Gekommen, um zu bleiben

Mit dem Einzug der Natural Wines erlebte die Weinbranche eine fundamentale Zäsur und verbitterte Grabenkämpfe zwischen Anhängern und Gegnern. Schienen die „wilden“ Weine zunächst eine schnelllebige Mode zu sein, erweisen sie sich nun als Dauerbrenner.

Text von Christina Fieber Foto: Getty Images

Hätte Franz Strohmeier gewusst, was für ein zäher Kampf auf ihn zukommen würde, damals, als er begann, als einer der ersten heimischen Produzenten Wein ohne Schwefelzugabe abzufüllen, hätte er es wohl bleiben lassen. Es waren jedoch nicht seine Weine, die dem biodynamischen Winzer aus der Weststeiermark schlaflose Nächte bereiteten, sondern die mangelnde Offenheit der meisten österreichischen Trinker, die vor den ungewohnten Aromen kapitulierten. Auch sein südsteirischer Kollege Sepp Muster erinnert sich, dass ihm dazumal empfohlen wurde, seine zurückhaltend vinifizierten Gewächse lieber in den Abfluss zu schütten. Heute gelten beide als Koryphäen in der Naturweinszene und sind in den besten Restaurants weltweit gelistet.

Natural Wines, biologisch angebaut und im Keller weitgehend unbehandelt, schlugen vor etwa 15 Jahren wie eine Bombe in die beschauliche heimische Weinszene ein und warfen alle önologischen Regeln über Bord. Was bislang gut und richtig war, galt nicht mehr. Nichts roch, schmeckte oder sah mehr so aus, wie man es gewohnt war: Da wurden trübe Weißweine feilgeboten, die nicht mehr nach Ananas oder Vanille dufteten, sondern an Kräutertees erinnerten, Rotweine, die statt barocker Fülle gnadenlose Säure offerierten. Vor allem maischevergorene Weißweine, in mattem Orange gehalten, verstörten mit ihrem herben Charme und wurden von ratlosen Weinwissern reflexartig als fehlerhaft oder verdorben diffamiert.

Kein anderes Thema polarisierte in den letzten Jahren die Branche mehr. Die Frage, ob Naturweine Segen oder Qual seien, entzündete verbissene Glaubenskriege. Hielten es die einen für Teufelszeug, beschworen die anderen den Zauber unverfälschter Aromen.

Insbesondere junge Weinfreaks, die sich von uniformen Geschmäckern zunehmend gelangweilt zeigten, priesen die neue Freiheit des Trinkens. Konservativere Gaumen hingegen blieben verständnislos zurück.

Während bei uns noch gestritten wurde, zelebrierte man von Kopenhagen über Paris bis Chicago und Tokio längst den neuen Purismus im Glas. Der Trend der „wilden“ Weine ging wie ein Virus um die Welt und verzückte erlebnishungrige Sommeliers.
Ihren Ausgang nahm die Bewegung in den 1980er-Jahren in Frankreich. Im Beaujolais schloss sich eine kleine Winzergruppe rund um Marcel Lapierre zusammen – sie hatte die Nase voll von der zunehmenden Industrialisierung der modernen Weinproduktion.

Die Avantgardebewegung wuchs rasant: Biowinzer rund um den Globus wollten plötzlich wieder Weine keltern wie ihre Großväter.

Auf die Schikanen ultramoderner Kellertechnologie wird dabei bewusst verzichtet – statt Zucht und Ordnung herrscht seither lais­sez faire in ihren Kellern: Vergoren wird spontan mit wilden Hefen, die Schwefelzugabe drastisch reduziert oder gestrichen, auf Schönung und Filtration verzichtet. Natural Wines sind quasi ein Gegenentwurf zu ­jenen Gewächsen, die mithilfe technischer Manipulationen und allerlei legaler Hilfsmittel auf ein jeweiliges Ideal getrimmt werden. Laut EU-Gesetz sind über 50 Behandlungsmethoden bei der Vinifikation zulässig. Von Mostkonzentration bis hin zu Zutaten wie Holzchips, Gummi arabicum, Aromahefen und -enzymen reicht der Bauchladen der ­Agrokonzerne.

Vor zehn Jahren nahm die Natural-Wine-Bewegung dann so richtig Fahrt auf: Als das Restaurant Noma in Kopenhagen 2010 erstmals zum besten Restaurant der Welt gekürt wurde, startete ein weltweiter Hype um die unverfälschten Weine. Zur ursprünglichen Nordic Cuisine mit ihren aromatischen Eskapaden suchte man nach ebenso verwegenen önologischen Abenteuern. Mads Kleppe, Head Sommelier des Noma, avancierte zum Guru der Naturweinszene. Statt der üblichen glamourösen Etiketten fanden sich auf seiner extravaganten Karte Gewächse aus den Hinterhöfen der Weinwelt. Lang verschmähten Anbaugebieten von Savoyen über Roussillon und Jura bis hin zu Sizilien und Slowenien verhalf er zu Ruhm und Glanz. Selbst Naturweinwinzer aus Österreich, die in ihrer Heimat weitgehend auf taube Gaumen stießen, wurden in Kopenhagen wie Popstars gefeiert.

