Frisch gepflückte Drinks

Was der Wald dem Shaker zuträgt

Text von Roland Graf

Man muss sich daran gewöhnen, dass es für Bar-Trends offenbar keine deutschen Wörter mehr gibt. Nach dem Craft Beer bleibt es auch beim „Foraging“ beim englischen Original. Fundstücke aus dem Wald, hierzulande allenfalls von Schwammerlsuchern geliebt, treiben weltweit die Kreativität der Cocktail-Szene an. Die gute Nachricht: Die Alpenrepublik hat einen klaren Startvorteil!

Rezepte reisen dieser Tage schnell. Was gestern als Signature Drink in Singapur auf Facebook gepostet wird, fließt morgen schon in Innsbruck aus dem Shaker. Im Gegensatz zur Spitzenküche, die auf Chef-Kreationen pocht, war die Barszene immer promiskuitiver. Egal, welche Zutaten und Techniken für den Cocktail verwendet werden, seine DNA lässt sich meist auf ein Dutzend Klassiker reduzieren. Denn auch der kreativste Bartender schreibt die Drink-Historie nur weiter; Twists, die Abwandlungen orthodoxer Rezepturen, sind seit jeher das tägliche Brot des Barmanns. Wie also differenziert er sich im globalen Cocktail-Dorf? Eine Art Gebietsschutz gewähren endemische Zutaten; die Geheimwaffe dazu nennt sich Foraging. For was? Am besten stellt man sich das Ganze als Pilzesammeln ohne Schwammerln vor. Kurz: Was immer der Wald an wilden Zutaten hergibt, wird zu Drinks verarbeitet.

Einen nicht unwesentlichen Anteil an der Renaissance des Kräutersammelns für den Cocktail hat der schottische The Botanist-Gin. Seine Rezeptur verdankt sich unter anderem den Wildpflanzen der Insel Islay. Der emeritierte Botaniker Richard Gulliver und seine Frau Maevis ­sammelten in der Whisky-Hochburg der Hebriden 22 Zutaten für das ­unkonventionelle Destillat. Mittlerweile wird das Werk der beiden vom schottischen Forager Mark Williams (gallowaywildfoods.com) fort­gesetzt, der auch einer der aktivsten politischen Köpfe der Sammler ist. Spricht sich in England wieder jemand für Limitierungen der privat ­gesammelten Kräutermengen aus, ergreift meist Williams das Wort.

Mit geführten Foraging Walks sollen Bartender nun auch am Kontinent auf den Geschmack des Waldes kommen. Ewald J. Stromer, der Markenbotschafter von The Botanist für den deutschsprachigen Raum, wird nachgerade poetisch, wenn er die Parallelen zwischen Foraging und Drink-Entwicklung schildert: „Abge­sehen von saisonalen Pflanzen wie Waldmeister sucht man nicht etwas Bestimmtes, sondern lässt sich inspirieren von der Region. Am Ende hat man dann seinen Signature Drink, der die hiesige Flora und Aromatik widerspiegelt und somit völlig einzigartig ist.“ Genau diese Überlegungen waren es auch, die Andreas Hotter zu seiner neuen Barkarte inspiriert haben. Den Chef des Zillertaler Hotels Englhof und Barkeeper-Ausbildner wurmte es die längste Zeit, „dass man als Gast immer etwas Einheimisches zu essen findet, aber meist nichts zu trinken“.

Die Lösung Hotters, ganz nahe am Trend alpine Küche angelehnt, nennt sich Alpine Mixology. Vom wilden Thymian über Das Beste von der Biene (so ein Cocktail-Name) bis zum Meisterwurz kommt das Drink-Dutzend in Zell am Ziller mit heimischen Ingredienzen daher. Schließlich „gibt es eigentlich auch bei uns tolle Zutaten, aber nur die wenigsten verarbeiten sie“. Der alpine Negroni, der Bitterkeit nicht aus Campari zieht, sondern aus Enzian und Zirbe, zeigt, wie auch klassische Drinks plötzlich im Dirndl auf­treten können. Den weiteren Trachtenschmuck im Tumbler liefern Vogel- und Wildpreiselbeeren.

