Der Millionencoup

Diebe ziehen durch Europa und plündern wertvolle Weinkeller. Nur die wirklich guten Sachen und mit krimineller Energie, wie sie in diesem Sektor bisher nicht bekannt war.

Text von Florian Holzer Illustration von Katjana Lacatena

Zuerst willst es nicht wahrhaben“, sagt Markus Mraz. Er sei vergangenen Juni an einem Samstag in seinen Weinkeller gegangen, erzählt er, und habe sich über die Unordnung geärgert. „Wie schaut’s denn da aus?“, wunderte er sich. Dann sah er das Loch in der Wand. Ein kreisrundes Loch in einer tragenden Wand, vom Keller des Nachbarhauses aus aufgebrochen, offenbar extrem vorsichtig gearbeitet, keine Splitter, kein Bruch, „weil jede zerbrochene Flasche hätte ja ein Le Pin sein können“.

Die Einbrecher wussten jedenfalls genau, was sie wollten: Le Pin, Pétrus und die Romanée-Contis, die schon Markus Mraz’ Vater zu sammeln begonnen hatte, „eine schöne Wand voll mit wertvollen Weinen“. Die Coche-Durys hätten sie stehen gelassen, so Mraz, „nur fünf der gestohlenen Flaschen kann man als ,Fehlschläge‘ bezeichnen“. Der von der Versicherung geschickte Betreuer glaubte zuerst natürlich an einen Versicherungsbetrug, irgendein Lokal im 20. Bezirk, Weine angeblich um zigtausend Euro, na sicher … Der Agent stellte allerdings selbst recht schnell fest, erinnert sich Mraz, dass er da an seine persönlichen Kompetenz-Grenzen stieß. Die Versicherung ­engagierte eine externe Agentur für Sachverständige, die sich wiederum an jemanden wandte, der weder Händler noch Som­melier und auch sonst mit keinen Individual-Interessen behaftet sein sollte. Die Wahl fiel auf Christina Fieber, Wein-Journalistin unter ­anderem bei A la Carte, die anhand der von Markus Mraz aufgelisteten Weine den aktuellen Wiederbeschaffungswert bei seriösen Quellen recherchierte.

Schadenssumme: 145.000 Euro. Und das war offenbar nur der Beginn eines präzise geplanten Raubzugs: Wenige Tage später wurde in Graz der Weinkeller eines als Sammler alter, hochwertiger Weine bekannten Rechtsanwalts aufgebrochen. Auch hier wurden ausschließlich hochrangige Bordeaux und Romanée-Contis geraubt, allerdings mit geringerem technischen Aufwand. Eine Woche nach dem Einbruch bei Mraz & Sohn war der Weinkeller des Burg Hotel Oberlech Ziel der – höchstwahrscheinlich identen – Täter. Die Besitzerfamilie Lucian wollte sich zu dem Einbruch nicht äußern, Presseberichte sprechen von 150 Flaschen von Ornellaia und der Domaine de la Romanée-Conti. Die Zugangstüren zum Weinkeller wurden aufgebrochen, heißt es. ­Videoaufzeichnungen zeigen angeblich maskierte, bewaffnete Männer.

Anfang Juli 2019 setzten die Täter ihren Weg dann nach Westen fort. Am 2. Juli wurde der Weinkeller des Zweisternerestaurants von René Rostang in Paris ausgeraubt. Laut Presseberichten wurden zwischen 150 und 200 Flaschen Wein gestohlen, Vintage-Champagner, Pétrus und Romanée-Conti mit einem Wiederverkaufswert von 400.000 bis 600.000 Euro. Wieder durch ein Loch in der Kellerwand entwendet.

