Drinks aus dem Physik-Handbuch

Infusionen, Sous-vide, Fermentieren – als Nachhut der Spitzenküche experimentiert auch die internationale Bar-Szene mit mannigfaltigen Techniken. Mittlerweile setzt aber eine Gegenbewegung ein. Sie verlässt sich bei ihren Drinks auf fundamentalere Prinzipien: Licht, Schall und Druck verleihen ihren Cocktails aus dem Versuchslabor den letzten aromatischen Schliff.

Text von Roland Graf

Der Kontrast ist schon heftig: „Android Porn“, das mehr als zwei Minuten lang dauernde Gewummer vom Electronic-Produzenten Kraddy, hallt über die in Viererreihen gestapelten Bourbon-Fässer hinweg. Ein klassischer Fall von Bild-Ton-Schere, würden Medientheoretiker sagen. Dabei muss es früher noch um einiges wilder gerockt haben in der Tuthilltown-Destillerie in New York. Ein Brand im Lagerhaus der Brennerei, bei dem bis heute nicht klar ist, ob nicht die Elektronik seines Soundsystems ihn ausgelöst hat, ließ Gründer Ralph Erenzo nämlich auf Körperschallwandler („bass shaker“) umsteigen. An der Grundidee hält man bei „Hudson Bourbon“ aber lautstark fest: Schall macht unseren Whiskey besser!

Auch wenn Erenzo gerne den progressiven DJ gibt – „Klassik hat für uns gar nicht funktioniert!“ –, das schräg anmutende Prinzip dahinter stellt eigentlich eine Rückkehr zu den Frühzeiten der internationalen Spirituosen dar. Damals wurde vor allem der harsche Rum aus den Kolonien durch die lange Seereise im Fass zu einem deutlich gefälligeren Getränk. „Bewegung intensiviert die Reifung“, formuliert es der Kanadier Darcy O’Neil apodiktisch. Da ansonsten – wie auch im Weinkeller – nur die äußeren Fassränder mit dem flüssigen Inhalt in Berührung kommen, dauere statische Fasslagerung eben einige Zeit, so der zum Bar-Mann mutierte Chemiker. Entsprechend der historischen Lehren rät er seinen Kollegen schon mal, „immer mit einem gefüllten Fass im Kofferraum durch die Gegend zu fahren“. Denn noch besser als in Bewegung zu sein, sei es, dazu auch noch Temperaturunterschiede einzubauen. Entsprechend schneller reife auch Rum in den Tropen gegenüber dem Single Malt Whisky im kühlen Schottland.

Womit wir bei einer neuen Generation von Cocktail-Versuchsleitern wären, die sich von Männern wie O’Neil inspirieren ließen, der von Ontario aus eine neue Art der Drink-Behandlung propagiert. Denn warum sollte man Drinks nur rühren oder shaken, wenn man sie auch unter die Höhensonne oder vor die Bass-Box stellen kann?

Ran Van Ongevalle stammt aus der bekanntesten belgischen Barkeeper-Dynastie, mit seinem Vater und seiner Schwester führt er The Pharmacy in Knokke-Heist. Er ist einer dieser „Fizzicists“, die mit physikalischen Mitteln ihre Getränke verändern. Aus einer banalen Aufgabenstellung wurde bei ihm die Variante des „Supersonic Ageing“. Ursprünglich wollte van Ongevalle lediglich die Pralinen-Tradition seines Landes für den globalen Cocktail-Wettbewerb von Bacardi („Legacy“) in einen Rum-Drink umsetzen. Die banale Idee, seine Kreation Clarita im Holzfässchen harmonischer zu machen, verwarf er allerdings schnell. Statt den Drink zu lagern, nahm er Anleihen an der Weinindustrie und packte zunächst Eichen- und Ahorn-Chips in den Cocktail.

Den letzten Schliff verlieh diesem experimentellen Set-up aber erst der Betreiber des Food-Labors Proef!, Maxime Willems. Er stand am Regler, als 20.000 Hertz auf den Cocktail einprasselten. Diese Frequenz nehmen neben Hunden offenbar auch Flüssigkeiten in irgendeiner Form wahr. Denn das Ergebnis der Operation „Vibrationen ohne Erwärmung“ begeisterte Van Ongevalle. Die vier Minuten dauernde Schall-Behandlung entspricht für ihn geschmacklich einer „jahrelangen Holzfass-Reifung“. Auch wenn die wissenschaftlichen Vergleichsexperimente noch ausstehen, der junge Belgier findet diese Art der akustischen Cocktail-Behandlung „schon fast krankhaft faszinierend“.