Der Drink trägt heute mal Dirndl
Technisch jedenfalls erweist sich diese Bevorratung vor der Haustür als überaus kompatibel mit den ­modernen Bar-Techniken wie Rapid Infusion, Cold Dripping oder Sous Vide. Bis zu einem gewissen Grad erfordern saisonale Zutaten wie Holunder, Walderdbeere oder Lindenblüte diese sogar: „Der wilde Thymian wächst ja nicht immer, wir machen uns daher genug Vorrat und konservieren ihn als Infusion.“ Ein wichtiges Zusatzargument für das Botanisten-Dasein lässt der Zillertaler Mixologe ebenfalls nicht unerwähnt: „Das Ergebnis kommt bei Gästen und Einheimischen gleich gut an.“ Was dem einen lange vertraut ist, stellt für den anderen eben einen exotischen Gaumenkitzel dar.

Wie erfrischend das ausgegrabene alpine Kräuterwissen auf Gäste wirkt, zeigt eine Brecht’sche Verfremdung: Geraldton Wax und Karri sagen nämlich dem Österreicher so wenig, wie der Australier mit Mädesüß und Gewöhnlicher Wegwarte etwas anfangen können dürfte. Doch die rot blühende Pflanze kommt in der Hotelbar des Como The Treasury in Perth ebenso in den Shaker wie der aus den Blüten des Karri-Baums stammende Honig. Mit geschätzten 12.000 Blumenarten in Westaustralien schöpft man für die Wildflowers-Karte des Fünf-Sterne-Hauses am anderen Ende der Welt aus dem Vollen. Allerdings steckt hinter den Kreationen hier ebenfalls eine Rückbesinnung. Denn die lokalen Aborigines unterschieden sechs Jahreszeiten, „die sich nach der Blütezeit einheimischer Blumen richteten“, so Jed Gerrard. Ihnen folgt das vom indigenen Wissen inspirierte Drinkangebot, denn „wir möchten ein Erlebnis bieten, das mit seiner Authentizität besticht“. Ein Anspruch, den – wir ­zoomen von down under wieder zurück nach Wien – Hubert Peter auch am Michaelerplatz stellt.

Die Deklination der lokalen Botanik
Er bespielt das Rien, den Bar-Teil im Nachfolge-Pop-up des verwichenen Traditionscafés Grien­steidl. Spricht der Vorarlberger von einer persönlichen „Leidenschaft zum Sammeln und Selbermachen“, darf man das getrost als Tiefstapelei verbuchen. Peters Ehrgeiz, auch aus Ausgangsprodukten wie der Paprikawurst Chorizo einen Likör zuzubereiten, ist ebenso stadtbekannt unter Wiener Barflys wie sein Heu-Brand oder das chilischarfe Ingwerbier. Dass der (mit Winzer Michael Andert und Coburg-Sommelier Thomas Juranitsch) auch als Wermut-Produzent tätige Tüftler also auch gerne durch den Wald streift, war irgendwie klar. Allerdings geht es ihm mehr um das Dekonstruieren der Flora als um Zufallsfunde: „Diese Leidenschaft, umgesetzt auf das tägliche Bargeschäft, ermöglicht dann z. B., einen Cocktail aus nur einer Pflanze zu machen oder diese für einzelne Komponenten in Drinks zu verwenden.“ Was abstrakt klingt, schildert der Rien-Bartender anhand des Holunders. Neben dem weitgehend abhandengekommenen Hausfrauen-Klassiker Holundersekt, der die Dolden verwendet, und dem ebenfalls bekannten Holunder-Beeren-Likör entspringt dem Strauch auch eine der Garnituren der Peter’schen Drinks – die Holunder-Kaper. Tiefer noch in die Bargeschichte und zugleich in die Botanik führt dann sein Holunderhonig, der gänzlich ohne Bienen auskommt. Frische Holunderdolden – „am besten zur Mittagszeit gesammelt“, ermahnt Waldläufer Peter – werden dafür mit Zucker, Zitronensaft und -zesten in ein Vorratsglas geschlichtet. Das Prinzip des Zitruszuckers, als Oleo Saccharum schon Drink-Würzmittel im 19. Jahrhundert, wird hier quasi zum Austro Saccharum. „Es zeigt halt auch auf, wie vielseitig eine Pflanze nutzbar ist“, wirbt er für mehr Sammel-Tätigkeit.

