Die neue Wodka-Vielfalt

Sie lieben ihn nicht wirklich. Doch sie brauchen ihn: „Wodka pays the bills“, heißt es unter Barprofis über den geschmacksneutralen Getreidebrand. Jetzt erweitert Wodka aus Trauben, Mais oder Dinkel den Geschmacksradius – auch in Österreich.

Text Roland Graf Foto Oleg Krugliak/Alamy

Die Schlacht darf als verloren gelten. Der Schulterschluss, den die skandinavischen EU-Mitglieder und Polen in Brüssel anstrebten, nützte nichts. Die Spirituosenverordnung enthält immer noch den Unterpunkt, der Wodka aus „anderen land­wirtschaftlichen Rohstoffen“ erlaubt. Die Heimat­­länder von Weltmarken wie „Absolut“ (Schweden), „Finlandia“ (Finnland) oder „Belvedere“ (Polen) hatten das Nach­sehen. Sie hätten die Bezeichnung Wodka gerne Bränden aus Getreide oder Kartoffeln vorbehalten. Weizen, etwa die gern verwendete Sorte Mulan, oder Roggen, den etliche russische Marken nutzen, haben nämlich längst Konkurrenz bekommen, wenn es um das „Wässerchen“ geht, wie die Übersetzung von Wodka lautet.

Vieles davon sind Ausgangsstoffe, die man am ­Etikett nie finden wird. Alkohol aus Hefe etwa oder ­Melasse, die man eher mit Rum verbindet. Dass das dem Gesetzgeber bewusst sein dürfte, zeigt der Auszug aus der EU-Spirituosenverordnung (Nr. 110/2008) des ­Europäischen Parlaments, den man zweimal lesen muss und sich dabei stets vorsagen sollte, „es geht um Lebensmittel, es geht um Geschmack“. Wodka wird darin nämlich als „eine Spirituose aus Ethylalkohol landwirtschaftlichen Ursprungs“ definiert, „der durch Gärung mit Hefe gewonnen wird […] und so destilliert und/oder rektifiziert wird, dass die sensorischen Eigenschaften der verwendeten Ausgangsstoffe und die bei der Gärung entstandenen Nebenerzeugnisse selektiv abgeschwächt werden“. Vielleicht verdankt sich ja dieser Definition der Mythos, dass man Wodka – etwa bei Polizeikontrollen – nicht riechen könne.

Die Märchenwelt der Babuschka
In jedem Fall heißt der Euphemismus „selektiv abgeschwächt“ uns willkommen in der Welt der Wodka-Märchen. Denn die Filtration, die man immer wieder als Qualitätskriterium auf Etiketten anführt, sie muss also gar nicht sein. „Ich will den Getreidegeschmack reinbringen, nicht ihn rausfiltern“, schüttelt einer der jüngsten Wodka-Erzeuger Österreichs darüber den Kopf. Simon Vetter, der im Rheintal eigentlich eine viel beachtete und bei Vorarlbergs Spitzenköchen gut nachgefragte Gemüsegärtnerei betreibt, hat seine Version schließlich mit Dinkel gebrannt. Der Duft des Erstlingswerks, das der Lustenauer noch nachschärfen will ­(aktuell besitzt sein Vetterhof-Wodka die gesetzliche Mindestgradation von 37,5 %), erinnert an frische Früchte. Grüne Traube? Grüner Apfel? In jedem Fall ist es ein sanftes Destillat, das durch die öligere, weil nicht filtrierte Machart auch den Rachenraum angenehm auskleidet.

Das Partygirl unter den Spirituosen ist also scheinbar erwachsen geworden. Was früher bis in den Premiumbereich hinein als Qualitätsausweis galt, zählt plötzlich nicht mehr. Die Zahl der Filterdurchgänge, historisch durchaus relevant gegen Fuselöle und Unsauberkeiten, wurde gerne angeführt, um das „edle“ Aroma zu begründen. Allerdings bestand dieses im Extremfall aus praktisch neutralem, farblosem Alkohol. Das bewusste Zulassen eines Eigengeschmacks stellte dagegen ein ziemliches Novum dar. Aber eines, das sich abgesehen von Wodka-Gralshütern wie den Polen rasch weltweit durchgesetzt hat.

Steht auf der Bar etwa eine Flasche ,,Tito’s“, der seit dem Vorjahr von der Tiroler Weindynastie Morandell importiert wird, muss man genau hinschauen, um nicht an Tequila zu denken. Der helle Brand mit dem mexikanischen Namen stammt aus Texas, definitiv keiner Wodka-Hochburg. Dafür wurde er aus dem gleichen Grundstoff destilliert, der auch Bourbon sein Rückgrat gibt, nämlich Mais. Das amerikanische Brenngetreide ist eher für seine Süße bekannt. Auch das hat Platz in der neuen Wodka-Welt und immerhin ist „Tito’s“ durch die Getreidewahl der Texaner auch glutenfrei.

