Rebschnitt ist sexy


Im Friaul haben ein paar Weinbauspezialisten eine Form des Rebschnitts erfunden, die vor allem bei Winzern mit stark ausgeprägtem Naturbezug weltweit sehr gut ankommt.

Text von Georges Desrues

Selbst wenn der Rebschnitt zu den wesentlichsten Schritten in der Erzeugung von gutem Wein zählt – als den glamourösesten unter ihnen kann man ihn wohl kaum bezeichnen. Doch Marco Simonit sieht das offenbar anders. Was vermutlich auch daran liegt, dass der Mann Italiener ist. Und sich als solcher wie kein anderer darin versteht, auf den ersten Blick eher banal erscheinende Tätigkeiten wie etwa das Backen von Pizzas, das Fahren von Vespa-Rollern oder eben das Beschneiden von Rebstöcken in Akte der coolen Selbstdarstellung umzuwandeln.

In seinem Büro in der Weinbauregion Collio im Nordosten Italiens empfängt Simonit in Designer-Latzhose und bunt kariertem Holzfällerhemd. Die schneeweiße Mähne trägt er struppig gestylt, den gleichfalls weißen Bart säuberlich gepflegt. Alles in allem sieht der 50-Jährige aus, als käme er gerade von einem Foto­shooting für eine Outdoor-Strecke in der Herbstausgabe eines Modemagazins. Kein Wunder also, dass selbst die italienische Vogue schon über den Agronomen berichtete. Und dass man seine Firma auch immer wieder „Gucci“ oder „Prada des Weinbaus“ nennt.

Doch sollte das geschniegelte Äußere keinesfalls ­darüber hinwegtäuschen, dass Simonit und sein Geschäftspartner Pierpaolo Sirch als wahre Koryphäen ihres Fachs gelten. Gemeinsam haben sie eine eigene Rebschnitt-Technik entwickelt, die so effektiv und überzeugend ist, dass die beiden von einigen der renommiertesten Winzer und Weingüter auf der ganzen Welt engagiert werden. Zudem geben sie ihr Wissen und ihre Technik an mehreren Weinbauschulen weiter und unterrichten sogar an einer Universität, und zwar an keiner Geringeren als der prestigeträchtigen Weinbau-Universität von Bordeaux.

Und was genau macht den Rebschnitt von Simonit und Sirch so besonders (und so cool)? Dazu muss man wissen, dass es im Weinbau allgemein üblich ist, die meisten neuen Triebe an den Reben jeden Winter abzuschneiden, um den Saftfluss der Pflanze in den einigen wenigen zu konzentrieren, die dranbleiben und Trauben tragen werden. Der Rebschnitt ist also ein Mittel zur Kontrolle der Menge und somit der Qualität der Trauben, die im Herbst geerntet werden.

„Beim Beschneiden der Reben fügt man der Pflanze unweigerlich Wunden zu“, erklärt Marco Simonit, „deren Anzahl nimmt naturgemäß jedes Jahr zu, und da die Weinrebe im Unterschied etwa zu einem Baum ihre Wunden nicht verschließen kann, trocknen diese einfach aus, und es entsteht eine Art trockener Kegel im Holz unter den Wunden, was wiederum die Säfte am Fließen behindert.“

Durch den alljährlich wiederholten Schnitt bildet sich bei einer konventionell geschnittenen Rebe ein sogenannter Kopf, also eine Art Knoten, in dem es vor derartigen ausgetrockneten Stellen nur so wimmelt. „Das blockiert natürlich den Saftfluss, deswegen trachten wir danach, dass sich statt eines Kopfes zwei seitliche Äste bilden – wir nennen sie Kanäle –, auf denen die Triebe dann wachsen. Sodass die Saftströme unter den Schnittwunden hindurch durch die Triebe bis in die Blätter und Trauben fließen können“, betont Simonit.

Was nach einer recht simplen Technik klingt, war einst auch allgemein verbreitetes Wissen unter den Winzern. Doch durch die Intensivierung des Weinbaus in den 1970er-Jahren wurde es weitgehend vergessen.

„Die Weinrebe ist bekanntlich eine Schlingpflanze, braucht also Raum, um zu wachsen und sich entfalten zu können, doch mit den ,modernen‘ Methoden, die vor ungefähr fünfzig Jahren weltweit eingeführt wurden und darauf abzielten, möglichst viele Reben in ein und demselben Weingarten zu pflanzen, wird ihr dieser Raum verwehrt“, fährt Simonit fort.

