Wer hat Angst vorm grünen Tee?

Mitte Juni trifft stets die neue Ernte von japanischem Tee in Europa ein. Fukushima brachte heuer aber alles durcheinander. Panikkäufe von besorgten Teeliebhabern, vergriffene Sorten und Unsicherheit bei Händlern und Kunden waren die Folge. Wie steht es um Sencha und Co?

Wer hat Angst vorm grünen Tee?

Text von Anna Burghardt Fotos: Corbis

„Ich würde mir mehr Sorgen um spanische Paprika machen“, sagt Thomas M. Grömer von Aiya. Freilich: Der gebürtige Wiener, der seit vielen Jahren in Hamburg lebt, muss das sagen. Schließlich ist er Geschäftsführer des nach eigenen Aussagen europaweit größten Importeurs von japanischem Tee. Dieser wurde in letzter Zeit ordentlich gebeutelt: durch den Tsunami und den daraus resultierenden Reaktorunfall in Fukushima. Dafür hat Grüntee aus Japan vielleicht so treue Fans wie kein anderes Lebensmittel – und vor allem reaktionsstarke Blitzgneißer.
Eine erste Recherche bald nach dem Unfall in Fukushima zeichnete nämlich ein bemerkenswertes Sittenbild der Teeliebhaberszene: Gleich am Tag nach dem Tsunami in Fukushima, also am Samstag, dem 12. März 2011, suchten diese persönlich oder im Internet ihre Stamm-Teehändler auf, um sich in Mengen mit japanischem Grüntee der Ernte 2010 einzudecken. Schließlich war nicht klar, wie es um die Zukunft von Sencha, Gyokuro und anderen Sorten bestellt war, ob es in den nächsten Jahren unbedenklichen Tee aus Japan geben oder ob die Ernte von 2011 verstrahlt und unbrauchbar sein würde. Vielleicht hoffte auch der eine oder andere, auf eBay oder über andere Wege gute Geschäfte mit dem durch die Katastrophe limitierten Luxusprodukt zu machen. Auf Onlineforen fanden sich Konversationen wie diese vom 14. März.: „Sollten wir jetzt alle japanischen Tee horten, weil es der letzte nicht radioaktiv verseuchte Tee sein wird für über 100 Jahre???“ „Ja, auf jeden Fall. Die einzig logische Entscheidung in so einem Moment.“ Ein Dritter: „Geschmackloser geht’s wohl nicht mehr.“
„Die Kunden kauften bis zu zwei Kilo von einer Sorte, auch von den teuersten Tees“, berichtete Karl Heissenberger, der unter anderem am noblen Kohlmarkt ein Geschäft führt. Wenige Tage nach dem Unglück war die Hälfte seiner japanischen Vorräte weg. Wenn es so weitergehe mit den Panikkäufen, sei im Mai womöglich in ganz Europa kein
japanischer Grüntee mehr erhältlich, mutmaßte Heissenberger damals gar (was sich allerdings nicht bewahrheiten sollte). Andere Händler machten ähnliche Erfahrungen in den Tagen nach dem Tsunami und dem darauf folgenden Reaktorunfall. Bei Schönbichler in Wien, wo man mit Gschwendner aus Deutschland kooperiert, stiegen die Verkaufszahlen bei Grüntees aus Japan um das Achtfache, bei Haas & Haas waren nach einer Woche alle japanischen Tees im Geschäft am Stephansplatz ausverkauft, per Telefon und Internet meldeten sich zusätzlich leicht panische Grünteetrinker und deckten sich mit der unversehrten 2010er-Ernte ein. Einkäufe um einige hundert Euro seien in diesen Tagen normal gewesen, erinnert sich Eva Haas. Auch die Demmer-Filialen in