Drink-Reifung mit der Stehlampe
„Kranken“ Ideen kann auch Rémy Savage stets etwas abgewinnen. Der Chef der Pariser Little Red Door, der einstmals Philosophie studierte, zählt schließlich zu den generellen Querdenkern in der Bar-Branche. Dialektisch geschult hätte man das zu Hochzeiten der Frankfurter Schule wohl genannt. Mit seinem konsequenten Einsatz von Salz in Cocktails hat der Franzose jedenfalls einen Trend ausgelöst. Auch die letzte Barkarte in der Rue Charlot setzte Maßstäbe in der geradezu absurd vernetzten Cocktailgemeinde: Statt Zutaten fanden sich darauf die Interpretationen der Cocktails durch Manga-Zeichner, klassische Maler oder Bildhauer. Frei nach dem Motto: Sage mir, welche Kunst du magst, und ich mixe dir den Drink dazu!

Aktuell gibt Rémy Savage wieder einmal den Bilderstürmer, indem er die Methode des „Barrel Ageings“ von Drinks hinterfragt. Zur Erinnerung: Die kleinen Fässer, die man aktuell allenthalben auf oder hinter Bars findet, enthalten Cocktails, die so ihre Aromen harmonischer ausprägen sollen. In der neuen Wiener Bar Josef reift Philipp Ernst beispielsweise einen Mai Tai auf diese Weise. Ähnlich wie beim Wein geht bei dieser Methode im Idealfall jugendlicher Ungestüm verloren. Die Mikro-Oxidation im Fass fällt zwar immer ein wenig unterschiedlich aus, sie hat aber einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Sie sieht sophisticated aus, und der Gast wird fast zwangsläufig vom leider auch teureren – die Lagerung, Sie verstehen? – Drink kosten wollen.

Die Grundfrage des Parisers lautete daher: Wie wäre es, auf das Holzfass doch ganz zu verzichten? In einer Stadt, die seit der von Gabriel Nicolas de la Reynie im 17. Jahrhundert angeordneten, flächendeckenden Straßenbeleuchtung Ville Lumière (Stadt des Lichts) genannt wird, lag die Lösung nahe. Eine 60-Watt-Birne sorgt bei seinem „electric light ageing“ für die Geschmacksveränderung. Vorgenommen hat man sich im Little Red Door ein anderes Liebkind der Barszene, den Wermut. „Bei seiner Herstellung nutzt man ja auch Weine am Rande ihrer Oxidation“, so der rationale Ansatz Rémy Savages. Für seinen „Lichtgeschmack“ nützt er Weinblätter, „die besonders schnell oxidieren“. Sie kommen in einen Blend aus verschiedenen Rotweinen und werden im Glasballon 48 Stunden unter die Lampe gestellt.

Einmal abgeseiht, ist die Zutat für den Negroni, der Höhensonne abbekommen hat, fertig. Dass es die zu je aus einem Drittel Wermut, Campari und Gin bestehende Mischung wurde, hat einen Grund. Auch die „Barrel Age“-Fraktion hat ihn zum Lieblingsdrink erkoren, da er keine verderblichen Zutaten wie Früchte oder Säfte enthält, die beim Fassreifen Tabu sind. Savages Gegenentwurf habe vor allem veränderten Gerbstoff aufzuweisen: „Die Tannine haben eine Geschmackskomponente mehr, einen fast Umami-artigen Tiefgang.“ Dass bislang „Lichtgeschmack“ als Fehlton – vor allem bei Bier, das Sonnenlicht abbekam – galt, freut den querdenkenden Pariser natürlich zusätzlich.

Kraft, die senkrecht auf Drinks wirkt
Weniger Freude als vielmehr Frust trieb die Experimente des Wiener Barchefs Kan Zuo an. „Von den kleinen Tonic-Fläschchen hast du am Ende ­eines geschäftigen Wochenendes richtige Berge beisammen.“ Praktische Überlegungen sorgten dafür, dass sich der Betreiber der vielfach ausgezeichneten The Sign Lounge dem Physik-Buch zuwendete. In der Wiener Liechtensteinstraße werden seither die Cocktails selbst unter Druck gesetzt. Die „Kraft, die senkrecht auf eine Fläche wirkt“, funktioniert schließlich auch bei Flüssigkeiten, und so wird, statt mit kohlensäurehaltigen Getränken aufzugießen, gleich der ganze Drink karbonisiert. Der Vorteil dieser Methode ist aber auch ein logistischer: „Es gibt jetzt Cocktails from the tap“, also fertige Mixgetränke von der Schankanlage, die die Wartezeiten für die Gäste verkürzen.

