Die neuen Alten

Will ein Wein heute interessant sein und Neugierde erwecken, sollte er tunlichst aus einer ultra-autochthonen Rebsorte gekeltert sein. Die außerdem uralt ist. Und von deren Namen wir bisher noch nie etwas gehört haben.


Text von Florian Holzer Foto: Mauritius Images/Alamy

Ein Leben lang lernen. Das gilt zwar bekanntermaßen für alle Bereiche des menschlichen Daseins, beim Wein schien man mit einem soliden Grundwissen aber zumindest mal einigermaßen auf der
sicheren Seite. Die Regionen, die Namen, die Häuser und Domaines, die Rebsorten, die Jahrgänge und immer wieder ein paar Newcomer. Das ging schon irgendwie. Bis jetzt. Und jetzt nicht mehr. Denn noch nie, so scheint es, tauchten so viele unendlich interessante Weine auf, bei deren Herkunftsregion man schon einmal ein bisschen nachblättern muss, deren Erzeuger einem im besten Fall bekannt vorkommen und deren Rebsorten man im höchstwahrscheinlichen Fall noch nie gehört hat.

Eine neue Generation von Winzern mit dringendem Bedürfnis zur Individualität und minimaler Bereitschaft, sich irgendwelchen Konventionen zu unterwerfen. „Natürliche“ Vinifikation im weitesten Sinne ist eine der wenigen Gemeinsamkeiten dieser Avantgarde, ebenso wie der Verzicht auf klassische Handelsstrukturen, die Vernetzung mit Händlern oder Kunden geschieht nicht selten über soziale Netzwerke. Insider-Wissen zählt wieder beim Wein. Neugierde ist ein Faktor. Grundwissen war gestern.

Die ersten, die das Gefüge gehörig ins Wanken brachten, waren die Karst-Winzer aus Kroatien, Slowenien und Italien, Zidarich, Roxanich, Kante, Skerk und Konsorten, die da auf einmal mit Weinen der Rebsorten Malvasia, der Prosecco-Grundweinsorte Glera und Teran auf sich aufmerksam machten, durchdringend tiefe Aromen, endlose Komplexität, mitunter burgundische Struktur und Mineralität wie ein Kalksteinbruch. Das, was sich dort seit geraumer Zeit aber immer mehr in den Vordergrund drängt, ist der Vitovska, eine Kreuzung aus Malvasia und Glera, die bisher immer nur als Verschnittwein gedient hatte, in den lokalen Heurigen „Osmize“ offen ausgeschenkt wurde und deren Schicksal es generell nicht war, in die Flasche gefüllt zu werden. Der unvergessliche Christoph Wagner verglich den Geruch der Weine dieser Rebsorte im Buch „Der Karst.Kras.Il Carso“ mit Kabelbrand und Keramikmanufaktur, die Information vermittelnd „dieser Wein wird trocken sein, sehr trocken, knochentrocken“.

Stimmt, der Vitovska darf fraglos zu den Rebsorten mit eher kantigem Charakter gezählt werden, aber genau diese Herausforderung brauchen die neuen, jungen Weinmacher ja. Wie etwa Matej Skerlj aus Sales, einem winzigen Nest an der slowenischen Grenze ein paar Kilometer nördlich von Triest. Seit zehn Jahren kümmert er sich um die gerade mal zwei Hektar der bis zu 80 Jahre alten Weingärten, davor wurde nur in der Buschenschank ausgeschenkt. 4.000 Flaschen gibt es pro Jahr, Malvasia, Teran, Vitovska, der Vitovska liegt zwei Jahre ohne Schwefel auf der Maische, flüssiges, herbes Urgesteinsmehl, trinkbare Härte, ein Wein, der einem ins Auge schaut. „Ich mache Wein eigentlich genauso wie mein Großvater“, sagt der junge Mann, was angesichts seines hübschen, modernen Fasskellers und der Tatsache, dass die Natural-Wine-Communities weltweit nach seinen raren Flaschen gieren, natürlich ein bisschen nach Understatement klingt.

Weinhändler Erich Wagner hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt nach solchen Weinen umgesehen, sucht sie gezielt. „Wir gehen da sicher den steinigen Weg, aber dafür macht es auch umso mehr Spaß.“
Die besten Jagdgründe für seine Raritäten, neu entdeckten und radikal vinifizierten alten Rebsorten sieht er derzeit in Südfrankreich, in Nordwest-Spanien, im Penedes, an der Loire, in den höher gelegenen Regionen Südtirols, im Norden des Piemont und in Süditalien, Istrien natürlich auch, „aber damit haben wir uns schon lange beschäftigt, da gibt’s schon sehr viel“. Fragt man Erich Wagner, wo denn auf einmal all diese Weine herkommen, was mit all den zum Teil uralten Weingärten bisher geschah, ist die Antwort ernüchternd: „Das war zumeist Bulk-Ware, Deckwein oder landete in irgendwelchen Tafelweinen, oft handelt es sich bei den Produzenten um winzige Betriebe, die bis vor kurzem noch an Genossenschaften lieferten.“ Oder aber die Weine wurden ganz einfach vor Ort von den Leuten getrunken und verließen kaum das Tal, in dem sie wuchsen. Der Petite Arvine ist so ein Beispiel, gerade einmal 150 Hektar wachsen da im Wallis auf hoch gelegenen Terrassen, die Vegetationsperiode dieser archaischen Rebsorte ist extrem lang, das Ergebnis ungefähr genauso, wie man es derzeit halt haben will – unendlich komplexe Frucht, unterlegt mit salziger Mineralität, ein Ausdruck absoluter physiologischer Reife, aromatische Kraft eines Süßweins ohne Restzucker.