Polen, Ungarn und Finnland wurden vor Ostern häufiger aufgesucht als sonst. „Nur in unserem Geschäft in Tokio war es ruhig, aber dort verkaufen wir ja auch keine japanischen Sorten“, sagt Georg Demmer. „Die Vieltrinker haben den Tee sofort kiloweise aus den Geschäften getragen – und sie haben sehr viele Fragen gestellt“, berichtet auch Tea-Taster Lars Völsch von Ronnefeldt. Fragen, von denen man freilich nicht alle beantworten konnte. Glücklich über die ungewöhnlichen Verkaufszahlen waren die Händler in diesen Tagen gar nicht so sehr, vor allem nicht, weil sie in einigen Fällen tatsächlich dazu führten, dass es von gewissen Sorten gar nichts mehr gab. Schließlich ist es kein Renommee für ein Fachgeschäft, wenn Kunden nach einem bestimmten Tee fragen und hören müssen: „Nein, leider, haben wir nicht.“
Nicht nur die Kunden reagierten schnell, auch die Teehändler selbst dachten naturgemäß nach dem Tsunami vorerst nur an eines: Nachschub bei den Importeuren wie Aiya zu besorgen, solange es noch sicher in Europa gelagerte Tees von 2010 gibt. „Natürlich ist diese Katastrophe entsetzlich, aber es ist eben unser Geschäft, und es nützt ja auch nichts, wenn wir der japanischen Wirtschaft durch Kauf-Enthaltsamkeit noch mehr schaden“, so lautete der Tenor. Bis Jahresende komme man nun auf jeden Fall aus, versichern alle Firmen. Gleichzeitig dachten die Teehändler aber daran, nicht pietätlos zu erscheinen: Auf den Homepages drückten Banner tiefstes Mitgefühl dem japanischen Volk und vor allem den Angehörigen der Tsunamiopfer gegenüber aus; die Firmen versicherten, dass sie in Gedanken bei ihren Geschäftspartnern in Japan seien, riefen zu Spenden auf. In den Geschäften versuchte man mit Aufstellern und Plakaten zu beruhigen: Sämtliche japanischen Tees, die man derzeit kaufen könne, seien unbedenklich. Sie stammten von 2010, seien vor dem Atomunfall geerntet und schon lange sicher in Europa gelagert. Landkarten von Japan sollten die großen Entfernungen zwischen der betroffenen Präfektur Fukushima und den wichtigsten Teeanbaugebieten, etwa Kagoshima ganz im Süden, zeigen und somit zusätzlich zur Kalmierung beitragen – bei denjenigen, die mit dem Gedanken spielen, dieses Jahr frischen Tee aus Japan zu kaufen.
Aber nicht alle Händler waren auf Aufmerksamkeit aus: Eine heimische Grünteespezialistin mit engen Verbindungen nach Japan, die anonym bleiben möchte, fand im März allein das telefonische Interesse am Thema Grüntee nach Fukushima schrecklich: „Warum wollen Sie mit mir darüber reden? Ich kann und will dazu eigentlich nichts sagen.“ Sie schaffe es psychisch derzeit nicht einmal, in Ruhe über das Thema nachzudenken, so mitgenommen sei sie. Und bei ihren Lieferanten traue sie sich schon gar nicht anzufragen, „ich bin sicher nicht so pietätlos und frage dort nach Tee, während das Land kaputt ist.“ Es sei einfach nur geschmacklos von Konsumenten, sich jetzt um Teenachschub zu sorgen, während man in Japan fundamentale Probleme habe. Und es sei für sie genauso unverständlich, dass sich eine Journalistin des Problems annimmt.