War’s das dann? Nein, denn Ende Jänner 2020 starteten die Kellerknacker ihre Aktivitäten erneut. Am 29. Jänner wurde der Keller des Gourmetrestaurants Schwarzer Adler des Winzers und Präsidenten des Deutschen Fußball-Bunds Fritz Keller (übrigens nicht zum ersten Mal) ausgeraubt, 100 Flaschen mit einem Wert von 100.000 Euro. Am 17. Februar stahlen unbekannte Täter 120 Flaschen mit einem geschätzten Wert von 225.000 Euro aus dem Keller des 270 Kilometer entfernten Restaurants L’Ermitage in Vufflens-le-Château am Genfersee, darunter zwei ­absolut rare Flaschen La Romanée-Conti, von denen eine derzeit mit 23.000 Euro gelistet wird. Eine ­Woche später brachen unbekannte Täter den Weinkeller des Restaurants Formel B in Kopenhagen auf, indem sie von einem benachbarten Wein­keller aus ein Loch in die Trennwand stemmten. 50 bis 60 wertvolle Flaschen wurden entwendet, darunter ein 2014 Romanée-Saint-Vivant der Domaine Leroy und ein 2014 Romanée-Conti von der Domaine de la Romanée-Conti. Schadenssumme: über eine Million dänische Kronen, umgerechnet also mehr als 134.000 Euro.

Wer macht so etwas und warum? Wer ist bereit, dermaßen viel Planung, Vorbereitung, Logistik, Risiko und nicht zuletzt kriminelle Energie aufzubringen, um sehr viele Flaschen der Domaine Romanée-Conti einzusammeln? Die man – anders als Topweine aus dem Bordelais – kaum mehr wieder auf den Markt bringen kann, denn die Flaschen sind nicht nur durchnummeriert, sondern ihre Wege werden – nachdem in den vergangenen Jahren immer wieder Fälschungsversuche unternommen worden waren – von der Domaine kontrolliert und rigoros beobachtet.
Zufallstreffer irgendwelcher unbedarfter Einbrecher sind definitiv auszuschließen, zu selektiv die Auswahl, zu informiert scheinen die Täter sowohl über den Wert einzelner Flaschen und Jahrgänge als auch über die exakte Lager-Position innerhalb der teilweise äußerst großen Weinkeller. Wahrscheinlich ebenfalls auszuschließen ist ein krimineller Sommelier als Täter. Die genaue Kenntnis sowohl der lohnenden Jahrgänge als auch der genauen Unterbringung legt zwar Insiderwissen nahe, das kann man sich mit etwas Training aber bald aneignen. Etiketten zu lesen ist immerhin keine Blindverkostung. Auch denkbar wäre der zielgenaue Griff zu den wertvollen Flaschen mit Hilfe technischer Unterstützungen durch GoPro-Liveübertragungen oder Ähnlichem. Wahrscheinlich reichten aber einfach gute Vorbereitungen und das Nutzen der Informationen, die im Rahmen von „offiziellen“ Kellerbesuchen zu bekommen sind.

Bleiben noch zwei andere Tätertypen: der schrullige Sammler mit gutem finanziellen Hintergrund als Auftraggeber, der bei den berüchtigt ­limitierten Zuteilungen der Domaine irgendwie nicht so zum Zuge kam, wie er sich das vielleicht gewünscht hätte, beziehungsweise mit „unkonventionellen Beschaffungsmethoden“ an Weine kommen will, die schlichtweg nicht oder nicht mehr am Markt sind. Unglaublich, aber wenn man sich überlegt, dass Sammelleidenschaft ab einem gewissen Grad pathologische Züge hat und zur Sucht werden kann, nicht ganz von der Hand zu weisen. Als die wahrscheinlichste Tätervariante erscheint derzeit allerdings ein Auftraggeber aus dem Bereich des organisierten Verbrechens oder jemand, der Gesetze für sich und sein Handeln nur bedingt als geltend erachtet und außerdem äußerst großen Wert auf ­Repräsentation und Prestigeobjekte legt, also konkret das Modell „Oligarch“.

„Das geht auf ein Schiff von einem Russen oder nach Shanghai“, vermutet Journalistin und Gutachterin Christina Fieber, „da gibt’s genügend Leute, die das unter der Hand kaufen, das bringst du sofort unter.“ Auch Hubert Fohringer, Weinhändler in Spitz in der Wachau, der seit Jahrzehnten ­unter anderem im Altweinhandel tätig ist, meint: „Das kauft dir trotz der Nummern sofort einer ab, diese Sachen sind – nicht zuletzt am grauen Markt – absolut verkäuflich. Sie werden aber wahrscheinlich auch wieder auftauchen.“ Von Seiten des Hauses Morandell, Generalimporteur der Domaine de la Romanée-Conti, schätzt man die Chance, dass die gestohlenen DRC-Weine je wieder ans Tageslicht kommen, mit 50:50 ein. „Aufgrund der Nummerierung jeder einzelnen Flasche kann jedenfalls der Importeur und damit weitestgehend der Werdegang jeder Flasche nachvollzogen werden.“ Dass sie für immer in einem Privatkeller verschwinden, schließt man aber natürlich auch nicht aus.