Dass man diese Kräuterfexe im Alpenraum noch findet, überrascht weniger, als wenn im mondänen Baden-Baden plötzlich ein Portwein mit Brennnesselgeschmack auf der Bar steht. Enrico Albrecht hat die Karte des Roomers gestaltet und das Barteam zuerst einmal auf eine Wanderung durch den Schwarzwald geschickt. „Um uns die wundervolle Flora anzuschauen und unseren Nutzen daraus zu ziehen“, wie er es formuliert. Die an den vier Elementen ausgerichtete Cocktailkarte der Hotelbar steht seither für Foraged in Rein­form (© Albrecht). Statt Eiswürfel kommen die Kieselsteine aus dem Flüsschen Oos zum Einsatz, der Bourbon-Klassiker wird damit zum Real Oos Fashioned umgetauft. Selbst die Fische für die Badische Bouillabaisse – einen Drink mit weißem Port, Grapefruit und eben Fischsuppe – stammen aus dem Ort. Wie auch Hotter konserviert Albrecht Aromen, die selbst anspruchsvolle Gäste im Fünf-Sterne-Hotel überraschen. „Wir benutzen Baumrinde, um unseren eigenen Wodka zu produzieren“, fällt im Gespräch mit dem Roomers-Barchef als Nebensatz ganz selbstverständlich.

Trend-Surfen, aber ohne Toxine
Doch wie bei vielen coolen Dingen folgt auch in dieser Geschichte ein „Zuhause bitte nicht nachmachen!“. Respektive weisen Forager wie Andi Hotter und Roomers-Naturbursch Enrico Albrecht unisono darauf hin, immer jemanden zur Seite zu haben, der sich sehr gut mit der lokalen Flora auskennt. „Es gibt zwar nicht viele giftige Alpen-Pflanzen, aber es gibt sie“, warnt der Tiroler. Für die Foraging Walks von The Botanist wird daher auch Jonathan Hamnett einge­flogen. Trocken britisch warnt der Gründer von Grunewald Foraging am Fuße des Untersbergs mit Blick auf einen Riesen-Bärenklau am Wegesrand „seine“ Bartender: „Die Doldengewächse oder Apiaceen sind die würzigste, spannendste, aber halt leider auch gefährlichste Familie.“

Der Brite mit den Batik-Hosen und dem Gartenzwerg-Bart sieht sich dennoch vor allem als Mutmacher für Mutter Naturs grünen Vorratsschrank. Denn die Sammel-Tätigkeit der Spirituosen-Mischer stellt keine Novität dar, im Gegenteil: „Alant wurde schon in der Antike im Wein mazeriert“, erläutert Hamnett im Salzburger Forst die Wurzeln der ­Mixologie. Die markante gelb-orange Blüte stellt aber nur den Anfang der Kräuter-Weisheiten des Engländers dar, die wie ein Wordrap auf die Bartender einprasseln: „Wald­meister heißt auch Labkraut, da holte man Haare aus der Milch ­damit, Nelkenwurz war das Gewürz der Armen, er hat 10 % der Alkaloide der Gewürz­nelke, Mädesüß duftet süß und nach Mandeln …“

Zumindest die letzte Anregung bleibt offenbar im Gedächtnis. Denn André Breyer nimmt das spontan kreierte Rezept seines Mädesüß-Karamells mit in seine Bar nach Leo­gang. Mit Gin, Himbeeren und Hibiskus-Tonic wird ­daraus ein herb-frischer Cocktail. Gewidmet ist der Big Red ­Ridinghood des Foraging-­Novizen einer legendären ­Servierkraft des Waldes – dem Rotkäppchen.