Glaubten Skeptiker zu Beginn noch an eine vorübergehende modische Verirrung, ist die Fachwelt inzwischen überzeugt, dass Naturweine gekommen sind, um zu bleiben. Christian Zach, Sommelier und Restaurantleiter der Weinbank in Gamlitz, sieht in den unangepassten Gewächsen die Zukunft: „Natural Wines sind kein schnelllebiger Trend, sondern ein Dauerbrenner – und es werden noch mehr werden!“ Namhafte Bordelaiser sucht man auf seiner Karte vergebens, dafür finden sich unorthodoxe Tropfen aus der Südsteiermark und ausgewählten exotischen Destinationen. Inzwischen würden 90 Prozent seiner Gäste die von ihm empfohlene Weinbegleitung wählen. Voraussetzung sei ein Vertrauens­verhältnis zwischen Sommelier und Gast – dann könne man sich önologisch auch mal weiter aus dem Fenster lehnen. Freilich offeriert er auch Klassiker für jene Gäste, die sich von den ungezähmten Aromen schlicht überfordert zeigen.

Nicht jeder Winzer beherrscht schließlich die Kunst des neuen alten Weinstils. Auf der Suche nach den Grenzen des kon­trollierten Nichtstuns im Keller verstiegen sich einige auch ins ungenießbare Fach. So mancher Stoff, der natürlich sein wollte, offenbarte sich als sensorische Zumutung.

Um als Laie zwischen gut und böse zu unterscheiden, braucht es daher den Beistand von Profis mit Weitblick – die sehen die ganze Chose mitunter pragmatisch: „Ob die Winzer nach Mondphasen ernten oder Kuhhörner eingraben, ist mir ziemlich egal“, sagt Hermann Botolen, „gut muss es sein.“ Der ­erfahrene Sommelier sieht es als die Aufgabe seiner Branche, die besten Tropfen jedes Genres aufzuspüren. Dazu brauche es tagtägliche Beschäftigung mit der Materie.

Der Naturweinhändler Dominik Portune glaubt allerdings, dass die Zeiten der Ausschweifungen weitgehend überwunden sind: „Die Qualität heute ist wesentlich höher als noch vor einigen Jahren“, konstatiert er. Olfaktorische Entgleisungen erlebe man immer seltener. Portune verkauft in seinem Laden mit dem bezeichnenden Namen Vino Nudo, also „Nackter Wein“, eine exklusive Auswahl an feinstem Stoff aus Italien, Slowenien und Österreich. Inzwischen gibt es zumindest in Wien etliche Bars, Vinotheken und Bistros, die sich auf die „wilden Tropfen“ spezialisieren.

Allmählich erobern sie auch die Weinkarten der Spitzengastronomie im restlichen Österreich. Die haben es hingegen deutlich schwerer, müssen sie doch beide Lager zufriedenstellen: glühende Anhänger genauso wie hartnäckige Gegner der Naturweine.
Alexander Koblinger etwa, Chefsommelier des hochdekorierten Restaurants Döllerer im Salzburger Land, kombiniert die feinsinnigen Kreationen aus der Küche gerne mit den undressierten Gewächsen. Statt Süße und Opulenz funktionieren sie über zarte würzige Aromen, ideal für Food and Wine Pairings. Es brauche aber noch einiges an Fingerspitzengefühl: Erkläre man den Gästen die Idee hinter den unkonventionellen Weinen, würden viele ihre Vorurteile durchaus ablegen. Belehren oder gar bekehren wolle er aber niemanden.

Sommeliers müssten für neue önologische Strömungen offen sein, glaubt auch René Antrag, Chefsommelier des legendären Steirerecks in Wien. Er setzt auf einen Mix aus Altbewährtem und Avantgarde, dabei will er das Beste aus beiden Welten anbieten: „Dafür braucht es Expertise, Persönlichkeit und Gespür für die Gäste.“ Nicht zuletzt wollten viele Gourmets ja auch von ihm önologisch überrascht werden.

In Anbetracht der Wahrscheinlichkeit, dass uns Natural Wines noch eine ganze Weile begleiten werden, könnten sich dann langsam auch die Gemüter von Freund und Feind wieder beruhigen. Missionare und Geschmacksapostel auf beiden Seiten dürfen sich getrost in ihre jeweiligen Lager zurückziehen und jeden wieder trinken lassen, was ihm schmeckt.