Einmal Revolution und retour

Text von Christina Fieber

Im Rheingau sorgte Peter Jakob Kühn schon vor 20 Jahren für unorthodoxe Rieslinge. Sein Sohn geht es heute traditioneller an.

Station Oestrich-Winkel, Montag um halb elf Uhr vormittags an einem warmen Junitag. Kaum jemand steigt hier aus dem Zug von Frankfurt. Würden neben der Hauptstraße nicht schon die ersten Rebzeilen wachsen, man könnte nicht glauben, im Epizentrum eines der bedeutsamsten Weinanbaugebiete Deutschlands, im Rheingau, gelandet zu sein. Ein wenig oberhalb des Ortskerns findet sich das Weingut von Peter Jakob Kühn. Derzeit einer der besten Betriebe der Region, wenn nicht ganz Deutschlands – da sind sich so ziemlich alle Kritiker des Landes einig. Ein vergleichsweise bescheidenes Anwesen inmitten einer ihrer Weingärten im Oestricher Lenchen. Keine Spur von Protz, keine abweisenden Mauern, keine versperrten Tore – ein offenes Haus. Es passt zu den Kühns. Sie sind am Boden geblieben. Verwurzelt. Ihre Geschichte ist gezeichnet von Höhen und Tiefen, von glänzenden Erfolgen, aber auch von Zeiten existenzieller Unsicherheit. Seit einigen Jahren wird es von Peter Bernhard Kühn und seiner Frau Viktoria geführt. Es scheint am Zenit angekommen: Die Weine sind in den besten Restaurants weltweit gelistet und räumen Jahr für Jahr Höchstpreise ab. 

Das war nicht immer so. Erst der Vater, Peter ­Jakob Kühn, wagte in den frühen 1980er-Jahren den Schritt vom Alltagswein mit sicherem Absatz zum Abenteuer Qualitätswein. Ein Sprung ohne Sicherheitsnetz – letztlich jedoch ein Sprung ganz nach oben. Von da an begann eine unermüdliche Suche nach dem heiligen Gral, nach der Frage, wie man es anstellt, immer besseren Wein zu machen.

Peter Jakob Kühn stellte früh auf biologischen und in Folge auf biodynamischen Weinbau um, experimentierte mit alternativen Ausbaumethoden, wagte enorm viel und gewann. Ein Avantgardist, wenn man so will. Sein Sohn Peter Bernhard geht es heute ruhiger an. Keine stilistischen Eskapaden – aber ebenso aufregender Wein. Eine ungewöhnliche Famili­engeschichte von einem rebellischen Vater und seinem vernünftigen Sohn. 

So unterschiedlich die beiden gestrickt sind, was ihre Weine betrifft, sind sie sich einig. Außergewöhnlich müssen sie sein. Und das sind sie: Rieslinge aus erstklassigen Lagen in Rhein-Nähe, so präzise und feingliedrig wie nur wenige. Die Rollen sind inzwischen klar verteilt: Der Sohn führt den Laden und hat das Sagen – auch wenn die ganze Familie mit anpackt. Eine souveräne Entscheidung des Vaters, auch wenn sie ihm vermutlich nicht ganz leicht fiel. Vielleicht erinnerte sich Peter Jakob Kühn an seine eigenen Anfänge in den 1970ern, als er mit 24 Jahren ins Weingut einstieg, an die Kämpfe, die er ausfocht: Es seien damals mitunter hitzige Diskussionen zwischen ihm und seinem Vater gewesen. Dabei ging es um nichts weniger als um die Zukunft des Weinguts, um die Frage: Quantität oder Qualität. 

Der Vater konnte nicht verstehen, warum man mehr Rebstöcke auf engeren Raum setzten sollte, um am Ende weniger zu ernten, wie es sich der Sohn in den Kopf gesetzt hatte. Dass weniger Ertrag höhere Qualität bringt, erschien dem Vater nebensächlich, was damals zählte, war ein wenig wirtschaftliche Sicherheit. Kriterien, die dem jungen Kühn wiederum zu klein, zu eng, zu wenig visionär waren. Er habe schon damals mehr wollen, sagt er.

