Wann ist ein Single Malt reif?

Es trifft auch die Beliebtesten. Mehr und mehr verschwanden heuer populäre schottische Whiskys aus den Regalen. Zumindest solche, die die vertrauten Altersangaben – 12 years, 18 years etc. – trugen. Stattdessen kommen Malts mit Phantasienamen in den Handel, die Whisky-Liebhabern den Schaum vor den Mund treiben. Schuld ist ausgerechnet der Erfolg des schottischen Lebenswassers.

Text von Roland Graf

Konditionierung, das wissen Psychologen seit Pawlow, funktioniert durch die Wiederholung von Reizen. Das gilt natürlich auch für die Konsumwelt. Will ich den unreflektierten Kaufakt, muss ich den Kunden erziehen. So trivial, so logisch – und so erklärt sich auch eine langjährige Praxis in Sachen Malt-Whisky. Seit 1963 Glenfiddich begonnen hatte, den bisher weitgehend auf Schottland beschränkten Single Malt international zu vermarkten, löste ein „25 years“ am Etikett mehr Speichelfluss bei Whisky-Trinkern aus als ein schnödes „8 years“. Denn die schottischen Altersangaben sind im Gegensatz zu anderen Nomenklaturen (etwa bei Rum) Mindestangaben. Übersetzt bedeuten sie: Kein Bestandteil in der Flasche darf jünger sein als die aufgedruckte Jahresanzahl. Das Mindestalter – und hier hat sich der schottische Standard praktisch europaweit durchgesetzt – beträgt per Gesetz drei Jahre und einen Tag.

Doch das rund 50 Jahre währende Senioritätsprinzip ist in Auflösung begriffen. Denn ein Gespenst geht um in den sozialen Netzwerken der Single Malt-Trinker. Es trägt den Namen „No Age Statement“ und bezeichnet die Tendenz, auf Altersangaben gänzlich zu verzichten. Die Abkürzung NAS lesen Malt-Heads gerne als „nasty“, also „eklig“. Für die Pawlow’schen Trinker ist die Welt nur schwarz oder weiß: Im Fass zur Vollendung gereifte Whiskys haben mindestens 12 Jahre alt zu sein, um sie ernst zu nehmen. Wie soll man eine Flasche namens „Tailfire“ oder „Little Bay“ schließlich im jahrelang vor dem Kamin einstudierten Altersraster unterbringen? Die Frage dürfte die Freunde des schottischen Lebenswassers (das bedeutet das gälische „uisge beatha“ übersetzt) noch länger beschäftigen. Denn NAS scheint
gekommen um zu bleiben.

Opfer des eigenen Erfolgs
Schuld am Bildersturm gegen die Altersangabe hat der unglaubliche Erfolg, den vor allem die Nachfrage in Asien und den USA dem Single Malt beschert hat. Was angesichts des Referendums über die schottische Unabhängigkeit kurz auch abstinenten Zeitgenossen offenbar wurde – die milliarden-schwere Whiskyindustrie wäre mit dem Nordseeöl das zweite wirtschaftliche Standbein eines unabhängigen Schottland geworden. Charles Mc Lean rechnet in der aktuellen Ausgabe seiner „Whiskypedia“ vor, dass allein in den letzten fünf Jahren der Verkauf schottischen Whiskys um 35% gestiegen sei. Die Statistik umfasst zwar auch Blended Scotch, also Whisky-Verschnitte, die nicht nur aus einer Destillerie und ausschließlich Gersten-Brand stammen. Der „größte Boom in der Geschichte der Industrie“, wie es der renommierte Autor nennt, verdankt sich aber vornehmlich dem teureren Single Malt – der Erlös stieg in dieser Halbdekade nämlich um 72% an.

Die Zahlen liegen zwar vor, doch kaum eine der international aktiven Destillerien zwischen Islay und der Speyside gibt den Engpass an altem Whisky in ihren Fasskellern öffentlich zu. „Dabei ist es einfache Mathematik“, wie der Szene-Kenner Dave Broom („Whisky Atlas“) lapidar die Situation beschreibt. Um heute die gestiegene Nachfrage nach zwölfjährigem Single Malt zu bedienen, hätte der Ausstoß 2003 bereits erhöht werden müssen. In der schmalen Gilde der Master of Malts, der Herren über den Lagerbestand, herrscht aber eine Kontinuität, die sich AMS und Sozialminister nur wünschen könnten. 40 Jahre bei derselben Destillerie sind in dieser Branche keine Seltenheit – und Mittsiebziger lassen sich ungern fragen, warum sie diese Entwicklung schlicht verschlafen haben. Zumal jetzt auch wenig daran zu ändern ist.