Der genaue Ermittlungsstand ist dürftig, und das hat seine Gründe: Weindiebstahl ist für Kriminalisten offenbar eine absolut exotische Nische, für die es weder Spezialisten noch besondere Aufmerksamkeit gibt, wie eine Nachfrage bei der Wiener Polizei ergab. Silvia Kahn, Pressesprecherin des Bundeskriminalamtes im Innenministerium, sieht das Problem darin, dass bei den Ermittlungen zu den Kellereinbrüchen europaweit lokale Behörden zum Einsatz kommen, und auch wenn zentral ermittelt werde, wie in Österreich der Fall, oft der europäische Überblick fehle. So könne es sein, erklärt Frau Kahn, dass die Täter aufgrund zeitlicher und geografischer Verteilung ihrer Coups mehr oder weniger unter dem Radar der Ermittler blieben, nicht zuletzt, weil sich die Modi Operandi von Fall zu Fall unterscheiden würden. Als Laie könnte man meinen, dass „Loch in der Wand + hoher Planungsgrad + extrem selektive Auswahl geraubter Weine + Romanée-Conti“ genügend Überschneidungen darstellen würden, um interna­tional aktiv zu werden. Was das BKA aufgrund der A la Carte-Recherche, der Auflistung sowohl nationaler als auch internationaler Fälle und der Dokumentation der anzunehmenden Schadenswerte übrigens auch gemacht hat, es wurde nun eine Europol-Angelegenheit daraus.

Schließlich waren die Einbrüche bei Mraz & Sohn in Wien und im Burg Hotel Oberlech am Arlberg ja nicht die ersten derartigen Fälle in Österreich. Und auch nicht die mit der höchsten Schadenssumme.

Denn schon am 14. Februar 2016 wurde die Weinhandlung der Domaine Müller in der Wiener Riemergasse ausgeraubt. Die Beute waren Vintage-Spirituosen der Jahrgänge 1898 bis 1965 „und von Bordeaux alles, was Rang und Namen hat“, erinnert sich Yves Michel Müller. „Deuxièmes und Troisièmes haben sie gar nicht angerührt und von Mouton gezielt nur die großen Jahrgänge mitgenommen.“ Am 27. April 2017 wurde die Vinothek der Domaine Müller – trotz aufgerüsteten Alarmsystems – noch einmal ­Opfer eines sehr ähnlichen Einbruchs, diesmal hatten es die Verbrecher auf Topweine aus dem Bordelais und Prestige-Burgunder abgesehen. „Aber in Wien hatten es die Diebe leicht“, meint Yves Michel Müller, denn die Vinothek sei öffentlich zugänglich, also ­relativ problemlos auszukundschaften. Die Weine und Spirituosen liegen säuberlich und thematisch geordnet in den Regalen. Im Weinkeller der Domaine Müller in Groß St. Florian in der Weststeiermark sähe das ganz anders aus, dort müsse man sich wirklich auskennen. Was die Täter aber nicht davon abhielt, 2018 auch hier in die Lager einzudringen und Top-Bordeaux- und DRC-Weine zu rauben.

1,7 Millionen Euro betrug der Schaden bei diesen drei Einbrüchen, der Einbruch in das steirische Depot belastete die Familie Müller aber nicht nur finanziell (kaum ein namhafter Weinkeller ist ausreichend versichert), sondern auch psychisch: Die Familie wohnt über dem Weinkeller, und die Täter hatten im Vorfeld Zufahrtswege, Sichtwinkel und Beleuchtung offenbar sehr genau ausgekundschaftet, mit einer Teleskopstange die Lampen zerschlagen und den Golden Retriever von Yves Michel Müllers Mutter vergiftet, „und all das hat man ja nicht zufällig dabei“. Der Hund erholte sich nach einer raschen Antidot-Gabe zum Glück relativ schnell und half sogar dabei, dass der Einbruch ins Lager überhaupt rasch bemerkt werden konnte: Der Nachbar rief am folgenden Tag an und gab bekannt, dass der Hund bei ihm zu Hause sei, erst bei der Suche nach der Erklärung, wie das Tier das abgesperrte Grundstück verlassen konnte, entdeckte Müller das in den Zaun ­geschnittene Loch und in weiterer Folge die aufgebrochene Kellertüre.