Für die Medien war es zu keinem Zeitpunkt leicht, das Thema Fuku-shima zu bearbeiten. Selbst überprüfen konnte man von hier aus rein
gar nichts, man musste sich in Fragen zur Verstrahltheit an das halten, was die japanische Regierung verlautbaren ließ. Und nebenbei gab es viel Schelte von Experten, weil mit Begriffen wie Halbwertszeit schleißig umgegangen wurde. Auch in Sachen Teeernte 2011 muss man sich daher auf das verlassen, was Importeure und Händler, die direkte Kontakte zu Japan haben, sagen. Und vor allem darauf
setzen, dass streng kontrolliert wird und die Zertifikate stimmen. Zum derzeitigen Zeitpunkt – und gesetzt den Fall, es passiert nicht noch etwas mit dem Kraftwerk in Fukushima –, stehen die Zeichen offiziellen Informationen zufolge gut, dass die 2011er-Ernte nicht verstrahlt ist. Einerseits, weil die Teeanbaugebiete weit genug weg liegen, und andererseits, weil der Wind in der heiklen Zeit günstig war. Natalia Panne, Raritätenjägerin von Tea exklusive, telefonierte in den Wochen nach dem Unfall öfters mit „ihren“ Bauern im Süden Japans, „die machten sich überhaupt keine Sorgen, waren ja auch vom Tsunami und vom Chaos nicht betroffen“. Thomas M. Grömer von Importeur Aiya meint, „japanischer Tee war noch nie so sicher wie jetzt“, und auch die Fachhändler versichern um die Wette, dass die Ernte nach Fukushima nur dann in die Geschäfte kommt, wenn sie mehrfach auf radioaktive Verstrahlung hin geprüft und für unbedenklich befunden wird. Dass mit einer neuen EU-Verordnung die Grenzwerte für Lebensmittel aus Japan
erhöht wurden, trug freilich nicht wirklich dazu bei, die Konsumenten zu beruhigen. Teetrinkern bleibt, was die neue Ernte betrifft, nur das Vertrauen in die Tests auf radioaktive Belastung bei der Einfuhr und auf die zusätzlichen Kontrollen der Teehändler selbst, wie sie wohl alle veranlassen werden, die Mutter aller Teehäuser, Mariage Frères in Paris, genauso wie kleinere Anbieter.
Im schlimmsten Fall, falls also diese Ernte und auch die der kommenden Jahre doch übermäßig verstrahlt sein sollten, könne man bis zu einem bestimmten Grad auf andere Grünteeländer ausweichen, sagen die Teeexperten unisono. Karl Heissenberger etwa meint, er habe sich ohnehin immer schon mehr auf China als Ursprungsland konzentriert, „von dort kann ich 200 verschiedene Tees haben, aus Japan nur 15 Qualitäten“. Und günstiger seien die chinesischen Tees auch, bei gleicher Qualität – für den Durchschnitts-trinker, wohlgemerkt. Denn Liebhaber von japanischem Tee werden sich damit nicht zufriedengeben. Dieser wird generell aufwendiger produziert als anderer, die Industrienation zeigt bei ihrem Aushängeprodukt, was sie draufhat. Vieles wird elektronisch gesteuert, etwa die Null-Fermentation. Einige japanische Techniken wie das Beschatten, um den Chlorophyllanteil zu steigern und den Tee grasgrün zu halten, kann man gewiss kopieren, in anderen Aspekten ist die Qualität nicht so leicht zu erreichen. Besonders deutlich ist der Unterschied zu anderen Herkunftsländern bei Matcha, dem mittlerweile sehr beliebten Grünteepulver. Hui-Wen Yeh, Teesommelière bei Schönbichler, erklärt, warum: „Ein Matcha aus japanischer Produktion wird aus einem Tencha hergestellt, einem Grüntee, der dem höchstmöglichen
Gyokuro-Niveau entspricht.“ In Japan kämen außerdem Hightech-Mühlen zum Einsatz, und es werde nur das „Fleisch“ verwendet, nicht auch die Rippen, wie anderswo. „Dass Matcha wörtlich übersetzt gemahlener Tee heißt, nehmen manche Chinesen, wie auch meine Mutter, wörtlich. So wird oft ein einfacher Tee, der im Mörser vermahlen wird, schon als Matcha bezeichnet.“
Man kann freilich der Krise des japanischen Tees auch positive Aspekte abgewinnen. Georg Demmer etwa sieht die Situation als Herausforderung, seinen Teehorizont zu erweitern. „Es gibt in China so viele Grüntees, von denen wir noch gar nichts gehört haben. Außerdem wird bereits Tee nach japanischer Methode in anderen Ländern produziert, wie Korea oder sogar Australien. Es gibt also Alternativen für den schlimmstmöglichen Fall.“
Die Menge der Tees, von denen hier nun die Rede war, ist übrigens vergleichsweise winzig: Japan trinkt nämlich 99 Prozent seines grünen Tees selbst.