Neigungsgruppe Pils

Pils ist das eleganteste Bier im Spektrum sämtlicher Brauwerke, quasi der Riesling unter den Bieren. Und obwohl es wirklich viele großartige Pilse in Österreich gibt, ist der Ausstoß minimal, bleibt das helle, knackige, feinbittere Getränk ein Minderheitenprogramm. Der Versuch einer Erklärung.

Text von Florian Holzer Foto vom Getty Images

Hellgolden wie der Himmel an einem zart nebligen Septembermorgen. Duftend nach frischem Heu, nach Wildkräutern, ein bisschen nach Pinienharz mit nur einer Ahnung Malz, leicht und erfrischend am Gaumen mit lebendiger Bittere, cremig perlend … Nein, nicht von Champagner, vom Pils ist die Rede.

Pils ist ein großartiges Bier. Das Pils beziehungsweise das Bier aus der böhmischen Stadt Pilsen stand mehr oder weniger am Anfang aller modernen untergärigen Biere. 1842 wurde es von Josef Groll erfunden, der bayerische Braumeister wurde von den brauberechtigten Bürgern Pilsens engagiert, um endlich ein gutes Bier zu brauen. Ihr trübes, dunkles und rasch verderbliches Bier ging ihnen auf die Nerven, sie wollten es nicht länger trinken. Groll kannte sich mit der untergärigen Braumethode aus, mit den helleren Malzen, mit der langsamen und kühlen Vergärung, mit der Klärung und Stabilisierung durch lange Lagerung in eisgekühlten Höhlen und Kellern. Schon sein Vater hatte, wie viele Braumeister im damaligen Bayern, an der Methode gefeilt, Groll war also absolut „into it“, wie man heute sagen würde.

Und er traute sich die Aufgabe zu, schließlich war das Klima ähnlich wie in Bayern, es gab Höhlen, man konnte Eis einlagern, und es gab den Willen der Bürger von Pilsen, ordentlich Geld in den Bau eines für damalige Verhältnisse hochmodernen Bürgerlichen Brauhauses zu investieren. Und dennoch braute Josef Groll aus Vilshofen im Landkreis Passau, 26 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt, dort kein Bier, wie es in Bayern üblich war. Denn das böhmische Wasser war weich, er ließ das Malz sehr schonend und langsam darren, was ihm eine sehr helle Farbe und einen nur sehr dezenten Malzgeschmack verlieh, und er griff zu einem lokalen Hopfen aus Žatec/Saaz. Das Ergebnis war ein helles Bier von einer Feinheit und Eleganz, wie man es bis dahin noch nie getrunken hatte. Die Bürger von Pilsen waren begeistert, tranken es in Strömen, der Rest der Welt tat es ihnen bald gleich.

Die Groll’sche Bier-Rezeptur wurde rasch „nach Pilsner Art“ genannt, was ein bisschen umständlich ist, es dauerte also nicht ­lange, bis helle, elegante, mittelleichte untergärige Lagerbiere mit deutlichem Hopfenaroma und Bitternote zum Four-Letter-Bier wurden: Pils. Pils trinkt man heute übrigens mit großer Überzeugung auf der ganzen Welt, in Deutschland, einem nicht gerade unwesentlichen Bier-Land, trinkt man sogar hauptsächlich Pils.

Auf der ganzen Welt – allerdings nicht in Österreich. In Österreich beläuft sich der Anteil des jährlich ausgestoßenen Pils-Bieres am Gesamt­volumen auf 3,28 Prozent, was wirklich bemerkenswert wenig ist, das entspricht nicht einmal dem Anteil von Riesling am heimischen Rebflächenbestand (4,3 %). „Wir hätten wirklich genügend gute Pils-Biere in Österreich, um damit richtig groß rauszukommen“, sagt Bier-Sommelier-Weltmeister und Braumeister Karl Schiffner, „aber der Ausstoß ist minimal.“

Woran kann das liegen? Nun ja, zuerst einmal an der unerbittlichen Dominanz des Märzen-Biers am österreichischen Markt, das zu gut 60 Prozent die heimischen Krügerln und Seiderln füllt. Dann natürlich auch daran, dass es schwierig ist, das Pils genau zu definieren. Denn im Lauf der vergangenen 177 Jahre haben sich einige Pils-Typen herausgebildet, die auf den ersten Blick nur wenig miteinander zu tun haben. Als da wären das „klassische“ böhmische Pilsener, relativ dunkel in der Farbe, mollig, wenig Kohlensäure und mit markanten Bitternoten ausgestattet; dann der norddeutsche Pils-Typ, strahlend hell, spritzig und mit mitunter überaus deutlichen Hopfenaromen, „straight“, wie Karl Schiffner diese Biere bezeichnet; und schließlich die Kategorie der süddeutschen/oberösterreichischen Pils-Typen, die da irgendwo dazwischen liegen, aber ebenfalls einen sehr eigenen Charakter besitzen, hell, aber durchaus mit Körper ausgestattet, vom Hopfen sowohl die Bittere als auch das Aroma vorhanden, lebendig, aber auch ein bisschen cremig. Und wenn man dann noch bedenkt, dass selbst der böhmische Typ noch in ein paar Unterkategorien aufgefächert wird, es schließlich noch die Sparte des trüben Keller-Pils gibt, in den vergangenen Jahren seitens der Craftbeer-Macher die sogenannten „Kreativ-Pilse“ beigefügt wurden und gar nicht so selten auch irgendwelche Hellen oder Lagerbiere als Pils bezeichnet werden, „ist das Publikum total überfordert“.