Biodynamische Bewirtschaftung, Ausbau in Amphoren, weitgehender Verzicht auf Schwefel, kaum Malolaktik, das önologische Spektrum, das bei den meisten dieser Weine eingesetzt wird, ist ein weites, „nicht unbedingt irgendwie zertifiziert, sondern Hauptsache anders“, die Reaktion des Publikums äußerst unterschiedlich, weiß Erich Wagner: „Es gibt Leute, die werden bei solchen Weinen richtig aggressiv“, andererseits sieht er extreme Zustimmung bei sehr jungem Publikum, weil der lebensweltliche Background einfach stimmt, „das sind Leute, die einfach was anderes trinken wollen als die klassischen Weine“.

Mencia, zum Beispiel, die in Galicien und anderen Regionen Nordwest-Spaniens bisher hellrote Massenweine erbrachte, seit einigen Jahren – etwa von Alvario Palacios und Ricardo Pérez in ihrem Projekt „Descendientes de J. Palacios“ in Bierzo oder Dominio do Bibei in Ribeira Sacra – zu Weinen von fantastischer Balance und burgundischer Finesse gekeltert werden. Oder Manto Negro und Callet, zwei autochtone Rebsorten Mallorcas, die bisher primär zu Rosé verpresst wurden und nun – etwa bei Anima Negra – Weine von grandioser Distinktion ergeben; oder die mallorquinische Weißweinsorte Prensal blanc, mit Chardonnay cuvetiert ungefähr so schön und fordernd wie die Insel, auf der sie wächst; oder Grolleau, eine alte, vor allem an der Loire angebaute Rebsorte, die bisher ebenfalls primär als Basis für irgendwelche Rosés und Sektgrundweine diente, und seit einiger Zeit etwa von Anne-Claude Leflaive in ihrem kleinen biodynamischen Weingut Clau de Nell auf ihr wahres Potenzial geprüft wird – köstlich-elegante Konzentration von Frucht, Kräutern und Erde.
Man könnte durchaus sagen, dass die Weinwelt derzeit so vielfältig und interessant und individuell ist wie schon lange nicht mehr. Dank junger Ideen und alter Rebsorten.

Italien

Malvasia
Der Malvasia Istriana ist eine der zahlreichen Spielarten der uralten Rebsorte Malvasia, wurde vor etwa 15 Jahren in Istrien von der neuen Winzer-Avantgarde wiederentdeckt.

Vitovska
Eine Kreuzung zwischen Malvasia und der Prosecco-Traube Glera, ein wilder, kantiger Wein mit reichlich Säure und gerne einer Portion Gerbstoff.

Teran/Refosco
Uralte, friulanische Rotwein-Sorte, die im Karst ihre wohl eindrucksvollsten Ergebnisse liefert, tief, komplex, und – je nach Ausbau – mit mineralischer Feinheit.

Schweiz

Petit Arvine
Uralte weiße Rebsorte, die heute noch in extrem geringem Umfang in höchsten Wein-Lagen im Schweizer Wallis und im Aosta-Tal existiert. Ihre extrem lange Reifedauer, ihr komplexes Fruchtspiel und die salzige Note machen sie derzeit zu einem der Lieblings-Weine von Sommeliers.

Spanien

Mencia
Diese hauptsächlich in Nordspanien vorkommende Rote Rebsorte ist alles andere als selten: Gute 11.000 Hektar gibt es davon, allerdings wird nur das wenigste reinsortig oder auch nur qualitativ interessant vinifiziert. In den Regionen Ribeira Sacra und Bierzo stehen allerdings uralte Stöcke, von denen grandiose Weine kommen.

Manto Negro
Neben Callet eine der autochtonen roten Rebsorten Mallorcas, die zunehmend Interesse bei den spanischen Winzern findet.

Prensal blanc
Hochinteressante, weiße, ebenfalls autochtone Balearen-Sorte. Säurereich, mineralisch, salzig, wird vor Ort auch „Moll“ genannt, wird gerne mit Chardonnay verschnitten.

Frankreich

Grolleau
Alte, stark rückläufige rote Loire-Rebsorte, der bisher wenig beachtung geschenkt wurde. Grolleau ging in den Rosé oder wurde als Crémant-Grundwein verwendet. Neue Initiativen zeigen, was die früh reifende Rebsorte noch so alles kann.