Heute ist er weit über sechzig und lacht immer noch dieses spitzbübische Lachen, das so typisch für ihn ist. Er ist ein ungewöhnlicher, ein offener Mensch – jemand, den man sofort ins Herz schließt. Ein leidenschaftlicher Kämpfer auch. Der Generationskonflikt nahm ein jähes Ende: Der Vater starb, als Kühn gerade einmal 26 war. Plötzlich war sie da, die ersehnte Freiheit, aber auch die komplette Verantwortung. Gemeinsam mit seiner ebenso jungen Frau krempelte er alles um.
Peter Jakob im Keller und im Wingert, wie die Rheingauer zum Weingarten sagen, Angela Kühn mit Kunden und Händlern, auf Messen und Verkostungen. Keine Frau, die ihrem Mann bloß den Rücken freihielt, sondern mit anpackte – eloquent und ebenso herzlich. Ein neues Weingut, neue Lagen, neue Bestockung – so eng wie möglich, versteht sich. Daneben drei Kinder und immer Termine auf der Bank. Sie stellten um auf Handlese und verzichteten schließlich auch auf Herbizide – mehr Aufwand, mehr Investment. Der einzige Lohn: Die Weine wurden immer besser. Es dauerte Jahre, bis das auch jemand bemerkte. Erst mit ihrem 1991 Riesling Doosberg gewannen sie erstmals den ersten Preis in einem bekannten deutschen Gourmetmagazin. Es war der Durchbruch, doch nicht das Ende der schier rastlosen Suche Kühns. 

Weil die Kinder ständig krank waren, stellten sie ihre Ernährung um, statt ihnen bei jeder Verkühlung Antibiotika zu geben, wie es der Hausarzt riet, wurden sie zu richtigen „Vollkornfuzzis“, wie Angela Kühn sagt. 

Was bei den Kindern wirkt, könne doch auch den Rebstöcken guttun, überlegten sie. Sie verzichteten von nun an auf systemische Pestizide, stellten auf biologische und 2004 als eines der ersten deutschen Weingüter auf biodynamische Bewirtschaftung um. Das volle Programm mit eigenem Kompost und selbstgerührten Präparaten, mit Kräutertees und Kuhhörnern. Ohne ideologischem Starrsinn freilich, immer mit dem Ziel, noch bessere Weine zu machen. 

In dieser Zeit, um die Jahrtausendwende, reiste Kühn viel. Öffnete seinen Horizont. Ein Schlüsselerlebnis war schließlich eine Verkostungstour im Friaul. Bei Stanko Radikon und Joško Gravner, die in der Region die Renaissance der Maischegärung bei Weißweinen und letztlich die Zeitenwende der Natural Wines einläuteten. Vor allem der Ausbau in Amphoren faszinierte Kühn. Für ihn, der immer nach der Essenz des Weines suchte, so etwas wie eine Offenbarung. Die ursprüngliche Methode ohne Intervention erschien ihm als der ultimative Weg der Weinwerdung. Wieder daheim, besorgte er sich Amphoren aus Spanien und baute als erster deutscher Winzer Riesling in den archaischen Tongefäßen aus. Es gab einen Aufschrei im Rheingau, wo damals alles noch strikt nach Vorschrift und Konvention laufen musste. 

Kühn eröffnete ein neues, ein anderes Universum. Rieslinge mit feiner Gerbstoff-Struktur, die vom gängigen Geschmacksbild ausscherten. Nichts für Sorten-Fetischisten. Eine umstrittene Stilistik, vor allem bei der noblen Rebsorte Riesling, der heiligen Kuh des Rheingaus. Er habe ja selbst Bedenken gehabt, erinnert sich Kühn, aber letztlich hätten ihm diese süffigen Rieslinge Spaß gemacht. Und nicht nur ihm. Er sorgte damit auch international für Aufsehen. In einer Zeit, als der Hype um maischevergorene Weißweine noch gar nicht richtig begonnen hatte, kam ausgerechnet aus dem verzopften Rheingau ein Riesling aus der Amphore. 

„Es ging mir nicht darum, alles anders zu machen“, sagt Kühn heute. Es sei ein Selbstfindungsprozess gewesen. Die Klassifizierung dieser Weine in Erste und Große Lagen – in Deutschland ein absolutes Qualitätskriterium –, wurde ihm für seine individuellen Rieslinge freilich verwehrt. 

Als sein Sohn in den Betrieb einstieg, stampfte der das Projekt Revolution schließlich ein. Peter Bernhard hatte eine ganz andere Vision, wie Rheingauer Riesling schmecken sollte. Maischegärung und Amphoren, derlei Eskapaden kamen ihm nicht mehr in den Keller. Da sei sein Sohn sehr de­zidiert gewesen, erinnert sich Vater Kühn: Bei einer Natural-Wine-Messe in London habe er voller Enthusiasmus noch bei einem Händler Amphoren bestellt – allein, sein Sohn fand das gar nicht lustig: „Ich habe ihn noch nie so verstört gesehen“, sagt Kühn senior. Da habe er verstanden, dass er mit seinen eigenen Vorstellungen zurückstecken müsse. Kleinlaut ging er zu dem Stand des georgischen Händlers und stornierte die Bestellung. Die alten, gebrauchten Amphoren liegen heute in den Weinbergen – tief vergraben. 