Wirklich klassische böhmische Pilsner-Biere werden in Österreich zwar widerstandslos getrunken, haben es punkto Identifizierung und USP allerdings am schwersten. Eine Brauerei, die sich damit einigermaßen leicht zu tun scheint, hat freilich die besten Voraussetzungen dafür, nämlich 1,7 Kilometer bis zur tschechischen Grenze: Beim Hubertus Bräu in Laa an der Thaya pflegt man die Tradition des böhmischen Bieres nicht nur, indem man selbstverständlich helles Malz und selbstverständlich klassischen Hopfen aus Saaz und Hallertau verwendet, in Laa wird das Pils so ernst genommen, dass man es sogar in zweifacher Ausfertigung braut, einerseits das klassische goldfarbene und stark vom Hopfen geprägte Pils, andererseits das sogenannte „Herrn Pils“, länger gereift, nur von Saazer Hopfen verbittert, etwas höher in der Gradation, aber auch sehr hoch vergoren, ein absoluter Klassiker.

Dass auch dieser „klassische“ Stil seinen Reiz hat, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass sich selbst die Craftbeer-Community daran versucht, sei es Markus Führer in seiner Gablitzer Privatbrauerei, dessen zartcremiges, von Celeja-Aromahopfen geprägtes böhmisches Pils alias „Gablitzer Original“ sogar zum Standardprogramm zählt, sei es Stiegl-Kreativbraumeister Markus Trinker, der Anfang des Jahres sein „Hausbier“ No. 30 herausbrachte, ein Bier namens „Butterblume“, das ebenfalls nach Vorbild der Ikonen aus Nordböhmen gebraut wurde.

Die in Österreich häufigste Erscheinungsform des Pils ist wohl jene, wie sie im Mühl- und Innviertel gebraut wird, hell, trocken, hopfenbetont und mitunter auch durchaus ein bisschen bitter, aber elegant, belebend und spritzig, ein Bier, bei dem sich der heimische Märzen-Freund nicht abwenden muss, sondern freudig erstaunt zur Kenntnis nimmt, dass helles Bier auch nach etwas schmecken kann. Baumgartner sei da genannt, das großartige Pils der Uttendorfer Brauerei, das Rasch­ofer Pils, das Pils der Brau-Avantgardisten in Hofstetten, das Freistädter Junghopfenpils, und sogar die Brauerei in Ried, als absolute Weißbier-­Spezialistin bekannt, hat ein überaus lebendiges, elegantes Pils im Talon.

Das vielleicht beste dieser Regionalisten ist aber wahrscheinlich das „Pils de Luxe“ der Brauerei Schnaitl in Gundertshausen. Es handle sich um eine „gewachsene Biergattung“, erklärt Matthias Schnaitl IV, die es in der Innviertler Traditionsbrauerei keineswegs immer schon gegeben habe. Aber in den 50er- und 60er-Jahren, als deutsche Biere nach Österreich drangen, probierte man dieses helle, höher vergorene und mit mehr Hopfenbittere ausgestattete Bier halt auch einmal aus, „als Ergänzung zum Märzen und zum Dunklen und mit einer etwas edleren Anmutung“. Vor 30 Jahren habe man sogar einen Pils-Test des Konsumentenmagazins Der Konsument gewonnen, erzählt Matthias Schnaitl, wiewohl die Zahl der Kandidaten damals noch recht klein gewesen sei. Und in den 90ern habe ihr damals aus Deutschland stammende Braumeister die Idee mit dem Titel „de Luxe“ gehabt. Matthias Schnaitl, der ein bescheidener Mann ist, scheint mit dieser Bezeichnung jetzt gar nicht allzu glücklich zu sein, tatsächlich wird er diesem sorgfältig und mit ausschließlich österreichischem Aromahopfen (Saphir, Aurora, Hersbrucker) gebrauten Bier aber durchaus gerecht, und nachdem dieses Bier immerhin das erste der Brauerei war, das man in den 90ern in die Aperitif-freundliche 0,33-Liter-Flasche füllte, lernte man offenbar, damit zu leben.