Um ein möglichst langes und gesundes Leben zu führen, müsse der Rebe erlaubt werden, besagte Äste zu entwickeln, die im Laufe der Zeit immer länger werden. Eine ältere Pflanze brauche folglich auch mehr Platz als eine junge. „Obwohl das mehr als logisch scheint, wird dieses fundamentale Prinzip im modernen Weinbau ignoriert. Um nämlich die Produktionskosten zu senken und am internationalen Markt bestehen zu können, wird die Rebe durch den klassischen Schnitt auf standardisierte Formen und Dimensionen zurückgeschnitten“, so Simonit.

Als gesichert gilt, dass aus alten Reben geschmacklich komplexere Weine fließen, wie auch Alwin Jurtschitsch bestätigt. Der 35-jährige Kamptaler Winzer zählt zu den zahlreichen zufriedenen Kunden der friulanischen Rebschneider. Seit einigen Jahren stellt er das Traditionsweingut der Familie um und setzt dabei stark auf möglichst naturbelassene Anbaumethoden und Weine.

„Abgesehen von der Umstellung der Weingärten auf Bio, war die Begegnung mit Simonit und Stirch wohl die allerbedeutendste Veränderung, die wir im Weingarten vollzogen haben“, beteuert Jurtschitsch. „Bis dahin war ich immer etwas unzufrieden mit meinen Reben und wie sie alterten. Manchmal dachte ich mir, vielleicht liegt es am Boden oder an irgendetwas sonst, dass ich einfach noch nicht die notwendige Balance ­gefunden habe.“

Auf den Rebschnitt wäre er dabei jedenfalls nicht gekommen. „Dem habe ich zu dem Zeitpunkt noch kaum Bedeutung beigemessen. Im Winter bin ich lieber in den Süden gefahren, etwa zur Weinernte nach Australien, anstatt bei Schnee und Kälte draußen zu stehen und Reben zu schneiden“, sagt er.

Durch die drei Jahre dauernde Zusammenarbeit mit den Italienern, die sich selbst gerne als the Pruning Guys, also als die Rebschnitt-Jungs, bezeichnen, sieht er das heute völlig anders.

„Inzwischen frage ich mich, warum wir bloß nicht schon früher nach ihrer Methode gearbeitet haben. Heute stellen wir eine viel bessere Einheitlichkeit bei den Trauben im Weingarten fest. Rebstöcke, auf denen früher ein Trieb gut verholzt war und ein anderer grün geblieben ist, werden heute völlig gleichmäßig versorgt“, sagt Jurtschitsch, der sich selbst gerne im hippen Outfit mit Vollbart und fescher Tweedkappe zeigt.

So sei der sanfte Rebschnitt der Italiener mittlerweile auch zur Leidenschaft aller Beschäftigten am Weingut geworden. „Unsere Mitarbeiter markieren sogar die Rebzeilen, in denen sie schneiden, damit sie ihre Arbeit im folgenden Jahr wiederfinden und kontrollieren können“, sagt der Winzer.

Außerdem verzichte man inzwischen auf die einstmals verwendete pneumatische Schere und sei wieder zur guten alten Handschere zurückgekehrt. Die sei vielleicht arbeitsintensiver, ermögliche aber gleichzeitig ein behutsameres und präziseres Arbeiten am Rebstock.

Wie man so eine Handschere effektvoll bedient, demonstriert Marco Simonit in ­seinem Versuchsweingarten im Friaul, bei ­dessen Betreten er erstaunlicherweise keinerlei Ängste davor zeigt, sich schmutzig zu machen. Breitbeinig stellt er sich vor eine Rebe, erklärt nochmals genau, wie man sie richtig sanft beschneidet und illustriert seine Aussagen durch äußerst eleganten und geschmeidigen Umgang mit der Gartenschere – womit er aufs Neue an so manchen inszenierungs- und selbstverliebten Pizzaiolo erinnert.
„Natürlich geht es auch um das Landschaftsbild“, betont der Agronom, „im modernen Weinbau hat sich ab den 1970er-Jahren eine Vereinfachung in der Gestaltung der Weingärten durchgesetzt, bei der weniger auf die sor­tentypische Morphologie der Pflanze als auf geordnete Geometrie wertgelegt wurde. Dabei sollte doch auch das Erscheinungsbild eine bedeutende Rolle spielen.“

Dass der modisch gestylte Italiener das so sieht, versteht sich gewissermaßen von selbst. Und zeigt sich auch daran, dass alle seine zwanzig Mitarbeiter die Arbeit in den Weingärten gleichfalls in karierten Hemden und ähnlich geschliffenem Hipster-Look wie ihr Chef verrichten. „Den Rebschnitt-Jungs ist es zu verdanken“, sagt darum auch der Winzer Jurtschitsch, „dass der lange Zeit stiefmütterlich behandelte Rebschnitt heute als ziemlich sexy gilt.“