Jahresringe als Fetisch
Fairerweise muss man sagen, dass die ergrauten Herren dazu sogar ein Argument ins Treffen zu führen haben. Denn nicht alle Märkte sehen die Altersangabe gleichermaßen als Fetisch an. Der deutschsprachige Raum allerdings tut dies sehr wohl. Dabei ergab sich die scheinbar in Stein gemeißelte Alterspyramide aus dem Verkaufsboom der 1970er Jahre, wie Nick Morgan, der die Whisky-Sparte beim Weltmarktführer Diageo verantwortet, offen zugibt: „Damals war es das Leichteste, mit der Altersangabe einen besseren Preis zu erzielen“. Die Mär von der Altersüberlegenheit nahm ihren Lauf. Sie ist aber technisch längst überholt, zeigt sich „Whisky-Atlas“-Autor Dave Broom überzeugt. „Das Zauberwort lautet nämlich nicht Alter, sondern Reife“, präzisiert die Instanz aus Glasgow.

Durch das Fass-Management früherer Jahre wurden die vorhandenen Barrels immer und immer wieder befüllt. Erst nach zehn bis zwölf Jahren Lagerdauer wurde so das Reifeplateau, die optimale Aromen-Konzentration also, erreicht. Heute beziehen die (mit immer weniger Ausnahmen) zu internationalen Konzernen gehörenden schottischen Destillerien die Bourbon-Fässer von den amerikanischen Schwester-firmen oder lassen sie in Jerez extra mit billigerem Sherry vorbelegen. Zudem weiß man auch weit mehr über die Biochemie hinter dem Zusammenspiel von Brand und Fass. Doch „einen achtjährigen Whisky als Ersatz für den zwölfjährigen Malt kannst Du halt nicht bringen“, akzentuiert Broom das Dilemma mit der Nomenklatur. Colin Scott, der Master Blender von „Chivas Regal“, gießt überhaupt noch ein Gläschen Whisky ins Feuer der NAS-Debatte: „In Blindverkostungen bevorzugten über 50% der Kunden das jüngste Produkt“.

„Alterslose“ Erfolgsmodelle
Entsprechend radikal räumen die Whisky-Weltkonzerne daher im Regal auf: Sechs der zehn weltweit populärsten Malt-Destillerien haben im letzten Jahr Abfüllungen ohne Altersangabe präsentiert. „Glenlivet 12 years“, einer der meistverkauften Whiskys der Welt, wurde durch die „Founder’s Reserve“ ersetzt, aber auch Macallan, Aberlour oder Laphroaig legten NAS-Varianten vor. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sich auch ohne Altersangabe durchaus Geld verdienen lässt. „Ardbeg“, eine nahezu kultisch verehrte Destillerie auf der Insel Islay, legt seit Jahren alterslose Abfüllungen vor. Auch der „Tun 1509“ aus der Produktion von „The Balvenie“ in der Whisky-Hauptstadt Dufftown trägt keine Altersangabe, kostet aber 300 Euro pro Flasche (so man sie denn bekommt). 42 Fässer davon gibt es und diese geringe Menge stellt ihrerseits schon ein Vielfaches des Vorgängers „Tun 1401“ dar. Auch wenn sie ohne Zahl am Etikett auskam, steckten in ihr auch 40-jährige Malts, wie der Kanadier Sam Simmons erzählt. Der Whisky-Blogger und Marken-Botschafter spricht als einer der wenigen Klartext: „Dass wir in den letzten Jahren überhaupt großartige, gereifte Whiskies hatten, lag daran, dass vor 20 Jahren alle Wodka tranken“.

