Tschin Bum – Der Gin-Boom

Der aktuelle Cocktail-Boom rückte eine seiner wichtigsten Zutaten in ein völlig neues Licht: Der Gin trat aus dem Schatten der Anonymität, wurde edel, exklusiv und teuer.

Tschin Bum – Der Gin-Boom

Text von Florian Holzer Fotos: Luzia Ellert
Gin hat man zwar, man zeigt ihn aber nicht her. Nicht wie die raren Single Malts aus den Lost Destilleries, nicht wie die Rhums Agricoles, nicht wie die alten Armagnacs und die uralten Cognacs. Jeder Edelbrand irgendeiner steirischen Apfelsorte genießt für gewöhnlich größere Aufmerksamkeit und wird von Besitzern kleinerer oder größerer Spirituosen-Menagerien stolzer präsentiert als der Gin. Mit Gin kann man nicht angeben.
Gin war und ist eine Dienstleistungs-Spirituose, über die in den vergangenen Jahren nicht viel nachgedacht wurde. Klar, man wusste, dass es bessere und weniger gute gibt, etwas teurere und wirklich billige und dass sich Lady Elizabeth Angela Marguerite Bowes-Lyon, die legendäre Queen Mum, gerne mal an einer Mischung mit Tonic erfrischte. Freilich, "eine Bar ohne Gin ist wie die italienische Küche ohne Pasta", schreibt der Münchner Bar-Guru Charles Schumann. "Mit keiner anderen Spirituose wurden so viele Cocktails und Drinks kreiert." Sie sei "die Spirituose Nummer eins an der Bar". Allerdings: Spannend oder cool war Gin schon lange nicht mehr. "Es hat keiner geglaubt, dass Gin einmal interessant werden kann", meint Österreichs Brenner-Ikone und Innovator in Sachen Edelbrand, Hans Reisetbauer. Wurde er jetzt aber doch, und wie. Wobei schwer zu sagen ist, ob das aktuelle Cocktailbar-Revival und die derzeit stattfindende Revolution der Mixgetränke, wie wir sie zur Zeit in allen nennenswerten Weltstädten feststellen können, dem Gin seine neue Bedeutung verlieh oder ob es sich um eine parallele Entwicklung handelte. Oder ob gar die Spirituosenkonzerne nach Whisky, Rum, Wodka und Tequila nun eben auch dem letzten der Big Five ein neues, gewinnbringendes Image zu verpassen trachteten. Wahrscheinlich trifft alles ein bisschen zu.
Tatsache ist: Gin ist hip, Gin ist cool – und Gin wird gerade edel. Die Nielsen-Zahlen besagen, dass der Gin von 2008 bis 2009 um 5,2% zugelegt hat, das ist einerseits beeindruckend, andererseits weisen Wodka und Cognac ähnlich gute Werte auf, Import-Rum sogar 25%. Hier handelt es sich allerdings um die Zahlen im Lebensmittel-Einzelhandel – und dort spielen die neuen Edel-Gins, die vor einigen Jahren das Licht der Welt erblickten, eine vergleichsweise geringe bis gar keine Rolle.
Die neuen Gins trifft man in der Topgastronomie, in den guten Bars und bei wohlhabenden Trendsettern. Erstaunlich, denn bis vor gar nicht allzu langer Zeit hatte der mit Wacholder, Koriandersamen und sonst noch so einigen Gewürzen versetzte, viermal zu Neutralsprit gebrannte Getreidebrand ein durchaus proletarisches Image, das ihm nachhaltig anhaftete: Der holländische Professor und Anatom Franciscus de le Boi Sylvius brannte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die erste "Essence de Genivre", einen Wacholdergeist, damals noch zu medizinischen Zwecken. Im 18. Jahrhundert gelangte der "Genever" nach England, wurde dort bald massenhaft und in entsetzlich schlechter Qualität gebrannt und bald zum tragischen Schicksal der englischen Unterschicht. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts wurden Gesetze zur Qualitätssicherung verabschiedet, 1830 stand mit der kontinuierlichen Destillation von Aeneas Coffey die Technik zur Verfügung, "sauberen" Alkohol für die Ginproduktion herstellen zu können. Das Image des mit Kräutern und Gewürzen aromatisierten Sprits verbesserte sich, nicht zuletzt mit der Etablierung des "London Dry Gin" wurde er Standard. Mit der Erfindung des "Martinez", später "Martini" – des Cocktails unter den Cocktails – irgendwann Ende des 19. Jahrhunderts war der Gin schließlich wichtigste Spirituose im Bar-Universum.