Hotel Puradies – Bar Freiraum
Rain 9, 5771 Leogang
www.puradies.com

Hotel Englhof – Restaurant Cocktailbar
Zellbergeben 28, 6277 Zell am Ziller
www.englhof.at

Rien
Michaelerplatz 2, 1010 Wien
www.rien.at

Rommers
Lange Straße 100, 76530 Baden-Baden, Deutschland
www.roomers-badenbaden.com

Como The Treasury
1 Cathedral Ave, Perth WA 6000
www.comohotels.com

Thyme after Thyme

Andreas Hotter, Englhof, Zell am Ziller

5 cl Gin (Roner Z44 aus Tramin), mit Wildem Thymian infundiert*
3 cl Zitrussirup**
1 cl Zitronensaft, frisch gepresst
1 Eiweiß
ca. 6 cl karbonisiertes Quellwasser zum Auffüllen
Zubereitung: Alle Zutaten außer dem Sodawasser im Shaker mit viel trockenem Eis so lange schütteln, bis der Shaker beschlagen ist. Danach in das vorgefrorene Gästeglas auf frische Eiswürfel abseihen und mit dem Wasser auffüllen. Vorsichtig umrühren, damit die Kohlensäure nicht verloren geht.
Glas: gefrorenes Longdrinkglas
Garnitur: Thymianzweige (anflämmen!) und Zi­tronenzeste über dem fertigen Drink ausdrücken.
*Thymian-Infusion: 5 Zweige vom Wilden Thymian mit dem Inhalt einer Flasche Z 44-Gin in ­einem Beutel vakuumieren und bei 48 °C circa vier Stunden köcheln, danach doppelt abseihen und in eine Flasche füllen.
**Zitrussirup: Gleiche Teile frisch gepressten Zi­tronensaft und Zucker in eine Pfanne geben, Schale von 2 Orangen und 2 Zitronen sowie 2 Sternanise hinzugeben und köcheln lassen, bis der Zucker sich aufgelöst hat; danach noch zwei Stunden ziehen lassen und dann abseihen.

Forest

Enrico Albrecht, Roomers, Baden-Baden

6 cl Baumrinden-Wodka*
2,5 cl Zitronensaft
1,5 cl Zuckersirup
Glas: Tumbler
Garnitur: Tannenzweig
Zubereitung: Alle Zutaten in einen mit Eiswürfeln gefüllten Shaker geben und kaltshaken. In einen Tumbler auf Eiswürfel abseihen und mit einem Tannenzweig dekorieren.
*Baumrinden-Wodka (ergibt 1 Liter): Ein ca. 30 cm langes Stück Baumrinde gründlich reinigen (Bürste verwenden!) und bei 90 °C
45 Minuten in den Ofen geben. Danach die Rinde mit einem Bunsenbrenner leicht an­rösten. 1 Liter Wodka mit der Rinde in einen Lebensmittel-Beutel füllen und 24 Stunden bei Zimmertemperatur ziehen lassen. Durch ein feines Sieb filtern und in eine Flasche ­füllen. Alle Zutaten in einen mit Eiswürfeln gefüllten Shaker geben und kaltshaken. In ­einen Tumbler auf Eiswürfel abseihen und mit einem Tannenzweig dekorieren.

Wildflower Martini

The Treasury, Perth

Die westaustralische Martini-Variante aus dem Hotel Como erinnert an Zitrone und ist ein idealer Aperitif.
6 cl Wodka (mit Geraldton-Wax-Blüten infusioniert)
1 cl trockener Vermouth (z. B. Maidenii, ein australisches Erzeugnis)
Zubereitung: Alle Zutaten in ein Rührglas geben, Eis dazugeben und ca. 30 Sekunden lang kaltrühren. In ein Martini-Glas abseihen und mit einem Rührstab mit Geraldton-Wax-Blüten dekoriert servieren.