Malt-Trinken abseits des Kamins
„Wahrscheinlich sollte man die eingefahrene Meinung „älter ist gleich besser“ langsam ad acta legen“, sagt auch einer, dessen Arbeitsplatz auch als Whisky-Galerie durchginge. Tom Sipos, der heute im „Barfly’s“ am Rührglas steht, also jener vom verstorbenen Mario Castillo begründeten legendären Bar in der Esterházygasse, bevorzugt – „wenn es um Single Malt für Cocktails geht“ – sogar Whisky ohne Altersangabe. Das „Barfly’s“ feiert dieser Tage sein 25-Jahre-Bestehen und auch Sipos blickt weiter zurück, wenn es um die aktuelle Debatte geht: „Erst als sich wegen des schleppenden Absatzes in den 1980er Jahren die Lagerhäuser füllten, begann das Zeitalter der Jahreszahlen“. Die jüngeren Whiskys, die aktuell auf den Markt kämen, brächten im Drink „manchmal etwas mehr Geschmacksnoten und Variation hervor“. Als Beispiel nennt er seinen Martini mit Glenmorangie-Single Malt (siehe „Rezepte“).

Warum nicht ganz ohne Fass?
Bei so viel Aufregung um die Altersfreigabe gibt es zwangsläufig auch Gegenpositionen zum Fetisch Lagerzeit. Der Wiener Bartender Reinhard Pohorec versachlicht die Debatte aus Profi-Sicht, „oberste Prämisse muss doch sein, was in der Flasche ist“. Insofern arbeitet er aktuell auch bewusst mit einem gänzlich ungereiften Whisky, den sonst allenfalls echte Malt-Nerds verkosten. Der so genannte „White Dog“ oder „New Make“ bringt für den Bartender und Consultant (www.spirits-journey.com) eine „getreidige, sämig-üppige Signatur“ mit. Damit lässt sich etwa an die alte Prä-Cocktail-Mischung „Bittered Sling“ anknüpfen, die in den Pioniertagen der USA getrunken wurde. Spirituosen, damals vor allem Gin, wurden mit Wasser, Zucker sowie Muskatnuss „als höchster Ausdruck von Elaboriertheit in diesen Tagen“ (Pohorec) kombiniert.

Pohorec verweist auch auf eine spannende Variante des „Boulevardier“, des mit Whisky statt Gin gemixten „Negroni“. Auch dafür nimmt er einen New Make, der dann mit der gleichen Menge rotem Wermut und der halben Menge Gran Classico Bitter ins Fass kommt. Also erst wieder Reifung im Holz? Nicht ganz, „hier gelangt nicht das frische Destillat, sondern alle Komponenten in der Melange miteinander zur Reife“. Entsprechend serviert der in der „Tür 7“ in der Josefstadt praktizierende Bartender seinen „On the Boulevard“ auch komplett ohne Eis – „ich will auf Zimmertemperatur alle Nuancen entdecken dürfen“. Lediglich eines in der aktuellen Whisky-Debatte lehnt der Wiener ab: „Wenn sie junges Zeug nehmen, mit einem lustigen gälischen Namen versehen und 200 Euro dafür verlangen“.

Spirits Journey, Wien
White Sling
5 cl White Dog/New Make
1 cl Zuckersirup
2 cl Wasser
Glas: Double Old Fashioned
Garnitur: Geriebene Muskatnuss und etwas Tonkabohne
Alle Zutaten auf einem großen Eisblock im Rührglas vermengen und ins Gästeglas gießen.

Martini Real
4,5 cl Pontica Red Vermouth
2,5 cl White Dog
1 Spritzer (dash) Orange Bitters
Glas: Coupette
Garnitur: Olive und Kirsche
Der trockene rote Wermut aus Carnuntum stellt einen Brückenschlag dar, der dem rassigen „White Dog“ mit über 50% Alkohol markant Paroli bietet.
Alle Zutaten werden über Eis gerührt und ins vorgekühlte Gästeglas abgeseiht.

Tom Sipos, Barfly’s, Wien
Single Malt-Martini
6 cl Glenmorangie Companta
1,5 cl Cocchi Americano
2 Spritzer (dashes) Bokers Bitters
Glas: Martini
Garnitur: keine
Alle Zutaten im Rührglas auf Eis verrühren und in ein (kleines) Martini-Glas abseihen.

Smokey Sazerac
6 cl Ardbeg Uigeadail
2 Bar-Löffel weißer Puderzucker
3 Spritzer (dashes) Peychaud Bitters
Glas: Martini
Garnitur: keine
Alle Zutaten zunächst ohne Eis verrühren, damit sich der Zucker auflöst, danach ein Rührglas mit Eis befüllen und den Drink darin kalt rühren. Ins Martini-Glas abseihen.