Bei vollem Haus kann damit schnell serviert werden, lediglich die jeweilige Dekoration kommt noch ins Glas. Begonnen hat dieses auch in Kleinmengen – als „rapid infusion“ in der Soda- oder iSi-Flasche – umsetzbare Unter-Druck-Setzen übrigens ganz klassisch mit einem Cocktail, der an die Bier-Schankanlage kam, „weil er auch Weißbier statt Tonic oder Ginger Ale als Filler nutzte“. Kan Zuos Lazy Lemonade gibt es aktuell im Vienna Hilton Plaza zu kosten, dessen Barkarte der Austro-Chinese beratend erstellt hat.

In seiner eigenen Wirkungsstätte schenkt er derweil den Nice Try aus (siehe Rezept linke Seite). Wobei die scheinbar altbekannte Methode durchaus ihre Tücken hat, wenn nicht Fruchtlimonaden unter Druck geraten, sondern komplexere Mischungen. „Ganz kann ich es mir physikalisch nicht erklären, aber das Ergebnis unterscheidet sich je nach Zapfleitung, Raum und den verwendeten Zutaten“, hadert Zuo mit der Physik. So sorgte das gute Kilo Mandarinenmarmelade, das er neben Bergamottenpüree und Weißbier für die Lazy Lemonade in den Zwanzig-Liter-Druckbehälter gab, im Drink einmal für beträchtlichen Schaum. Dann wiederum ging der karbonisierte Bourbon-Cocktail völlig leichtf(l)üßig ins Glas.

Bei allen Schwierigkeiten werden wir Cocktail-Inspirationen aus dem Labor aber durchaus noch öfter sehen, denn auch im Westen beginnt gerade eine Kooperation. Als Damir Bušic´ von Selles Wohnzimmer in Innsbruck feststellte, dass die Forscher des Chemie-Instituts gerne zu ihm kamen, leuchteten seine Augen schon nach kurzen Gesprächen: „Die haben dort die coolsten Geräte bis hin zum Rotationsverdampfer“, so der Barchef. Was man gemeinsam anstellen will, ist derzeit noch Verhandlungssache, in jedem Fall begründen Bartender wie Damir Bušic´ und Kan Zuo damit eine ganz neue Disziplin: den Technologietransfer zum Tresen.

Clarita
Ran Van Ongevalle, The Pharmacy, Knokke-Heist
6 cl Bacardi 8 Años
1 cl Amontillado Sherry (Bodega Romate „NPU“)
1 Barlöffel (0,4 cl) Crème De Cacao („Tempus Fugit“)
2 Spritzer (dash) Absinth (Pernod)
1 Spritzer (dash) Nordsee-Wasser
Arbequina-Olivenöl
Zubereitung: Alle Zutaten – außer dem Öl – im Rührglas auf Eiswürfeln gut verrühren und ins Gästeglas abseihen. Mit ein paar Tropfen Olivenöl „floaten“ und ohne Eis servieren!
Glas: Cocktail-Schale (Coupette)
Garnitur: keine
Hinweis: Dieses Rezept schildert die normale Zubereitung des Cocktails, die mit Schall veränderte „Supersonic“-Version lässt sich nur im Labor (oder bei entsprechenden Frequenzgeräten – benötigt werden 20 Megahertz – auch daheim) herstellen. Dafür vier Minuten den fertig gemixten Drink „beschallen“ und erst dann das Öl aufbringen.

Nice Try
Kan Zuo, The Sign Lounge, Wien
Rezept für 10 Portionen
40 cl Courvoisier VSOP
15 cl weißer Traubensaft
15 cl roter Traubensaft
15 cl Verjus
10 cl Veilchenlikör (Horvath’s Spezereyen)
30 Spritzer (dashes) Dr. Adam ­Elmegirabs „Dandelion and Burdock Bitters“
Glas: Champagner-Kelch
Garnitur: Eisbrocken
Zubereitung: Alle Zutaten ins Soda Siphon hineingeben, mindestens eine Stunde gut kühlen, dann mit zwei Soda-Kapseln karbonisieren und für mindestens eine weitere Stunde sehr gut gekühlt „setzen lassen“, damit die Kohlensäure in den Drink geht und er kalt bleibt. Dann in den Champagner-Kelch geben und mit einem Eisbrocken dekorieren.

Oxydised Negroni
Rémy Savage, Little Red Door, Paris
3 cl Star of Bombay
3 cl Campari
3 cl „Spontan-Oxidation”
Glas: Tumbler
Garnitur: Olive
Zubereitung: Alle Zutaten in einem Rührglas auf Eis kalt rühren. Auf einem großen Eisball ins Gästeglas abseihen und mit Olive garniert servieren.