Die neue Generation
Wer auf sich hielt, mixte seine Gin Tonics, seine Gimlets, seine Gibsons, seine Tom Collins oder Pink Ladies und natürlich die Martinis mit namhafter Ware, die in den vergangenen Epochen hauptsächlich die Namen "Bombay Sapphire" (mit Wasser aus dem walisischen See Vyrnwy verdünnt) und "Tanqueray" trug. Im Zuge der Spezialisierung und des "Small Batch"-Trends bei Spirits wie Wodka, Tequila und Bourbon der vergangenen Jahre tauchten dann aber auch die ersten Sonderabfüllungen von Gin auf. Tanqueray brachte im Jahr 2000 den "Tanqueray Ten" auf den Markt, der Name rührt daher, dass die vierte und letzte Destillation in einer kleinen ehemaligen Experimental-Brennblase aus dem
19. Jahrhundert namens "Tiny Ten" durchgeführt wird. Da passen nur 400 Liter hinein (im Gegensatz zu den 12.000 der normalen Tanqueray-Anlage), also "Small Batch", außerdem werden neben den diversen Gewürzen (Wacholder, Koriander, Kamille, Angelika …) noch frische Zitrusfrüchte mitdestilliert. Das Ergebnis ist ein delikater Gin ohne jede Vordergründigkeit, mit einer ganz feinen, fruchtigen Zitrus-Zusatznote hintenweg. Noch exklusiver (und teurer) ist der seit 2006 abgefüllte "Tanqueray Rangpur", für dessen Zitrusnote die aromatischen Rangpur-Früchte mitdestilliert werden. Ursprünglich war dieser exklusive Gin dem amerikanischen Markt vorbehalten, mittlerweile bekommt man ihn aber auch schon in Europa.
Auch "Beefeater", zuverlässiger Traditions-Gin aus London und bisher schon mit einem 50%igen "Crown Jewel" auf dem Exklusivmarkt vertreten, brachte nun mit dem "24" einen neuen Gin heraus, für dessen Würze die neun Ingredienzen 24 Stunden gemaischt werden. Aus Frankreich stammt der relativ neue "G’Vine", ein überaus exklusiver Gin auf Weinbrand-Basis, der neben den neun mehr oder weniger üblichen Gin-Gewürzen und -Aromen auch noch eine Essenz aus Weinblüten ("Floraison") oder winzigen grünen Trauben der Ugni-Blanc-Rebe ("Nouaison") mitbekommt.
Der Edel-Gin der neuen Generation schlechthin aber ist zweifellos der schottische "Hendrick’s", der seit 2003 von William Grant & Sons Ltd, besser bekannt als Hersteller der namhaften Single Malts "Glenfiddich" und "The Balvenie", gebrannt wird.
Alles an diesem Gin ist speziell und marketingtechnisch perfekt ausgeklügelt: Die individuellen Extraaromen stammen von der bulgarischen Rose und von Gurke, was nur im ersten Augenblick seltsam klingt, denn Gurke ist derzeit eine der Lieblingszutaten innovativer Bartender; der letzte der vier Brenndurchgänge findet in einer Carter-Head-Destille statt, was insofern bemerkenswert ist, als die drei bisher bestehenden Exemplare dieser Apparatur, bei der die Alkoholdämpfe über die Kräuter und Gewürze streichen, exklusiv von Bombay Sapphire verwendet wurden. Für den "Hendrick’s" wurde eine vierte Destille mit 550 Liter Fassungsvermögen aus dem Jahr 1880 renoviert und wieder betriebsfähig gemacht. Entsprechend die Aufmachung der Flasche, bei der man sich an das Design alter Apothekenflaschen anlehnt und die man außerdem mit Kork verschließt, und nicht zuletzt das Marketing, das sich ganz dem augenblicklich grassierenden Boom von 20er-Jahre-Events verschreibt. Mit großem Erfolg, "Hendrick’s" ist durchaus so etwas wie ein Kult-Gin. In den zweieinhalb Jahren, seit man den Prestige-Gin im Programm habe, konnte der Absatz verdoppelt werden, verrät Anne Deutsch von Schlumberger.