Die französische Revolution
Womit wir bei einem weiteren Wodka-Märchen wären: Denn jeder Wodka, auch ein 100%iges Weizendestillat, ist nämlich glutenfrei. „Gluten destilliert nicht mit“, erläutert François Thibault. Der sollte es wissen. Denn die Geschichte des von ihm aus der besten Weizenqualität der französischen Region Picardie (für Kenner: BPS oder blé panifiable supérieur) hergestellten Wodkas gehört zu den Heldensagen des Planeten Schnaps. 1997 begann der in Cognac als Maître de Chai, also Kellermeister, ausgebildete Thibault, im Auftrag eines legendären US-Amerikaners Wodka aus französischem Weizen zu destillieren. Sidney Frank, der Mann, dem „Jägermeister“ seine starke USA-Präsenz verdankt, glaubte an „Grey Goose“, wie die Marke getauft wurde. „Ich sagte ‚ja‘, aber hatte keine Ahnung, wie ich’s mache“, erinnert sich Thibault heute zurück.

Doch Mister Frank lag richtig – und machte nur sieben Jahre später das Geschäft seines Lebens, als er seine Marke um kolportierte zwei Milliarden US-Dollar an Bacardi verkaufte (der Vertrag zierte Augenzeugen zufolge bis zu seinem Tod 2006 die Bürowand). Die Charente – Grey Goose füllt seine in 161 Länder exportierten Wodkas nach wie vor in Gensac ab – erkor auch ein Landsmann François Thibaults zur Homebase. Hatte man französischen Wodka bereits akzeptiert, ging Jean-Sébastien Robicquets „Cîroc“ einen radikalen Schritt weiter. Er war es, der 2003 mit dem Label-Aufdruck „Distilled from fine French grapes“ eine Revolution einleitete.

Dinkelwodka hat den Segen
Ob es die gern kolportierte Überkapazität an Trauben für die Cognac-Produktion war, die den ehemaligen Manager von Hine auf die Idee brachte, ist heute unerheblich. Denn die Wahl eines Weinbrands als Basis war definitiv neu. Und eröffnete eine Fülle an neuen Ausgangsbränden. In Österreich folgte etwa 2010 der von Vanessa Gürtler kreierte Dinkelwodka „Wanessa“. Die Diplomarbeit über Hildegard von Bingen, einen erklärten Fan des alten Getreides, hatte den Anstoß zu dem vom steirischen Brenner Alois Gölles hergestellten Destillat gegeben. „Der Dinkel ist das beste Getreide“, heißt es bis heute auf der „Wanessa“-Webseite, „er ist warm und fett und kräftig, und er ist milder als andere Getreidearten, und er macht frohen Sinn und Freude im Gemüt des Menschen.“ Etwas weniger blumig als die Heilige werden Gölles und Gürtler, wenn es um Geschmacksfragen geht: „Die Kunst der Wodkaherstellung liegt nicht darin, diesen bis zur Geschmacksneutralität zu filtrieren. Sobald man beste Grundzutaten verwendet und nicht auf maximale Ausbeute, sondern maximale Qualität destilliert, ist es schlicht nicht mehr nötig, das Aroma zu entfernen.“

Mit dem teilweise aus der Not geborenen Auftritt des steirischen Dinkelbrands – Stichwort: Abfüllung in Marmeladegläser zu drei Zentilitern – schaffte es „Wodka Wanessa“ aus den Diskoclubs in die Hipsterbars. Denn wie sich der Traubenwodka „Cîroc“ vermarktet hatte, lief noch ganz „klassisch“. Party, Party, Party, vorzugsweise mit Blick auf das Meer, lautet die Devise. Hausabfüllungen für weltweit gehypte Locations wie den Club Ushuaia auf Ibiza gehörten ebenso zum Auftritt wie der Rapper Sean „Puff Daddy“ Combs als US-Werbegesicht des Wodkas.

Runden im Club, ratlos an der Bar
Die Logik dahinter kann man auch in der Dorfdisko beobachten und liegt in der Natur der Spirituose selbst: Im Gegensatz zu fassgereiften „dark spirits“ wie Rum, Whisky oder Cognac gibt es praktisch keinen „sipping wodka“, also eine Variante zum Pur-Genuss. Der neutrale Geschmack macht ihn abseits der Russen-Cliquen, die nach wie vor ihre „sto Gramm“ (also 100 Gramm) zu Kaviar und Blini kippen, zur Wirkungsspirituose schlechthin. Mit Ginger Ale wird ein „Moscow Mule“ daraus. Oder lieber mit Red Bull? Kein Problem! Mit Tonic? Geht auch! Und wer eine Nacht lang schon alles durch hat, greift zum Wodka Soda, einer Art Mineralwasser zum Betrunkenwerden.

