlen sprechen eine Sprache, die an Deutlichkeit nichts vermissen lässt: Nespresso, das seit 1970 existierende Kaffee-Kapselsystem des Schweizer Nahrungsmittelgiganten Nestlé, wächst derzeit jedes Jahr um 30%, verdoppelte von 2006 auf 2008 seinen Umsatz auf 1,35 Milliarden Euro und ist damit der am schnellsten wachsende Zweig innerhalb des Nestlé-Konzerns. Kapselsysteme machen derzeit zwar erst an die 5% des gesamten Kaffeeumsatzes weltweit aus, wobei das nur auf den ersten Blick bescheiden wirkt – tatsächlich ist das eine nahezu unvorstellbar große Menge, nicht zuletzt deshalb, da Nespresso auf dem Kapselmarkt der absolute Marktführer ist: Jede Minute werden weltweit 8.000 Nespresso-Kapseln eingelegt – und die Prognosen sagen 12% Marktanteil im Jahr 2015 voraus. An die zwanzig verschiedene Espresso-Kapselsysteme sind derzeit auf dem österreichischen Markt erhältlich, wie groß konkret der Anteil von Nespresso ist, bleibt unklar, "marktdominierend" ist aber wohl der richtige Ausdruck, definitiv kann es sich heute jedenfalls keine bedeutende Rösterei mehr leisten, kein Kapselsystem im Angebot zu haben.
Werden wir also bald nur mehr kleine Alu- oder Kunststoffpatronen in futuristische Geräte werfen, auf einen blinkenden Knopf drücken und sodann "perfekte Crema" trinken? Wird der Espresso, wie wir ihn in den vergangenen zwanzig Jahren zu schätzen, suchen und verehren lernten, dieses komplizierte und fast niemals perfekte Konglomerat aus korrekter Mahlung, Maschineneinstellung und manueller Fertigkeit von der Bildfläche verschwinden?
Ja, sagt Gerhard Jericha, Besitzer des Fachgeschäfts "Taste it" in der Wiener Wollzeile und Österreichs Kompetenzzentrum in Sachen Siebträgermaschinen. "Echter" Espresso werde sehr bald eine kaum mehr wahrnehmbare Insider-Angelegenheit sein, meint er, etwas für Menschen, denen die Zubereitung von Speisen und das Arbeiten mit Aromen wichtig sind, die die Zeit und die Mühe gerne aufbringen, eine professionelle oder semiprofessionelle Siebträgermaschine zu warten und zu hegen, und die auch bereit sind, für so ein Gerät 2.500 Euro und mehr zu bezahlen (er führt freilich auch weitaus günstigere) – eine verschwindende Minderheit also.
Einen – wenn auch nicht geschäftlich, so doch moralisch – entscheidenden Sieg trug der Kapselkaffee zweifellos diesen Sommer davon, da präsentierte nämlich die Triestiner Kultrösterei Illy, seit jeher Hohepriesterin der Siebträger-Systematik, ihr neues Kapselsystem "Iperespresso". Es ist ein schlaues System, keine Frage, fünf weltweite Patente sind damit verbunden, es lässt den Espresso in einer stabilen Kunststoffkapsel zuerst vorquellen und erst nach zwei Sekunden extrahieren, das sorgt für bessere Aromaausbeute, die Mechanik der – vom Armaturenbrett des alten Fiat 500 inspirierten – Maschine kommt niemals mit Kaffee in Berührung und muss somit nicht gereinigt werden, ranziger oder unsauberer Geschmack durch Kaffeereste fällt weg. Alles sauber, alles wunderbar. Der Duftschwall, der einen beim Öffnen einer Aludose der E.S.E.-Cialde – ein vor vielen Jahren von Illy ins Leben gerufenes Convenience-System, bei dem die sieben Gramm Espressopulver zu Tabletten zwischen Filterpapier gepresst werden, das eine saubere Espresso-Zubereitung ermöglicht und das gewissermaßen zwischen Kapselsystemen und frisch gemahlenem Kaffeepulver liegt – entgegenströmt, fällt damit aber halt auch weg.