Die Österreicher
Dass dieser Trend auch die Brenner jenes Landes, in dem es die wahrscheinlich lebendigste Edelbrandszene der Welt gibt, nicht ganz kalt lassen konnte, war irgendwie klar. Carlo Wolf, Gründer von Rungis Express, Wein Wolf und seit zwölf Jahren Besitzer der landwirtschaftlichen Delikatessenmanufaktur Landart am Attersee, ließ schon im Jahr 2000 den für die Edelbrände des Betriebs zuständigen Walter Trausner an einem Gin arbeiten, einem außerordentlich beerig-fruchtigen Gin mit frischen Zitrusnoten. Als Wolf die Leitung des Weinguts Schloss Halbturn übernahm, wechselten die Landart-Brennerei sowie die geheime Gin-Rezeptur in den Besitz des Schlosses, 2005 wurde unter verhältnismäßig großem Marketingaufwand der "Le Gin" auf den Markt geworfen – abgefüllt in einer Designerflasche mit 0,8 cm Wandstärke und einzeln aus dem Stück gedrehtem Metallverschluss. Den "Le Gin" gibt es immer noch, wenngleich man die Stückzahl auf handwerkliche 1.500 bis 2.000 Flaschen pro Jahr zurückfuhr, erklärt Halbturn-Betriebsleiter Thorsten Aumüller, "weil Wein und Schnaps zu verkaufen, sind eben doch zwei sehr unterschiedliche Sachen".
Wirklich zum Faktor wurde Gin made in Austria schließlich vor drei Jahren, als sich Hans Reisetbauer mit dem Thema befasste und den "Blue Gin" ins Leben rief. Er sei ein Geschmacksmensch und Aromen interessieren ihn, sagt der Meisterbrenner aus Thening in Oberösterreich. "Deshalb ist Wodka für mich völlig uninteressant und Gin total spannend." 27 Gewürze und Aromen maischt Hans Reisetbauer für seine Essenz ein. Wie und wie lange die Maischung abläuft, bleibt sein Geheimnis, denn: "Da muss man mit den Bitterstoffen schon sehr aufpassen." Dass der Wacholder beim Gin aber immer an erster Stelle stehen müsse, sei für ihn klar und unbestritten. Im Gegensatz zu den Vertretern aus Großbritannien brennt der Oberösterreicher nicht viermal, sondern nur dreimal, im Pot-Still-Verfahren, für das er seine Brennerei jedes Mal umbauen müsse. Allerdings sei sein "Blue Gin" eben auch kein aromatisierter Neuralsprit, vielmehr brennt er eigens und auf eigenen Feldern angebauten Weizen der extensiv zu bewirtschaftenden Sorte Mulan. "Das ist ein ganz anderer Zugang."
Reisetbauers "Spielerei mit Gewürzen" ist einer der intensivsten und definiertesten Gins, die sich derzeit am Markt befinden. Dass Gewürze, Wurzeln und aromatische Schalen im Ganzen und frisch verwendet werden, erhöht natürlich den Aufwand und folglich den Preis, bleibt aromentechnisch aber sicher nicht ohne Wirkung: Der mazedonische Wacholder wirkt unendlich präsent, unterlegt von einer Matrix aus Gewürzen, duftigen Zesten und frischen Kräuternoten. Auch der Erfolg des "Blue Gin" ist beachtlich: Vor drei Jahren wurde mit 8.000 Flaschen begonnen, mittlerweile sind es zwischen 30.000 und 40.000 Stück pro Jahr, exportiert wird weltweit in zwanzig Länder, darunter USA, Japan und Australien. "Die Leute brauchen schließlich klare Produkte, damit sie klare Cocktails machen können", sagt Hans Reisetbauer.
Und dass solche Produkte wie diese neuen, edlen, aufwendig hergestellten und letztlich kostspieligen Prestige-Gins dann nicht einfach nur mit Tonic gemischt werden, ist auch irgendwie klar.
"Infusionen" und "Ansätze" sind das Thema, frisches Gemüse, Essenzen, Chili und Ingwer, Tomate statt Cocktailkirsche, Salz statt Zucker. Und sicher kein Schirmchen.