Die gehobene Genusskultur hingegen hat in Europa, anders als in den USA, lange mit Wodka gefremdelt. Dirk Hany, Chef in der Züricher Widder Bar, muss lange nachdenken, bis er ein Rezept findet, in dem der Wodka auch als Spirituose durchkommt, wie es für gute Cocktails eigentlich Pflicht ist. Sein Mitarbeiter David Bandak hat eine Variante zum „Mule“ entwickelt. In der Senf eine wesentliche Rolle spielt (siehe Rezepte). Doch ansonsten zuckt der eloquente Bartender die Schultern, „Wodka muss eigentlich pur getrunken werden“. Zwar werden viele Gin-Rezepte, allen voran der Dry Martini, auch mit Wodka zubereitet, doch konservative Barleute servieren diese Variante immer als „Wodkatini“, um sie vom geheiligten Original zu unterscheiden.

Dabei gibt speziell die neue Geschmacksvielfalt auch dem Wodka die Chance auf ein Comeback im Shaker, auch wenn aktuell der Gin den Tresen zu beherrschen scheint. Falco Torini aus der Miranda in der Wiener Esterházygasse etwa kombiniert bewusst Traubenwodka mit Beerenauslese und Weißweinessig. Für den Barkeeper, der Österreich heuer beim Wettbewerb „World Class“ in Miami vertritt, stellt der Drink „ein kleine Erfrischung dar, während man das Dinner für die Gäste vorbereitet“. Die Spirituosenmenge von immerhin fünf Zentilitern wurde auf das größere Highball-Glas ausgelegt, somit kommt der Wodka noch gut durch, ohne den Drink sonderlich stark werden zu lassen. „Er spielt mit den Traubenaromen und unterstreicht diese“, so Torini. „Dementsprechend ist die Wahl des ‚Cîroc‘ im Vergleich zu einem Wodka aus einem anderen Grundstoff nur logisch.“ Drei Varianten desselben Grundstoffs gehen sich bei den Wodka-Platzhirschen Roggen oder Weizen hingegen schwerlich in einem Cocktail aus. Oder würden Sie einen „Cornflakes-Martini“ ordern?

Babicka (Mais & Wermut/CZ):
Mit dem alten Bitterkraut wird der mährische Maisbrand aromatisiert. www.babickavodka.com

Brokenshed (Molke/NZ):
„Milchhonig“ nennen die Produzenten ihren Wodka-Grundstoff, die gute alte Molke, auch. www.brokenshed.com

Cîroc (Trauben/FR):
Mit dem Partygetränk aus dem Cognac-Gebiet startete die Wodka-Vielfalt. www.ciroc.com

Fair (Quinoa/FR):
Aus den Anden kommt das Rohmaterial für diesen französischen Brand. www.fairspirits.com

Kabumm (Hafer & Weizen/AT):
Biobrenner Josef Farthofer macht ein „Wässerchen“ mit Rapper Sido und Nackthafer aus Eigenanbau. www.kabumm-vodka.de

Okuhida (Reis/JP):
Sake war Takagi Tomizou nicht genug – nun kommt aus der Takagishuzo-Brauerei in Gifu der 55%ige Reiswodka. www.tokuri.de/okuhida-vodka/

Rude (Trauben/DE):
Pfälzer Dornfelder Trauben werden in Düsseldorf zum Wodka-Brennen verwendet. www.rude-spirits.com

Tito’s (Mais/USA):
Milder Wodka, made in Texas. Mit einer angenehmen süßen Note vom „corn”. www.titosvodka.com

Axberg-Vodka (Mulan-Weizen/AT):
Ursprünglich nur für den US-Markt gedacht, gibt es den Wodka von Hans Reisetbauer nun auch in Europa. Auch für das Label „Loryt“ wird ein sechsfach destilliertes und zweifach gefiltertes Produkt hergestellt. www.reisetbauer.at

Vetterhof (Dinkel/AT):
Vier Comic-Etiketten gibt es zum Erstling des Lustenauer Gemüsebauern Simon Vetter. www.vetterhof.at

AuGust Mule
David Bandak, Widder Bar, Zürich
6 cl Absolut Elyx
1 cl Limettensaft
½ TL Ingwersenf
(ersatzweise: Feigensenf)
8 cl Spicy Ginger-Beer
Glas: Tonbecher (im Widder ­Hotel verwendet man den Senftopf aus der hauseigenen Charcuterie AuGust)
Garnitur: Limettenscheiben und Minzezweig
Zubereitung: Den Wodka, Limettensaft und Ingwersenf auf Eis kalt shaken und in einen Ton­becher abseihen. Eis und Ginger-Beer beigeben. Dekorieren und genießen.