Wobei Sinnlichkeit, wenn man der Aussendung von Nespresso-Österreich-Chef Thomas Reuter Glauben schenkt, ohnehin weniger entscheidend ist als "Convenience": Die Bequemlichkeit, eine Kapsel aus einer übers Internet zu bestellenden Box zu entnehmen, in die formschöne Maschine zu legen und auf Knopfdruck standardisierten Kaffee zu erhalten, ist einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren von Nespresso. Wirklich zum Renner wurde das bis dahin hauptsächlich in Kaffeeautomaten eingesetzte System freilich erst mit der Entwicklung der gestylten kleinen "Concept-Maschine" im Jahr 2001, der erfolgreichen Vermittlung der Message, dass Espresso-Crema sexy ist und vor allem mit der grenzgenialen Werbe-Kampagne mit George Clooney ab dem Jahr 2006. "C & C", Crema & Clooney, das sind die beiden wesentlichen Säulen, auf denen die Espressorevolution des Schweizer Konzerns fußt.
100.000 bis 120.00 Espressomaschinen verkauft Nespresso derzeit jährlich in Österreich, schätzt die Konkurrenz, Illy peilt eine seiner Marktpräsenz entsprechende Verkaufsmenge von fünf bis sechs Prozent des Gesamtmarktes an; die Schweizer Kaffeefirma Delica entwickelte das der Nachhaltigkeit verpflichtete System "Cremesso", das im Gegensatz zu anderen Kapselkaffees nicht über den Elektrohandel, sondern bei Interspar angeboten wird; der italienische Kaffee-Marktführer Lavazza schuf gemeinsam mit Saeco ein Kapselsystem namens "A Modo Mio", der deutsch-internationale Kaffeekonzern Kraft-Jacobs-Suchard bietet ein System namens "Tassimo" (das mittels Bar-Code erkennen kann, ob gerade eine "Disc" mit Inhalt Tee, Kakao, Café Hag oder Jacobs eingelegt wurde und steuert Wassermenge, Temperatur und Brühdauer entsprechend), auch Österreichs Marktführer in Sachen Kaffee, Julius Meinl, hat schon eine Kapselmaschine und entsprechende Munition im Sortiment.
Es sei – neben den klassischen Kaffeemärkten, dem Gastromarkt (Bohnen), dem Heimmarkt (Bohnen & Pulver) und dem Automatenmarkt – ein neuer, vierter Markt, meint Walter Mayer, Vertriebschef von Illy in Österreich, der hauptsächlich zulasten der Vollautomaten und der guten, alten Filterkaffeemaschinen gehe. Junge, trendbewusste Menschen, so sagt er, würden heute einfach keinen Häferlkaffee mehr trinken wollen, "convenient Espresso" lautet die Devise. Und wenn diese jungen, trendbewussten Menschen dann ein bisschen älter geworden sind, dann kämen sie durchaus zu ihm, lacht Siebträgermaschinenspezialist Gerhard Jericha: "Die, die am Anfang Nespresso-Maschinen kauften, weil sie anders und cool sein wollten, kommen jetzt, wo schon jeder eine Nespresso-Maschine zu Hause stehen hat, wieder zu uns."
Und den "Cocooning"-Trend glauben übrigens alle für sich nützen zu können, Nespresso-Chef Thomas Reuter sieht in ihm die große Chance für das erfolgreiche Kapselsegment, Gerhard Jericha sieht im Umstand, dass die Leute ihre Zeit mit Freunden zu Hause verbringen und sich hier Gutes tun wollen, den besonderen Vorteil für sich. Sie haben wahrscheinlich beide recht, es gibt ja immerhin sowohl Fans von George Clooney als auch Fans von Tom Waits.