Die Gin-Elite

Hendrick’s, William Grant & Sons ltd, Schottland, 44%.
Seit 2003 auf dem Markt, zeichnet sich dadurch aus, dass neben den elf "klassischen" Gin-Ingredienzen Engelwurz, Kamille, Kümmel, Koriander, Kubebenpfeffer, Wacholderbeeren, Zitronenschalen, Orangenschalen, Holunderbeeren, Mädesüß und Iris-Wurzel auch noch ein Extrakt von bulgarischen Rosenblättern und Gurke mitdestilliert wird. Und zwar in einer renovierten Carter-Head-Destillieranlage aus dem Jahr 1880. Wuchtiger, komplexer Gin, bei dem sich vor allem das feine Gurkenaroma individuell bemerkbar macht.
0,7 l, € 34,90 bei Interspar, € 39,99 bei Wein & Co.
Tanqueray Ten, Tanqueray, London, 47,3%.
Der 2000 auf den Markt gebrachte Edel-Gin des prestigeträchtigen Hauses Tanqueray. Wesentlicher Unterschied zum "normalen" Tanqueray ist neben dem höheren Alkoholgehalt die vierte Destillation in einer kleinen, alten Experimental-Destille mit nur 400 Litern Fassungsvermögen. Die wichtigsten Aromakomponenten sind frische Zitrusfrüchte wie weiße Grapefruits, Orangen und Limetten, die im letzten Brenndurchgang mitdestilliert werden. Ein finessenreicher, delikater Top-Gin.
1 l, € 39,99 bei Wein & Co.
Tanqueray Rangpur, Tanqueray, London, 41,3%.
Seit 2006 am Markt, in der klassischen (seit November 2009 leicht modernisierten) Tanqueray-Flasche im Stil eines Londoner Hydranten. Geringerer Alkoholgehalt als der klassische Tanqueray und der "Ten", etwas süßer, die Aroma-Komponenten sind exotische Rangpur-Zitrusfrüchte. Klassischer Mixpartner der Topliga.
1 l, € 59,90 bei Meinl am Graben.
Beefeater 24, James Burrough, London, 40%.
12 verschiedene Aromen, darunter Sencha-Tee, Veilchenwurz, Angelika und chinesischer Grüntee, werden 24 Stunden gemeinsam mit Grapefruit und Schalen der Sevilla-Orange mazeriert. Mild und aromatisch, sehr mixbar.
0,7 l, € 22,99 bei Interspar.
Bombay Sapphire, Bombay Spirits Company, England, 40/47%.
Der Bombay Sapphire ist der klassische Prestige-Gin, mild und komplex, in alten Carter-Head-Destillerien werden die zehn Kräuter und Gewürze (weniger Wacholder, mehr Iriswurzel und Koriander) mit Alkohol bedampft. Klassischerweise in der starken 47%-Version am Markt, von 2004 bis 2007 wurde aber auch eine schwächere Version hergestellt, die noch in vielen Regalen zu finden ist. Klassischer Top-Gin und ideale Cocktailzutat.
0,7 l, € 18,99 bei Interspar.
G’Vine, Diageo, Frankreich, 40%, 43,9%.
Den neuen französischen Gin auf Weinbrandbasis gibt es in zwei Varianten, versetzt mit dem Aroma von Weinblüten sowie mit dem grüner Gescheine. Der Gin ist definitiv als Luxusprodukt konzipiert, findet sein Habitat daher auch eher in lichtdurchfluteten Designer-Apartments denn in den Händen versierter Bartender.
0,7 l, € 59,90 bei Meinl am Graben.
Blue Gin, Blue Gin Handels GmbH, Österreich, 43%.
Hans Reisetbauers Gin-Kreation, bei aller Vermeidung patriotischen Stolzes dennoch eines der allerbesten Produkte seiner Art. Extrem komplex dank eines enormen Aufgebotes von 27 Gewürzen, Kräutern und Aromen, und vor allem: frisch verarbeitet und mazeriert. Überaus definiertes Wacholderaroma, appetitanregende Kräuternoten. Ein Gin, der jeden klassischen oder kreativen Cocktail adelt und durchaus auch pur getrunken werden kann.
0,7 l, € 32,- bei Vinothek St. Stephan.