Peter Bernhard hält nicht viel von der archaischen Vinifikation, einer Methode, die seiner Meinung nach den ursprünglichen Charakter der Weine verändert. Maischegärung bei Weißweinen, nur weil es im Trend liegt, hält er für eine Fehlentwicklung: „Orange um jeden Preis, das ist nicht mein Ding“, sagt er so ruhig wie entschieden, dass sich jede Nachfrage erübrigt. Lieber baut er die Rieslinge im großen Holzfass aus, wie es im Rheingau Tradition hat. Er will präzise, puristische Rieslinge ohne jeden Störfaktor. 

Die Experimente des Vaters schätzt er dennoch. Wenigstens brauche er keine Revolution mehr vom Zaun brechen, müsse sich nicht wie andere junge Winzer von Zwängen befreien, den Job habe der Vater erledigt. Die Grenzen sind ausgelotet. „Im Grunde haben wir dasselbe Ziel“, resümiert er, „nur eben auf unterschiedlichen Wegen. Er nennt sich selbst Winzersohn und Quereinsteiger. Eigentlich wollte er nichts mit Weinbau zu tun haben, eine seiner beiden älteren Schwestern war für die Rolle vorgesehen. Peter Bernhard studierte Philosophie und Wirtschaft, danach begann er bei einem deutschen Sender als Sportreporter. 

Er ist ein ruhiger, überlegter Typ, durchaus selbstbewusst. Der Umstieg seiner Eltern auf biodynamischen Weinbau habe ihn dann abgeholt. Für ihn eine andere, tiefer gehende Herangehensweise, Denkweise, Lebensweise, die ihn faszinierte. Allmählich begann er zu verstehen, wie alles mit allem verbunden ist in der Natur. 

„Es hat sich einfach richtig angefühlt“, sagt er. So richtig, dass er dann vor zehn Jahren mit in den Betrieb einstieg und ihn seit 2018 auch offiziell führt. Vorher absolvierte er noch die renommierte Weinbau-Hochschule Geisenheim plus Praktika im Burgund und Elsass. In Frankreich habe er gelernt, was er alles nicht brauche von dem, was auf der Hochschule gelehrt wurde. Mit den Reben pflegt er ein Vertrauensverhältnis, eine empathische Beziehung, wie er es nennt. Mit dem Ziel, immer weniger einzugreifen in den Prozess, sich immer weiter zurückzuziehen. Mit „Hands Off Winemaking“, wie es heute gerne schmissig propagiert werde, habe das nichts zu tun. Vielmehr sei es eine ständige Beobachtung und daraus resultierend Entscheidungen, etwas zu tun oder eben nicht. Die Balance zu finden zwischen aktivem Gestalten und Loslassen, Vertrauen. Peter Bernhard Kühn ist ein Meister der Balance. Das zeigt sich dann auch in seinen Weinen. Eine außergewöhnliche Harmonie aller Bestandteile, ein vielschichtiges Ineinander feiner Aromen. Nie laut, nie vordergründig. Substanziell und gleichzeitig schwebend. Verhalten und doch bestimmt. Vom Gutswein Jakobus bis zu den Großen Lagen, Lenchen, Doosberg, Sankt Nikolaus. Geprägt von den Schiefer- oder Quarzitböden des Rheingaus. Von Herkunftscharakter schwadroniert Kühn trotzdem nicht. Er will nichts zum Ausdruck bringen. „Das kommt automatisch“, sagt er, „wenn man es zulässt.“

Er streift durch die Rebzeilen von Sankt Nikolaus, benannt nach der Steinfigur im Wingert. Sanft fällt der Weinberg hinab bis zum Rhein. Gleich neben der Straße beim menschenleeren Bahnhof von Oestrich Winkel. Beinahe unspektakulär. Die Kühns wissen daraus Rieslinge zu machen, die ziemlich spektakulär sind. —

Viktoria und Peter Bernhard Kühn ­führen inzwischen den Weinbaubetrieb. Sie stehen für puristische Rieslinge und Spätburgunder ohne Zierrat. 

„Orange um jeden Preis, das ist nicht mein Ding.“ 
Peter Bernhard Kühn

Viktoria und Peter Bernhard Kühn entlocken
ihr feingliedrige Weine der Extraklasse. 








„Es ging mir nicht darum, alles anders
zu machen, es war ein Selbstfindungsprozess.“ 

Peter Jakob Kühn

Infos 

Weingut Peter Jakob Kühn
Mühlstraße 70, D-65375 Oestrich-Winkel, weingutpjkuehn.de
Erhältlich bei shop.doellerer.at