Als Verbrechensopfer geht es einem nicht nur wegen des materiellen Verlusts nicht gut. Man sucht nach offensichtlichen Erklärungen und Zusammenhängen. „Ich hab mich nicht mehr wohlgefühlt“, erinnert sich Markus Mraz, „ich hab ­begonnen, meinen eigenen Leuten zu misstrauen.“ Yves Michel Müller ­berichtet Ähnliches, nicht zuletzt, weil so vieles an dem Einbruch unerklärlich war, etwa dass die Täter in dem riesigen Keller ein Sortiment von Romanée-Conti-Flaschen entdeckten, obwohl es in einen neutralen Versandkarton verpackt war. Gedacht waren diese Flaschen für einen Kunden aus Weißrussland, der sich an dem Lot sehr interessiert gezeigt hatte. Kurz darauf wurde übrigens ein anderer Kunde Müllers, ein steirischer Weinsammler, von einem anonymen Anbieter per Wertkartentelefon kontaktiert, der Flaschen wie die gestohlenen anzubieten versuchte. Der Sammler lehnte ab, informierte aber Müller und die Polizei. Ermittlungen ergaben, dass mit dem Wertkartentelefon auch nach Weißrussland telefoniert worden war.

Was natürlich nichts heißt. Alles, was sich nach dem Raub aus dem Müller-Keller in der Steiermark durch Zeugen und Spurensicherung sagen lässt, ist Folgendes: drei bis fünf Leute, ausge­stattet mit Rollwagen und einem wahrscheinlich weißen Lieferwagen. Und: „Sie fühlten sich sehr sicher.“ Beim zweiten Einbruch in der Müller-Vinothek in Wien ließen sie durchaus eine ge­wisse Dreistigkeit erkennen: „Dort haben sie sogar gejausnet, eine Chorizo und eine Flasche Perrier-Jouët Belle Epoque, auf der sie Fingerabdrücke hinterließen.“ Diese führten allerdings zu keinem Ergebnis.

Werden die Raubzüge weiter­gehen? Höchstwahrscheinlich schon, wie die Einbrüche der vergangenen Monate zeigen. Wird es noch etwas zu holen geben? Ziemlich sicher, denn bis zu dem Zeitpunkt, da man mit krimineller Energie und Fantasie in diesem Ausmaß konfrontiert wird, wiegt man sich für gewöhnlich in naiver Sicherheit. Außerdem gäbe es alleine in Wien zig private Wein­keller mit Werten in Millionenhöhe, über deren Alarmsicherung er sich lieber keine Gedanken machen wolle, so Weinhändler Hubert Fohringer. Ob nach Fälschungen und Betrug im Weinhandel nun auch noch der Faktor „heiße Ware“ eine Rolle spielen wird – man wird sehen.

Sein Keller in der Steiermark sei jetzt jedenfalls Fort Knox, so Yves Michel Müller. Und Markus Mraz kauft auch wieder Romanée-Conti-Weine, „wir haben wieder begonnen zu sammeln“. Und vielleicht taucht ja die eine oder andere Flasche wieder auf oder auch nur ein Foto davon – so etwas reicht heute oft schon.

Bei Redaktionsschluss tauchten übrigens die ersten Flaschen des Einbruchs im dänischen Restaurant Formel B wieder auf: Ein Stuttgarter Weinhändler hatte einige der Flaschen in Kommission für eine Privatperson, die sie angeblich wieder von jemandem ­Dritten erhielt, angeboten. Es besteht also berechtigte Hoffnung, dass die Täter über ihre eigene Gier beziehungsweise Dummheit stolpern und Drahtzieher oder Auftraggeber bald ermittelt werden können.