Und es ist sehr schön zu beobachten, wie die Tradition dieses Bieres in Oberösterreich nicht nur allenthalben aufgegriffen, sondern auch weiterentwickelt wird. Von den Beer Buddies zum Beispiel, den Freunden Andreas Weilhartner und Christian Semper, die ganz der typischen Craftbeer-Mythologie entsprechend aus ihrem Brau-Hobby Ernst machen wollten, 2014 einen alten Gutshof mit Tiefbrunnen (2,5° weiches Wasser!) in Tragwein übernahmen und hier seit fünf Jahren wirklich bemerkenswerte Biere einerseits der typischen Craftbeer-Stilistik als auch modernisierte Klassiker brauen. Nachdem für sie nur Biozutaten aus dem Mühlviertel in Frage kämen, erklärt Weilhartner, seien sie bei der Kreation eines Pils ein wenig eingeschränkt ­gewesen, „weil es gibt keinen Mühlviertler Bio-Bitterhopfen“. Also nahmen sie für ihr Bio-Pils einfach mehr der drei verfügbaren Aromahopfen, und Hopfen-gestopft wurde am Schluss auch noch. Nachdem ihr Märzen eher in die bayerische Richtung gehe, also dunkler und etwas malziger ausgelegt sei, erfülle das Pils da die Rolle des hellen Bieres sehr gut, so Weilhartner, so gut, dass es 2017, als die Beer Buddies auch noch ein ­Lokal aufmachten, gleich zum Hausbier wurde. Und dass hier seit Kurzem mexikanisch gekocht werde, störe gar nicht, „da passt das Pils super dazu“.

Auch das Pils namens „Meisterstück“ passt super zu allerhand gutem Essen, Mario Scheckenberger braute es schon vor 20 Jahren, als er noch Hobbybrauer war, und hat es mittlerweile auch schon in zwanzig verschiedenen Varianten probiert. Immerhin, 2013 und 2014 errangen er und seine Bierschmiede damit den Staatsmeistertitel, als kleinste Brauerei bis dahin. Die Auszeichnungen trudeln seitdem nur so ein. Die Herausforderung beim Pils sei, dass man jeden Fehler sofort bemerke, so Scheckenberger, „hell, schlank, hoch vergoren, trocken, da kannst nichts übertönen oder verdecken, da schmeckt man alles, es ist das Bier mit der gewissen Reinheit“. Das Geheimnis, so weit er es verraten möchte, liege einerseits am aus der Stein­bacher Ortswasserleitung stammenden Wasser mit ­einem relativ hohen Zinkgehalt, an den drei Gaben von Celeja-Aromahopfen und am Schluss noch einem Durchgang mit fein-aromatischem Citra-Hopfen. 35 Bittereinheiten, feine Perlage nur durch natürliche Gärungs-Kohlensäure – so sieht das moderne Austro-Pils aus.

Oder natürlich so, wie es die Trumer Privatbrauerei braut. Trumer ist tatsächlich die einzige Brauerei in Österreich, die explizit auf das Pils setzt, das sei eine mutige Entscheidung seines Vaters in den späten 80ern ge­wesen, verrät Josef „Seppi“ Sigl, „um sich in einem Massen-Märzen-Markt zu positionieren“. Pils sei faszinierend, so Sigl, „weil man es in vielen ­Varianten brauen kann, die alle spannend sind“. In Obertrum sind das neben dem Standard-Pils, das in einem speziell konstruierten und allein schon vom Design her bemerkenswerten Behälter offen vergoren wird und dessen Vorbilder die norddeutschen Pilse sind, „aber mit einer milderen Bittere“, etwa das fruchtig-bitter angelegte Leicht-Pils „Hopfenspiel“ oder das höhergradig gebraute „Imperial Pils“ mit reichlicher Verwendung des Hopfens der Sorte Kazbek. „In der Vielseitigkeit liegt viel Spaß“, sagt Seppi Sigl, und Spaß bereite ihm auch, dass das Pils der seit 2004 in Berkeley, Kalifornien, gebrauten Trumer-Niederlassung einen völlig eigenen Stellenwert besitze, „das ist dort einerseits neben den dünnen Domestic-Bieren, andererseits neben den ex­trem konzentrierten IPAs der Craftbeer-Macher ein Bier der Mitte“.

Und nicht zu vergessen: die Brau-Union. Österreichs Bier-Marktführer, die Union der Brauereien Gösser, Zipfer, Schwechater, Wieselburger, Schladminger, Puntigamer/Reininghaus und Kaltenhausen, seit 2003 im Besitz des Heineken-Konzerns, hat einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Renaissance, zur Wertschätzung und vor allem zur Positionierung des Pils als hochwertiges Aperitif-Bier in der Gastronomie geleistet. Mit dem Reininghaus Jahrgangs-Pils nämlich.

Man wollte 2002 ein Bier brauen, das die langjährige Partnerschaft mit den Hopfenbauern in Leutschach zum Ausdruck bringen sollte, erinnert sich Braumeister An­dreas Werner, „eine Hommage“. Die Idee dahinter war, etwaige Jahrgangsschwankungen in Aroma und Bittere im Bier zuzulassen, und beim Thema Hopfen und hopfengeprägtes Bier landete man – IPA & Co waren damals in Österreich noch völlig unbekannt – zwangsläufig beim Pils. Das mit den Jahrgangsunterschieden habe sich in den vergangenen 17 Jahren zwar als kaum relevant herausgestellt, so Werner, „die waren minimal, aber auch diese Erfahrung haben wir einmal ­machen müssen“.